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Full text of "Die Philosophie des Als Ob : System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus : mit einem Anhang über Kant und Nietzsche"

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DIE 

PHILOSOPHIE  DES  ALS  OB 

System  der  theoretischen, 
praktischen  und  religiösen  Fiktionen  der 
Menschheit  auf  Grund  eines  idealistischen 
Positivismus 

Mit  einem  Anhang  über  Kant  und  Nietzsche 

von 

HANS  VAIHINGER^^ 


Herausgegeben  von 


DH-  RAYMUND  SCHMIDT 


VOLKSAUSGABE 


Zweite  Auflage 
3.-7.  Tausend 


19  2 4 


VERLAG  VON  FELIX  MEINER  / LEIPZIG 


Ich  hin  überzeugt,  daß  der  hier  hercor- 
gehohene  Punkt  einmal  ein  Eckstein  der  philo- 
sophischen Erkenntnistheorie  werden  wird. 

F.  A.  LANGE 


BOSTON  COLLEGE  LIBRARY 
CHESTNUT  KILL.  MASS. 

273840 


Made  in  Germany 

Alle  Rechte,  insbesondere  das  Ubersetzungsrecht 
vom  Verlage  Vorbehalten 


VORWORT 

DES  HERAUSGEBERS 


Vaihingers  „Philosophie  des  Als  Ob“  entstaüd  in  den 
Jahren  1876—78.  Über  die  Gründe,  welche  den  Verfasser  ver- 
anlaßten,  das  Werk  erst  im  Jahre  1911  erscheinen  zu  lassen, 
berichtet  er  selbst  Ausführliches  im  Vorwort  zur  großen  Aus- 
gabe und  in  seiner  Selbstbiographie  (enthalten  in  „Die  Philo- 
sophie der  Gegenwart  in  Selbstdarstellungen“,  Band  II, 
Leipzig,  Felix  Meiner  1923).  Auch  über  die  schicksalsvolle 
Entstehungsgeschichte  des  Werkes  ist  dort  nachzulesen. 

Die  Probleme,  mit  denen  Vaihingers  berühmtes  Werk  sich 
auseinandersetzt,  so  fruchtbar  seine  Lösungen  sich  in  allen 
Spezial  wissen  schäften  erwiesen  haben,  sind  keine  bloße  An- 
gelegenheit der  Fachwissenschaften.  Es  sind  Menschheits- 
probleme von  allgemeiner  Bedeutung.  Das  Buch  wurde  für 
alle  denkenden  Menschen  geschrieben,  es  rührt  mit  Frische 
und  radikalem  Wagemut  an  die  höchsten  und  wichtigsten 
Fragen  des  menschlichen  Denkens,  Glaubens  und  Erkennens, 
und  sein  Inhalt  appelliert  an  jedermann,  sofern  er  nur  in  der 
Welt,  im  Leben,  in  Religion,  in  Sittlichkeit,  in  Ästhetik  über- 
haupt Probleme  sieht,  sofern  er  nur  die  Abgründe  zu  sehen 
nicht  zu  stumpf  ist,  zu  denen  alles  Denken  führt. 

Das  unverkürzte  Original  enthält  nun  eine  Anzahl  von 
Partien,  die  zwar  für  den  Spezialforschet  die  Tragweite  des 


IV 


Vorwort  des  Herausgebers 


(iedankens  in  das  glänzendste  Licht  rücken,  für  den  Laien 
aber  mehr  oder  weniger  bedeutungslos  sind,  die  die  Lektüre 
und  das  klare  Verständnis  deshalb  hemmen,  weil  sie  die  große 
Linienführung,  gewissermaßen  als  fachwissenschaftliches 
und  historisches  Beiwerk,  unterbrechen. 

Die  hier  vorliegende  Ausgabe  hat  diese  Partien  ausgeschal- 
tet, hat  den  Text,  der  schon  an  sich  packend  und  leichtver- 
ständlich ist,  vereinfacht,  damit  die  großen  Linien  schärfer 
heraustreten.  So  ist  das  Werk  einem  größeren  Leser- 
kreis stofflich  und  ökonomisch  zugänglicher  geworden.  Der 
Aufbau  ist  unverändert  geblieben.  Es  fehlen  in  dieser  Aus- 
gabe nur  eine  Anzahl  historisch-hteraiischer  Ergänzungen, 
Einschaltungen,  Fußnoten,  dazu  eine  Reihe  von  Kapiteln 
und  Kapitelteilen,  die  sich  mit  ferner  liegenden  fachwissen- 
schaftlichen  Details  beschäftigen.  Und  zwar  hat  sich  der 
Herausgeber  im  großen  und  ganzen  au  die  Anweisungen 
gehalten,  die  der  Verfasser  selbst  für  eine  schon  seit  längerer 
Zeit  geplante  populäre  Kürzung  vorbereitet  hatte. 

Leipzig,  25  September  1922 

Dr.  Raymund  Schmidt 


VORWORT 

ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE 


Ein  ausgiebiges  Vorwort  zur  neuen  Auflage  dieses 
Werkes,  das  seinen  Weg  geht,  ohne  der  Stützen  zu  be- 
dürfen, erübrigt  sich.  Einigen  wenigen  Kritikern,  die 
dem  Herausgeber  einen  Vorwurf  daraus  machen  zu 
müssen  glaubten,  daß  er  bei  der  vorgenommenen  Kür- 
zung des  Originals  nicht  auch  einige  Schwächen  des 
Werkes  getilgt  habe,  sei  für  ihr  Interesse  gedankt,  im 
übrigen  aber  seien  sie  darauf  hingewiesen,  was  der  Ver- 
fasser selbst  über  sein  Werk  auf  der  Hallenser  Tagung 
im  Frühjahr  1922  sagte:  „Niemand  kennt  die  Schwä- 
chen seines  Werkes  besser  als  der  Verfasser. 
Dieser  Schwächen  sind  in  meinem  Werke  viele, 
auch  hat  sich  die  Problemstellung  im  Laufe  der 
Zeit  wesentlich  verschoben.  W^ollte  ich  mein 
Werk,  das  vor  über  40  Jahren  konzipiert  wurde, 
auf  die  Höhe  der  Gegenwart  bringen,  so  müßte 
ich  es  von  Grund  auf  neu  schreiben,  sodaß  kein 
Stein  auf  dem  andern  bliebe.  Ich  hoffe  aber 
doch,  und  ich  sehe  meine  Hoffnung  in  weitem 
Ausmaße  bereits  erfüllt,  daß  trotz  aller  Schwä- 
chen und  Fehler,  die  in  selbständigem  Nach- 
denken zu  überwinden  ich  der  jüngeren  Gene- 


VI 


Vorwort  zur  zweiten  Auflage 


ration  überlassen  muß,  von  meinem  Werke  wirk- 
same Denkanstöße  und  Anregungen  ausgehen 
werden.“ 

In  diesem  Sinne  sei  auch  diese  Neuauflage  unver- 
ändert als  eine  Anregung  zu  selbständigem  Denken  der 
Öffentlichkeit  übergeben. 

Leipzig,  Frühjahr  1924 

Dr.  Raymund  Schmidt 


VIl 

Inhalt 

Seite 

Vorwort  des  Herausgebers III 

Allgemeine  Einleitung 1 — 13 

Kap.  1.  Das  Denken  betrachtet  unter  dem  Gesichtspunkt 

einer  zwecktätig  wirkenden  organischen  Funktion  . . . 1 — 8 

Kap.  II.  Das  Denken  als  eine  Kunst,  die  Logik  als  eine 

Kunstlehre 8 — 9 

Kap.  III.  Unterschied  der  Kunstregeln  von  den  Kunstgriffen 

des  Denkens 9 — 12 

Kap.  IV.  Übergang  zu  den  Fiktionen 12 — 13 

Erster  Teil 

Prinzipielle  Grundlegung 14 — 180 

Allgemeine  Vorbemerkung  über  die  fiktiven  Vorstellungs- 
gebilde   . . 14 — 15 

A.  Aufzählung  und  Einteilung  der  wissenschaftlichen  Fik- 
tionen   , . 16 — 79 

Kap.  I.  Die  künstliche  Klassifikation 16 — 18 

Kap.  II.  Abstraktive  tneglektive)  Fiktionen 18 — 24 

Kap.  III.  Schematische,  paradigmatische,  utopische  und  tj^- 

pische  Fiktionen 24 — 27 

Kap.  IV.  Symbolische  (analogische)  Fiktionen 27 — 32 

Kap.  V.  Juristische  Fiktionen 32 — 35 

Kap.  VI.  Personifikative  Fiktionen 35 — 37 

Kap.  VII.  Summatorische  Fiktionen  (die  Allgemeinbegriffe)  38 

Kap.  VIII.  Heuristische  Fiktionen 38—42 

Kap.  IX.  Praktische  (ethische)  Fiktionen 42 — 51 

Kap.  X.  Fiktive  Grundbegriffe  der  Mathemathik  ....  52 — 55 

Kap.  XI.  Die  Methode  der  abstrakten  Verallgemeinerung  . 56 — 58 

Kap.  XII.  Die  Methode  der  unberechtigten  Übertragung  . . 58 — 62 

Kap.  XIII.  Der  Begriff  des  Unendlichen 62 — 64 

Kap.  XIV.  Die  Materie  und  die  sinnliche  Vorstellungswelt  . 65 — 71 

Kap.  XV.  Das  Atom  als  Fiktion 71 — 73 

Kap.  XVI.  Fiktionen  der  Mechanik  und  der  mathematischen 

Physik . 73—75 

Kap.  XVII.  Das  Ding  an  sich 75—77 

Kap.  XVIII.  Das  Absolute 78—79 

B.  Logische  Theorie  der  wissenschaftlichen  Fiktionen  . . 79 — 155 
Kap.  XIX.  Einleitende  Vorbemerkungen  über  die  Stellung 

der  Fiktionen  und  Semifiktionen  im  Ganzen  des  logischen 

Systems 79 — 82 

Kap.  XX.  Abgrenzung  der  wissenschaftlichen  Fiktion  von 

anderen  Fiktionen,  besonders  der  ästhetischen  . . . 83 — 86 

Kap.  XXL  Der  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese  86 — 93 
Kap.  XXII.  Die  sprachliche  Form  der  Fiktion:  Analyse  des 

ri  1 o c\A  i r\r\ 


Kap.  XXIII.  Sammlung  anderer  Ausdrücke  für  „Fiktion“  100 — 102 

Kap.  XXIV.  Die  Hauptmerkmale  der  Fiktionen 102 — 105 

Kap.  XXV.  Versuch  einer  allgemeinen  Theorie  der  fiktiven 

Vorstellungsgebilde 105 — 115 


VTII 


Inhalt 


Seite 


Kap.  XXVI.  Die  Methode  der  Korrektur  willkürlich  gemach- 
ter Differenzen,  Methode  der  entgegengesetzten  Fehler  115 — 134 


Kap.  XXVII.  Das  Gesetz  der  Ideenverschiebung  ....  134—143 
Kap.  XXXIII.  Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueren 

Zeit : . . . 143—152 

Kap.  XXXIV.  Die  Theorie  der  Fiktion  in  der  Neuzeit  . . 152 — 155 

C.  Erkenntnistheoretische  Konsequenzen 155 — 180 

Kap.  XXXV.  Das  erkenntnistheoretische  Grundproblem  . . 155 — 158 

Kap.  XXXVI.  Die  Verfälschung  der  Wirklichkeit  durch  die 

logischen  Funktionen 158—163 

Kap.  XXXVII.  Die  Kategorien  als  Fiktionen 163—173 

Kap.  XXXVIII.  Die  Kategorien  als  analogische  Fiktionen  . 173 — 177 
Kap.  XXXIX.  Praktische  Zweckmäßigkeit  der  kategorialen 

Fiktionen  177 — 180 

Spezielle  Ausführungen 181 — 266 

Zweiter  Teil 

§ 1.  Die  künstliche  Einteilung  181 — 185 

§ 2.  Weitere  künstliche  Teilungen 185 — 186 

§ 3.  Adam  Smiths  nationalökonomische  Methode  ....  187 — 191 

§ 4.  Benthams  staatswissenschaftliche  Methode 191 — 192 

§ 5.  Abstraktiv-fiktive  Methoden  in  Physik  und  Psychik  . . 192 — 194 
§ 6.  Die  fingierte  Statue  Condillacs  und  ähnliches  ....  194 — 197 
§ 7.  Lotzes  „hypothetisches  Tier“  und  ähnliches  ....  197 — 199 

§ 10.  Die  Fiktion  der  Kraft 199 — 202 

§ 11.  Materie  und  Materialismus  als  Hilfsvorstellungsweisen  202 — 204 

§ 12.  Die  abstrakten  Begriffe  als  Fiktionen 204 — 210 

§ 13.  Die  Allgemeinbegriffe  als  Fiktionen 210—215 

§ 14.  Summatorische  Fiktionen,  Nominalfiktionen,  Substitu- 
tionen   216 — 219 

§ 15.  Natuikräfte  und  Naturgesetze  als  Fiktonen 219—221 

§ 18.  Die  Atomistik  als  Fiktion 221—227 

§ 19.  Fiktionen  der  mathematischen  Physik 227 — 232 

§ 20.  Die  Fiktion  des  reinen,  absoluten  Raumes 233 — 240 

§ 21.  Fläche,  Linie,  Punkt  usw.  als  Fiktionen 240 — 243 

§ 22.  Die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen 243 — 252 

§ 26.  Der  Sinn  der  Als-ob-Betrachtung 252 — 256 

§ 27.  Das  fiktive  Urteil 256—261 

§ 28.  Die  Fiktion  im  Gegensatz  zur  Hypothese 261 — 266 

Dritter  Teil 

Historische  Bestätigungen 267 — 364 

A.  Kants  Gebrauch  der  Als-ob  Betrachtung 267 — 320 

Grundlegendes  in  den  kritischen  Hauptschriften  . . . 267 — 288 

Prinzipielle  Ausführungen  in  den  ethisch-religionsphiloso- 
phischen Grundwerken 288—314 

Nachlese  aus  Kants  Briefen,  Vorlesungen  und  nachge- 
lassenen Papieren 314 — 320 

B.  Forberg,  der  Urheber  des  Fichteschen  Atheismusstreites, 

und  seine  Religion  des  Als-ob 320 — 330 

C.  Friedr.  Alb.  Lange  und  sein  „Standpunkt  des  Ideals“  330 — 345 

D.  Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußtgewollten  Schein 

(der  „Wille  zum  Schein“) 345—364 


Allgemeine  Einleitung. 

Kapitel  I. 

Das  Denken,  betrachtet  unter  dem  Gesichtspunkt 
einer  zwecktätig  wirkenden,  organischen  Funktion. 

Das  wissenschaftliche  Denken  ist  eine  FunJetion  der 
Psyche.  Unter  „Psyche“  verstehen  wir  zunächst  nicht 
eine  Substanz,  sondern  die  organische  Gesamtheit  aller 
sogenannten  „seelischen“  Aktionen  und  Reaktionen;  diese 
fallen  niemals  unter  die  äußere  Beobachtung,  sondern 
müssen  teils  aus  physischen  Merkmalen  erschlossen, 
teils  mit  dem  sogenannten  inneren  Sinne  beobachtet  wer- 
den. Die  psychischen  Aktionen  und  Reaktionen  sind,  wie 
alles  uns  bekannte  Geschehen,  notwendige  Vorgänge,  d.  h. 
sie  folgen  mit  zwingender  Regelmäßigkeit  aus  ihren  Be- 
dingungen und  Ursachen;  will  man  die  psychischen  Vor- 
gänge mit  einem  Gebiet  des  äußeren  Geschehens  ver- 
gleichen, so  eignen  sich  dazu  weniger  die  physikalischen 
und  im  engeren  Sinne  mechanischen  Vorgänge,  als  die 
Funktionen  des  Organismus.  Diese  Behauptung  findet 
ihre  Begründung  in  dem  Umstand,  daß,  wie  bei  den  orga- 
nischen Funktionen  der  leiblichen  Sphäre,  so  auch  bei 
den  psychischen  Funktionen  sogenannte  empirische 
Zweckmäßigkeit  beobachtet  wird.  Diese  Zweck- 
mäßigkeit äußert  sich  hier  wie  dort  in  einer  geschmei- 
digen Anpassung  an  die  Umstände  und  an  die  Um- 
gebung; in  einer,  die  Erhaltung  des  physischen  oder 
psychischen  Organismus  anstrebenden  und  erreichenden 
Reaktion  auf  äußere  Anstöße  und  Einwirkungen;  in  der 
Aneignung  und  Aufnahme  oder  Abstoßung  neuer  Ele- 
mente. In  der  Psyche  findet  nicht  bloß  ein  mechanisches 
Spiel  von  Vorstellungen  statt,  sondern  die  Vorstel- 
lung s b ev*^  e g ung  erfüllt  in  ihrer  stetigen  Ab- 

Vaihinger,  Philosophie.  1 


2 


Allgemeine  Einleitung. 


äiiderung  in  hohem  (irade  die  Anforderungen 
der  Zweckmäßigkeit.  Sämtliche  psychischen  Pro- 
zesse sind  in  dem  angegebenen  Sinne  zweckmäßig;  vor 
allem  aber  partizipieren  an  dieser  Zweckmäßigkeit  die 
sogenannten  theoretischen  Apperzeptionsprozesse.  Das 
wissenschaftliche  Denken  besteht  in  solchen  apperzeptiven 
Prozessen,  es  ist  daher  unter  dem  Gesichtspunkt  einer  or- 
ganischen Funlvtion  zu  beti’achten. 

Wir  vergleichen  also  die  logischen  oder  Denkprozesse 
mit  den  organischen  Bildungsvorgängen.  Die  Zweck- 
mäßigkeit, welche  wir  bei  dem  Wachstum,  bei  der  Fort- 
pflanzung und  Neubildung,  bei  der  Anpassung  an  die 
Umgebmig,  bei  der  Heilung  usw.  im  Gebiete  des  Organi- 
schen beol)achten,  kehrt  wieder  in  dem  der  psychischen 
Prozesse.  Auch  der  psychische  Organismus  reagiert  auf 
die  Reize  zweckmäßig.  Wie  der  physische  Organismus 
nicht  ein  bloßes  Gefäß  ist,  in  das  fremde  Stoffe  einfach 
eingefüllt  werden,  sondern  eine  mit  einer  chemischen 
Retorte  vergleichl3are  Maschine,  welche  die  fremden 
Stoffe  zu  ihrer  eigenen  Erhaltung  und  zur  Unter- 
haltung ihrer  Bewegung  höchst  zweckmäßig 
verarbeitet  und  durch  Intussuszeption,  nicht  durch 
bloße  Juxtaposition  sich  aneignet  — so  ist  auch 
das  Bewußtsein  nicht  mit  einem  bloß  passiven  Spiegel 
zu  vergleichen,  der  nach  rein  physikalischen  Gesetzen 
die  Strahlen  reflektiert,  sondern  das  Bewußtsein  nimmi 
keinen  äußeren  Reiz  auf,  ohne  ihn  nach  eigenem  Maße 
zu  gestalten.  Die  Psyche  ist  also  eine  organische 
Gestaltungskraft,  welche  das  Aufgenommene  selb- 
j ständig  zweckmäßig  verändert  und  ebensosehr  das 
Fremde  sich  anpaßt,  wie  sie  sich  selbst  dem  Neuen  anzu- 
passen vermag.  Die  Seele  ist  nicht  bloß  aufnehmend, 
sie  ist  auch  aneignend  und  verarbeitend.  Im  Verlaufe 
ihres  Wachstums  schafft  sie  vermöge  ihrer  adaptiven 
Konstitution  aus  ihrer  eigenen  Natur,  aber  nur  auf  äußere 
Reize  hin,  sich  selbst  ihre  Organe,  sie  den 
äußeren  Bedingungen  an  passend.  Solche  Or- 
gane, welche  die  Psyche  auf  äußere  Reize 
hin  sich  anbildet,  sind  z.  B.  die-  Formen  des 
Anschau ens  und  Denkens,  sind  gewisse  Be- 
griffe und  sonstige  logische  Gebilde.  Das 


Das  Denken  als  zwecktätig  wirkende,  organische  Funktion.  3 


logische  Denken,  mit  dem  wir  es  speziell  hier  zu  tun 
haben,  ist  ein  selbsttätiges  Aneignen  der  Außenwelt, 
es  ist  eine  organisch  zweckmäßige  Verarbeitung  des 
Empfindungsmateriais.  Das  logische  Denken  ist  also  eine 
organische  Funktion  der  Psyche. 

Wie  der  physische  Organismus  das  Auf  genommene 
zersetzt,  mit  eigenen  Säften  vermischt  und  so  zur  In- 
tussuszeption  geeignet  macht,  so  umspinnt  auch  die 
Psyche  das  Wahrgenommene  mit  ihren  aus  ihr  selbst 
heraus  entwickelten  Kategorien.  Sobald  ein  äußerer 
Reiz  die  Seele  berührt,  welche,  wie  mit  zarten  Fühl- 
fäden ausgestattet,  mit  Schnelligkeit  auf  denselben  ant- 
wortet, beginnen  innere  Prozesse,  beginnt  eine  psy- 
chische Arbeitsleistung,  deren  Resultat  die 
zweckmäßige  Aneignung  des  Wahrgenomme- 
nen ist. 

Wie  das  Auge  den  Zweck  hat,  die  verschieden  ab- 
gestuften Ätherbewegungen  in  ein  geordnetes  System 
fester  Empfindungen  zu  verwandeln,  und  durch  Brechung, 
Reflexion  usw.  von  Strahlen  verkleinerte  „Abbilder“  der 
objektiven  Welt  hervorzubringen,  und  wie  jenes  Organ 
zur  Erfüllung  dieses  Zweckes  passend  eingerichtet  ist 
und  selbständige  Akkommodationsbewegungen  und  Modi- 
fikationen je  nach  den  Verhältnissen  auszuführen  im- 
stande ist  — so  ist  die  logische  Funktion  eine  Tätigkeit, 
welche  ihren  Zweck  passend  erfüllt  und  zur 
Erfüllung  dieses  Zweckes  sich  den  Verhält- 
nissen und  den  Gegenständen  zu  akkommo- 
dieren,  zu  adaptieren  versteht.  Die  organische 
Funktion  des  Denlcens  hat  den  Zweck,  das  Empfindungs- 
material zu  solchen  Vorstellungen,  Vorstellungsverbin- 
dungen  und  Begriffsgebilden  umzuwandeln  und  zu  ver- 
arbeiten, welche  unter  sich  verträglich  und  übereinstim- 
mend, zugleich  — wie  man  gewöhnlich  zu  sagen  pflegt 
und  wie  auch  wir  zunächst  sagen  können  und  müssen  — 
„mit  dem  objektiven  Sein  sich  decken“.  Da  wir  aber  das 
objektive  Sein  — auch  dies  ist  ein  aus  der  gewöhn- 
lichen wissenschaftlichen  Ansicht  hergenommener  Lohn- 
satz — absolut  nicht  selbst  erkennen,  sondern  nur  er- 
schließen, so  müssen  wir  das  Gesagte  daliin  umformen, 
daß  die  Funktion  des  Denkens  dann  ihren  Zweck  er- 


4 


Allgemeine  Einleitung. 


füllt  habe,  wenn  sie  die  gegebenen  Empfindungsverbände 
zu  gültigen  Begriffen,  zu  allgemeinen  Urteilen,  zu  zwin- 
genden Schlüssen  verarbeitend,  ein  solches  Weltbild 
produziert  habe,  daß  nach  diesem  das  objektive  Ge- 
schehen berechnet  und  unser  handelndes  Eingreifen  in 
den  Gang  der  Geschehnisse  erfolgreich  ausgeführt  wer- 
den könne.  Wir  legen  dabei  den  Hauptton  auf  die 
praktische  Bestätigung,  auf  die  experimentelle  Er- 
probung der  Brauchbarkeit  der  logischen  Gebilde,  dieser 
Produkte  der  organischen  Denkfunktion.  Nicht  die  Über- 
einstimmung mit  einem  angenommenen  „objektiven  Sein“, 
das  uns  doch  niemals  umnittelbar  zugänglich  sein  soll, 
also  nicht  die  theoretische  Abbildung  einer 
Außenwelt  im  Spiegel  des  Bewußtseins  und  also  auch 
nicht  eine  theoretische  Vergleichung  der  logischen 
Produkte  mit  objektiven  Dingen  scheint  mis  die  Bürg- 
schaft dafür  zu  bieten,  daß  das  Denken  seinen  Zweck 
erfüllt  habe,  sondern  die  praktische  Erprobung,  ob 
es  möglich  sei,  mit  Hilfe  jener  logischen  Pro- 
dukte die  ohne  unser  Zutun  geschehenden 
Ereignisse  zu  berechnen  und  unsere  Willens- 
impulse nach  den  Direktiven  der  logischen 
Gebilde  zweckentsprechend  auszu führen. 

Wir  wollen  damit  an  diesem  Orte  noch  nicht  die  tief 
in  die  Metaphysik  und  in  die  ganze  pralHische  Welt- 
anschauung hineingreifende  Frage  erledigt  wissen,  ob  die 
logische  Funktion,  oder  anders  ausgedrückt,  ob  die  theo- 
retische Tätigkeit  für  den  Menschen  Selbstzweck  sei 
oder  sein  solle,  oder  ob  alle  theoretischen  Funktionen 
einzig  und  allein  aus  Willensimpulsen  entstanden  seien 
und  schließlich  darum  auch  nur  dem  praktischen  Handeln 
zu  dienen  haben.  Für  unsere  engere  Betrachtungsweise 
genügt  hier  die  obige  Bestimmunig,  welche  die  Erprobung 
der  Richtigkeit  der  logischen  Produkte  in  die  Hand  der 
Praxis  legt,  und  dann  auch  den  Zweck  des  Denkens 
nicht  in  einer  Abspiegelung  einer  sogenannten  äußeren, 
objektiven  Welt,  sondern  in  der  Ermöglichung  der  Berech- 
nung des  Geschehens  und  des  Einwirkens  auf  das  letztere 
erblicken  muß.  Für  uns  hat  die  logische  Funktion  des 
Denkens  den  Zweck,  uns  jederzeit  in  den  Stand  zu  setzen, 
vorausznberechnen,  daß  wir  unter  diesen  oder  jenen  Ver- 


Das  Denken  als  zweckiäUg  wirkende,  organische  Funktion.  5 

hältnissen,  Bedingungen  und  Umständen  einen  ganz  genau 
bestimmbaren  Empfindungseindruck  erhalten  werden  (denn 
darauf  läuft  schließlich  alle  Feslstellung  einer  objektiven 
Begebenheit  hinaus,  und  wissenschaftlich  ist  eine  solche 
durchaus  nicht  anders  zu  bestimmen),  und  vorauszube- 
rechnen, daß  wir  durch  diese  oder  jene  Willensimpulse 
unter  bestirmnten  Bedingungen  einen  ganz  genau  be- 
stimmbaren Effekt  hervorbringen  werden,  der  sich  aber 
auch  nur  vermöge  bestimmter  Empfindungseindrücke  von 
uns  bemerken  läßt.  Durch  diese  Reduktion  der  Begriffe: 
Denken,  Handeln,  Beobachten  usw.  auf  schließlich  physio- 
logische Elemente,  auf  Empfindungen,  gewinnen  wir 
allein  den  richtigen  Maßstab  für  die  Abschätzmig  der 
logischen  Arbeit,  welche  die  Empfindungselemente 
in  logische  Gebilde  umsetzt,  welch  letztere  schließlich 
wieder  dazu  da  sind,  um  in  Empfindungen  umgesetzt  zu 
werden,  resp.  zur  Kontrolle  von  Empfindungseindrücken 
und  zur  Vermittlung  von  Willensimpulsen,  d.  h.  Nerven- 
impulsen  zu  dienen. 

Jede  Zwecktätigkeit  äußert  sich  darin,  daß  sie  die  zur 
Erreichung  des  vorgesteckten  Zieles  notwendigen  und 
dienlichen  Mittel  ausfindig  macht,  herbeischafft  oder  her- 
vorbringt. Auch  die  organische  Tätigkeit  des  Denkens 
manifestiert  ihre  zwecktätige  Einrichtung  dadurch,  daß 
sie  ihre  oben  dargestellten  Zwecke  mit  allen  ihr  zu  Ge- 
bote stehenden  Mitteln  zu  erreichen  bestrebt  ist. 

Sind  Empfindungen  der  Ausgangspunkt  aller  logischen 
Tätigkeit  und  zugleich  die  Endstation,  in  die  dieselbe, 
wenn  auch  nnr  zur  Ermöglichung  der  Kontrolle,  ein- 
münden muß  — wobei,  wie  bemerkt,  dahingestellt  bleiben 
muß,  ob  den  logischen  Funktionen  zwischen  diesen  beiden 
Punkten  noch  ein  Selbstzweck  zuzuschreiben  ist,  oder 
nicht  — , so  läßt  sich  der  Zweck  des  Denkens  kurz  dahin 
präzisieren,  daß  es  in  der  Verarbeitung  und  Vermittelung 
des  Empfindungsmaterials  zur  Erreichung  eines  reicheren 
und  volleren  Empfindungslebens  seine  Bestimmung  finde. 

Um  den  Zweck  seiner  Tätigkeit  — die  Berechnung  des 
unabhängigen  Geschehens  und  die  Ermöglichung  oder 
Abhängigmachung  der  Vorgänge  von  unserem  Willen  — 
vollständig  und  möglichst  schnell  zu  erreichen,  dazu 
verwendet  das  Denken  oder  die  logische  Funktion  die 


6 


Allgemeine  Einleitung. 


verschiedensten  Mittel.  Das  Empfindungsmaterial  wird 
umgewandelt,  mngemünzt,  verdichtet,  es  wird  von 
Schlacken  gereinigt  und  mit  Zusätzen  aus  dem  eigenen 
Fond  der  Psyche  legiert,  mn  eine  immer  sicherere, 
raschere  und  elegantere  Lösung  der  Aufgabe  der  logischen 
Funktion  zu  ermöglichen.  In  allen  diesen  höchst  ver- 
schiedenen und  höchst  verwickelten  Prozessen  und  Opera- 
tionen herrschen  jedoch  höchst  wenige  und  höchst  ein- 
fache Gesetze,  genau  wie  die  verwickelte  Arbeit  des  physi- 
schen Organismus  und  seiner  scheinbar  so  verschiede- 
nen Organe  auf  bewunderungswürdig  einfache,  gesetz- 
mäßige Grundprozesse  und  Grundformen  reduzierbar  ist. 
Es  ist  die  Aufgabe  der  logischen  Theorie,  die  verwickelten 
logischen  Prozesse  auf  solche  einfachen  Grundprozesse, 
auf  einige  wenige,  zweckmäßig  verlaufende  Vorgänge 
zurückzuführen.  Das  reiche  Leben  des  Geistes’,  wie  es 
sich  in  der  Wissenschaft  ungeheuerem  und  unendlichem 
Gebiet  in  unzähligen  Valvationen  entfaltet  — es  beruht  in 
seinen  vermckeltsten  Formen  und  Prozessen  auf  primi- 
tiven, einfachen  Gesetzen  und  entsteht  nur  durch  die 
ungemein  sinn  reiche  Modifikation  undSpezi- 
fikation  dieser  wenigen  Grundtypen  und 
Grundgesetze,  die  sich,  teils  gedrängt  durch  die  äuße- 
ren Veranlassmigen  und  Umstände,  teils  getrieben  durch 
immanente  Entwicklungskeime,  zu  jenem  reichen,  unend- 
lichen Wissenssysteme  entfalten,  auf  das  der  Mensch 
so  stolz  ist.  Wie  die  Meleagrina  margaritifera,  wenn 
unter  ihren  glänzenden  Mantel  ein  Sandkörnchen  gerät, 
dieses  mit  der  aus  ihr  selbst  produzierten  Perlmutter- 
masse überzieht,  um  das  unscheinbare  Korn  in  eine 
blendende  Perle  zu  verAvandeln,  so  — nur  noch  viel 
feiner  — arbeitet  die  Psyche  vermittelst  ihrer  logischen 
Funktion,  wenn  sie  gereizt  wird,  das  eingedrungene  Emp- 
findungsmaterial zu  blitzenden  Gedankenperlen  um,  zu 
Gebilden,  in  denen  der  Logiker  die  aneigneride,  organisch 
zwecktätige  logische  Funktion  bis  in  ihre  geheimsten 
Wege,  bis  in  ihre  feinsten  Spezifikationen  verfolgt.  In 
beiden  Fällen  ist  es  die  sinnreiche  Zwecktätig- 
k e i t , welche  unsere  Bewunderung  und  unsere  Auf- 
merksamkeit erweckt.  Wir  betonen  gerade  vorzugsweise 
die  Zweckmäßigkeit  der  organischen  Funktion  des 


Das  Denken  als  zwecktätig  wirkende,  organische  Funktion.  7 


Denkens^  weil  wir  uns  in  der  Folge  mit  logischen  Ge- 
bilden zu  beschäftigen  haben  werden,  in  denen  sich  jene 
Zwecktätigkeit  recht  auffallend  manifestiert. 

Wir  haben  in  der  bisherigen  Darlegung  eine  Seite  noch 
nicht  berührt,  welche  jedoch  für  die  richtige  Auffassung 
der  logischen  Funktion  von  hoher  Wichtigkeit  ist:  es  ist 
dies  die  Tatsache,  daß  die  organische  Funktion  des 
Denkens  meistenteils  unbewußt  verläuft.  Mag  auch 
schließlich  d^is  Produkt  ins  Bewußtsein  treten,  ja  mag 
auch  das  Bewußtsein  die  Piuzesse  des  logischen  Denkens 
flüchtig  begleiten,  so  dringt  dieses  Licht  doch  nur  in  eine 
geringe  Tiefe;  die  eigentlichen  Grundprozesse  verlaufen 
in  dem  Dunkel  des  Unbewußten,  und  gerade  die  spezifisch 
zwecktätigen  Operationen  sind  größtenteils,  und  jedenfalls 
am  Anfang  durchgängig  instinktiv  und  unbewußt,  wenn 
sie  auch  später  in  den  Lichtkreis  des  Bewußtseins  vor- 
rücken, das  im  Laufe  der  Zeit  sowohl  individuell  als 
allgemein  kulturgeschichtlich  freilich  immer  größere 
Strecken  des  psychischen  Verlaufs  seiner  Herrschaft  zu 
unterwerfen  weiL  Es  handelt  sich  für  die  Logik  nun  ge- 
rade darum,  die  dunkel  und  unbewußt  arbei- 
tende Tätigkeit  des  Denkens  zu  beleuchten 
und  die  kunstvollen  Methoden,  die  si imreichen  Wege 
kennenzulernen,  welche  jene  unbewußt  wirkende  Tätig- 
keit einschlägt,  um  ihr  Ziel  zu  erreichen. 

Man  mag  das  Verhältnis  von  Sein  und  Denken  fassen, 
wie  man  vdll  — jedenfalls  läßt  sich  vom  empirischen 
Standpunkt  aus  behaupten,  daß  die  Wege  des  Denkens 
andere  sind,  als  die  des  Seins;  die  subjektiven 
Prozesse  des  Denkens,  die  sich  auf  irgendeinen  äußeren 
Vorgang  oder  Prozeß  beziehen,  haben  mit  diesem  selbst 
nur  selten  eine  nachweisbare  Ähnlichkeit.  Wir  bemerken 
dies,  um  dadurch  hervorzuheben,  daß  die  logischen 
Funktionen  sub  j ekti  ve,  aber  z weckmäßi  g e Anstren- 
gungen sind,  welche  das  Denken  macht,  um  seine  weiter 
oben  geschilderten  Zwecke  zu  erreichen.  Das  objektive 
Geschehen  und  Sein  mag  sich  verhalten,  wie  es  will  — 
eins  läßt  sich  wohl  sicher  behaupten,  es  besteht  nicht 
aus  logischen  Funktionen,  wie  einst  Hegel  gemeint  hat. 

Das  Hegel  sehe  System  bietet  das  historisch  grellste,  das  typische 

Beispiel  dieses  Generalirrtums  der  Philosophie  dar:  der  Ver- 


8 


Allgemeine  Einleitung. 


Wechselung  der  Wege  des  Denkens  mit  denen  des  Ge- 
schehens, der  Verwandelung  subjektiver  Denkvorgänge  in  ob- 
jektive Weltvorgän  ge.  (Daß  aber  der  Hegelschen  Dialektik  anderer- 
seits eine  richtige  Einsicht  in  das  Wesen  der  logischen  Entwicklung 
zugrunde  liegt,  wird  noch  zur  Sprache  kommen.) 

Der  eigentlich  größte  und  wichtigste  Teil  der  mensch- 
lichen Irrtümer  entsteht  dadurch,  daß  man  die  Wege 
des  Denkens  für  die  Abbilder  der  realen  Verhältnisse 
selbst  nimmt;  allein  das  schließliche  praktische  Zu- 
sammenstimmen  unserer  Vorstellungen  und  Urteile  mit 
den  sogenannten  „Dingen“  berechtigt  noch  nicht  zu  dem 
Schlüsse,  daß  die  Wege,  auf  denen  das  logische  Resukat 
gewonnen  wird,  dieselben  seien  mit  denen  der  objektiven 
Vorgänge.  Im  Gegenteil:  Die  Zweckmäßigkeit  ma- 
nifestiert sich  gerade  darin,  daß  die  logi- 
schen Funktionen,  wenn  sie  nach  ihren  eige- 
nen Gesetzen  arbeiten,  schließlich  doch 
immer  wieder  mit  dem  Sein  Zusammen- 
treffen. 


Kapitel  II. 

Das  Denken  als  eine  Kunst, 
die  Logik  als  eine  Kunstlehre  (eine  Sammlung 
technischer  Kunstregeln)  betrachtet. 

Wir  nannten  das  Denken  eine  organische  Funk- 
tion. Jede  natürliche  Fähigkeit,  wie  dies  eine  jede  orga- 
nische Funktion  ist,  kann  durch  Übung,  Entwicklung  und 
Vererbung  zur  Kunst  gesteigert  werden.  Nur  in  diesem 
Sinne  kaim  das  Denleen  eine  Kmist  sein.  Man  nennt  die 
Logik  hie  und  da  eine  Kunstlehre.  Es  ist  ungenau,  die 
Logik  selbst  so  zu  betrachten.  Das  Denken  ist  eine  Kunst, 
die  Logik  aber  ist  eine  Wissenschaft  und  als  solche 
speziell  eine  Kunstlehre. 

Es  ist  wohl  kaum  daran  zu  erinnern,  daß  bei  der 
obigen  Verwendung  des  Wortes  und  Begriffes  Kunst  die- 
jenige Bedeutung  festzuhalten  ist,  in  welcher  die  ästhe- 
tische Seite  nicht  betont  wird.  Es  handelt  sich  nicht  um 
eine  künstlerische  Tätigkeit,  sondern  um  eine  kunstreicke 


Das  Denken  als  Kunst.  Kunstgriffe,  Kunstregoln. 


9 


Fertigkeit,  So  lange  die  organische  Tätigkeit  des  Den- 
kens noch  'mehr  im  Gebiet  des  Unbewußten  sich  be- 
findet, nennen  wir  sie  lieber  zwecktätig,  wie  wir 
ja  eine  solche  Zwecktätigkeit  ohne  Bedenken  allen  orga- 
nischen Funktionen  zuschreiben,  wobei  wir  das  meta- 
physische Problem  der  Teleologie  ganz  bei  Seite  lassen; 
wenn  aber  die  organische  Tätigkeit  das  Gebiet  der  un- 
bewußten, mehr  dämmernden  Tätigkeiten  verläßt,  wenn 
das  Bewußtsein  das  Ruder  ergreift,  so  nennen  wir  die- 
selbe organische  Tätigkeit  lieber  kunstmäßig.  Je  mehr 
die  natürliche  Fähigkeit  des  Denkens,  die  instinktive 
Tätigkeit  der  logischen  Funktionen  verfeinert  und  raffi- 
niert wird,  je  mehr  sich  die  logischen  Operationen 
spezialisieren,  und  je  mehr  infolge  der  Arbeitsteilung 
in  der  Ökonomie  der  Natur  die  feineren  logischen 
Funktionen  besonderen  Individuen  als  Aufgabe  zufallen, 
desto  mehr  findet  jene  Bezeichnung  ihre  sachliche  Be- 
rechtigmig.  Ist  auch  das  Denken  eine  allgemein  ver- 
breitete Tätigkeit,  zu  welchem  das  Individuum  im  Verlaufe 
seiner  Entwicklung  angelernt  wird,  wie  zu  so  mancher  an- 
deren Kunst,  welche  zur  Notdurft  des  menschlichen  Da- 
seins gehört,  so  ■vdrd  doch  der  schwierigere  Teil  der  lo- 
gischen Aufgabe  von  einzelnen,  besonders  dazu  befähigten 
und  dazu  ausgebildeten  Individuen  ausgeführt;  sobald 
aber  eine  allgemeine  natürliche  Fähigkeit  sich  in  dieser 
Weise  spezialisiert,  daß  besondere  Individuen  sie  mit  be- 
sonderer Fertigkeit  ausüben,  so  nennen  wir  sie  eine 
Kunst.  Es  bilden  sich  bestimmte  Kunstregeln  aus; 
das  Ganze  dieser  Kunstregeln  nennt  man  die 
Kunstlehre,  und  eine  solche  ist  die  Logik,  als  deren 
Hauptaufgabe  sich  eben  die  Darstellung  und  Begründung 
der  technischen  Regeln  des  Denkens  ergibt. 


Kapitel  III. 

Unterschied  der  Kunst  griffe  von  den  Kunst  regeln 
des  Denkens. 

Die  bisherige  Methodologie  hat  sich  bemüht,  die  Kunst- 
regeln des  Denkens  in  ihrer  Vollständigkeit  zu  sammeln 
und  systematisch  zu  verarbeiten.  Sie  hat  es  versucht, 


10 


Allgemeine  Einleitung. 


uud  es  ist  ihr  gelungen,  diejenigen  technischen  Ope- 
rationen und  Manipulationen  zu  registrieren  und  zu  ana- 
lysieren und  systematisch  zu  begründen,  welche  die  häu- 
figsten, regelmäßigsten  und  wichtigsten  sind.  Gerade  die- 
jenigen Operationen,  auf  deren  geschickter  Anwendung, 
kluger  Verwertung  und  rationeller  Verfeinerung  die  Fort- 
schritte der  modernen  Naturwissenschaft  beruhen, 
sind  aus  der  Praxis  in  die  Theorie  erhoben  worden  und 
wurden  auf  die  einfachen  und  primitiven  Formen  der 
logischen  Funktion  zurückgeführt.  Die  bewunderungs- 
würdigen ^Methoden  der  empirischen  Wissenschaften,  Me- 
thoden, welche  sich  ihrem  Gegenstand  mit  einer  staunens- 
werten Geschmeidigkeit  anzuschmiegen  und  mit  jener 
klugen  Benutzimg  aller  Umstände  tmzupassen  wissen, 
welche  wir  bei  den  organischen  Wesen  beobachten  — 
diese  IMethoden  fanden  einen  wüirdigen  imd  vollständig 
entsprechenden  Ausdruck  in  der  modernen  Methodologie, 
welche  ihre  glänzendsten  Vertreter  in  England,  Frank- 
reich und  Deutschland  fand. 

Es  w’erden  indessen,  scheint  mir,  in  der  wissenschaft- 
lichen Praxis  außerdem  Methoden  angewandt,  welche  bis- 
her in  der  Theorie  noch  nicht  die  gehörige  Beachtung 
und  Verwertung  gefunden  haben. 

Wir  meinen  damit  Methoden,  welchen  wir  im  Gegen- 
satz zu  den  regulären  Methoden  der  gewöhnlichen  In- 
duktion den  Charakter  des  Irregulären  indizieren  dürfen. 
Auch  in  anderen  Gebieten  aber  pflegt  man  das  Reguläre 
vor  dem  Irregulären  systematisch  zu  bearbeiten  und  das 
letztere  beiseite  zu  lassen.  Wo  man  aber  bisher  diejenigen 
Methoden,  welche  wir  meinen,  berührte,  behandelte  man 
sie  entweder  \del  zu  kurz  und  viel  zu  oberflächlich, 
oder  am  mirechten  Orte  und  nicht  im  rechten  syste- 
matischen Zusammenhänge,  oder  man  warf  sie  mit  ande- 
ren ähnlichen  Formen  zusammen,  wie  dies  ja  in  jeder 
Wissenschaft  so  zu  gehen  pflegt;  oder  man  behandelte  sie 
auch  mit  jener  Scheu,  wie  man  anfangs  alles  Irreguläre 
behandelt.  Auch  in  der  Logik  woh  man  um  solche  Formen 
einen  geheimnisvollen  Schleier,  mid  anstatt  schonungslos 
mit  der  logischen  Sonde  in  dieselben  einzudringen,  ver- 
schwendete man  ahnungsvolle  Gefühle  an  diese  Formen, 
die  man  ähnlich  behandelte,  wde  man  dies  in  vielen 


Kunstgriffe  und  Kunstregeln  des  Denkens. 


11 


Museen  sieht,  wo  seltsame  Gegenstände  auf  die  Seite 
gelegt  werden,  bis  eine  künftige  Generation  sie  analysiert. 

Nachdem  die  regulären  und  häufigsten  logischen  Ope- 
rationen eine  Bearbeitung  gefunden  haben,  welche  relativ 
nichts  mehr  zu  -wünschen  übrig  läßt,  scheint  es  an  der 
Zeit  und  gerechtfertigt,  auch  diejenigen  Operationen  in 
die  logische  Diskussion  hineinzuziehen,  weiche  bis  jetzt 
ignoriert  oder  vernachlässigt  wurden.  Man  tat  recht 
daran,  diese  irregulären  Formen  so  lange  zu  übersehen 
und  auf  die  Seite  zu  stellen,  bis  die  logische  Theorie 
durch  die  Analyse  der  wichtigsten  und  häufigsten  Ope- 
rationen diejenige  Festigkeit  und  Sicherheit  erlangt  hatte, 
welche  absolut  notwendig  ist,  wenn  exzeptionellen,  irregu- 
lären und  dem  gewöhnlichen  Verlauf  widersprechenden 
Phänomenen  zu  Leibe  gegangen  werden  soll,  deren  logi- 
sche Analyse  bedeutenderen  Sch-wierigkeiten  begegnet 
als  die  häufigeren  Operationen. 

Wir  unterscheiden  Kunst  regeln  und  Kunstgriffe  des 
Denkens.  Auch  bei  anderen  Fimldionen  ist  diese  Unter- 
scheidung von  Wert;  Kunstregeln  sind  das  Zusammen 
aller  jener  technischen  Operationen,  vermöge  welcher 
eine  Tätigkeit  ihren  Zweck,  weim  auch  mehr  oder  weni- 
ger verwickelt,  so  doch  direkt  zu  erreichen  weiß.  Auch 
in  der  Logik  nennen  wir  solche  Operationen,  wie  vor 
allem  die  Operationen  der  Induktion,  Kunstregeln  des 
Denkens.  Kunstgriffe  aber  sind  solche  Operationen, 
welche,  einen  fast  geheimnisvollen  Charakter  an  sich 
tragend,  auf  eine  mehr  oder  weniger  paradoxe  Weise 
dem  gewöhnlichen  Verfahren  -widersprechen,  Methoden, 
welche,  dem  nicht  in  den  Mechanismus  eingeweihten, 
nicht  so  fertig  geübten  Zuschauer  den  Eindruck  des 
Älagischen  machend,  Schwierigkeiten,  die  das  bezügliche 
Material  der  betreffenden  Tätigkeit  in  den  Weg  wirft, 
indirekt  zu  umgehen  wissen.  Solche  Kimstgriffe  hat  auch 
das  Denken;  sie  sind  wunderbar  zwecktätige  Äußerun- 
gen der  organischen  Funktion  des  Denkens.  Und  wie 
in  ge-^\nssen  Künsten  und  Handwerken  solche  Kunst- 
griffe geheim  gehalten  werden,  so  bemerken  wir  auch 
dasselbe  bei  dem  logischen  Geschäfte.  Wir  ziehen  hier 
nur  einen  eklatanten  Fall  zur  Illustration  des  Gesagten 
herbei:  als  es  Leibniz  durch  einen  solchen  genialen 


12 


Allgemeine  Einleitung. 


Kunstgriff  — er  wird  im  folgenden  für  uns  das  typische 
Beispiel  sein  und  einen  Hauptgegenstand  unserer  Ana- 
lyse bilden  — gelungen  war,  Aufgaben,  die  bis  dahin  als 
unlösbar  gegolten  hatten,  auf  eine  wunderbar  einfache 
und  ingeniöse  Weise  zu  lösen,  da  sachte  er  eine  ge- 
raume Zeitlang  diesen  logischen  Kunstgriff  ängstlich  ge- 
heimzuhalten, und  diejenigen,  denen  er  ihn  mitteilte, 
überraschten  die  damit  nicht  bekannt  gemachten  Mathe- 
matiker mit  der  Lösung  schwieriger  Aufgaben. 


Kapitel  lY. 

Übergang  zu  den  Fiktionen. 

Wir  behandeln  also  eine  eigentümliche  Art  von  logi- 
schen Produkten,  eine  besondere  Tätigkeitsmanifeslation 
der  logischen  Funktion.  Schon  im  vorhergehenden  haben 
wir  darauf  hingewiesen,  daß  diese  eigentümliche  Tätig- 
keit sich  in  den  von  uns  sogenamrten  Kunstgriffen 
des  Denkens  äußert,  daß  ihre  Produkte  Kunst- 
begriffe sind.  Wir  substituieren  schon  hier,  das  Re- 
sultat antezipierend,  für  diese  Ausdrücke  andere  Ter- 
mini: unser  Gegenstand  ist  die  fiktive  Tätigkeit  der  logi- 
schen Funktion,  die  Produkte  dieser  Tätigkeit  sind  die 
Fiktionen. 

Die  fiktive  Tätigkeit  der  Seele  ist  eine  Äußerung 
der  psychischen  Grundkräfte;  die  Fiktionen 
sind  psychische  Gebilde.  Aus  sich  selbst  spinnt 
die  Psyche  diese  Hilfsmittel  heraus;  denn  die  Seele  ist 
erfinderisch;  den  Schatz  an  Hilfsmitteln,  der  in  ihr  selbst 
liegt,  entdeckt  sie,  gezwungen  von  der  Not,  gereizt  von 
der  Außenwelt.  Der  Organismus  ist  hineingestellt  in 
eine  Welt  voll  widersprechender  Empfindungen,  er  ist 
den  Angriffen  einer  ihm  feindlichen  Außenwelt  bloß- 
gestellt, und  um  sich  zu  erhalten,  wird  er  gezwungen, 
sowohl  von  außen  als  innen  alle  möglichen  Hilfsmittel 
zu  suchen.  An  der  Not  und  am  Schmerz  entzündet  sich 
die  geistige  Entwicklung,  am  Widerspruch  und  Gegen- 
satz ervmcht  das  Bewußtsein,  und  der  Mensch  schuldet 
seine  geistige  Entfaltung  mehr  seinen  Feinden  als  seinen 
Freunden. 


Übergang  zu  den  Fiktionen, 


13 


Um  größerer  Deutlichkeit  und  Übersichtlichkeit  willen 
muß  indessen  folgende  Bemerkung  vorausgeschickt 
werden : 

Unter  der  fiktiven  Tätigkeit  innerhalb  des  logi- 
schen Denkens  ist  die  Produktion  und  Benutzung  solcher 
logischen  Methoden  zu  verstehen,  welche  mit  Hilfe  von 
H-ilfsbegriffen  — denen  die  Unmöglichkeit  eines  ihnen 
irgendvvde  entsprechenden  objektiven  Gegenstandes  mehr 
oder  weniger  an  die  Stirn  geschrieben  ist  — die  Denk- 
zwecke zu  erreichen  sucht.  Anstatt  sich  mit  dem  ge- 
gebenen Material  zu  begnügen,  schiebt  die  logische  Funk- 
tion diese  zwitterhaften  und  zweideutigen  Denkgebilde 
ein,  um  mit  ihrer  Hilfe  ihre  Ziele  indirekt  zu  erreichen, 
wenn  die  Sprödigkeit  des  entgegenstehenden  Materials 
ein  direktes  Vorgehen  nicht  gestattet.  Mit  einer  instink- 
tiven, fast  möchte  ich  sagen,  verschmitzten  Klugheit 
weiß  die  logische  Funktion  diese  Schwierigkeiten  durch 
diese  Hilfsgebilde  zu  umgehen.  Die  speziellen  Methoden, 
Umwege,  welche  das  Denken  einschlägt,  wenn  es  auf  der 
Linie  des  direkten  Denkens  nicht  mehr  fortkommen  kann 
— Fußwege,  die  recht  oft  durch  dorniges  Gestrüpp  führen, 
wodurch  sich  aber  das  logische  Deiiken  nicht  aufhalten 
läßt,  selbstwenn  es  von  seiner  logischen  Rein- 
heit und  Unb efleckthei t etwas  einbüßt  — sind 
sehr  mannigfacher  Natur,  und  die  Auseinanderlegung  der- 
selben ist  eben  unsere  Aufgabe.  Es  ist  hierbei  noch  die 
Bemerkung  am  Platze,  daß  die  logische  Funktion  in  ihrer 
zwecktütig-instinktiven  Klugheit  diese  fiktive  Tätigkeit 
von  den  unschuldigsten,  unscheinbarsten  Anfängen  an 
durch  immer  feinere  und  klügere  Windungen  hindurch 
bis  zu  den  schwierigsten  und  kompliziertesten  Methoden 
durchzuführen  weiß. 


Erster  Teil. 

Prinzipielle  Grundlegung. 

Allgemeine  Vorbemerkung  über  die  fiktiven 
Vorstellungsgebilde. 

Die  regulären  und  natürlichsten  Denkmethoden  bestehen 
darin,  immer  zuerst  und  sogleich  nur  solche  Apper- 
zeptionen zu  vollziehen,  welche  endgültig  sind;  und 
immer  nur  solche  Vorstellungsgebilde  zu  formieren, 
welchen  eine  entsprechende  Wirklichkeit  nachgewiesen 
werden  kann.  Dies  ist  ja  das  eigentliche  Ziel  der  Wissen- 
schaft, nur  solche  Vorstellungsgebilde  zu  entwickeln, 
denen  Objektives  entspricht,  und  alle  subjektiven  Ein- 
mischungen zu  eliminieren. 

Allein  diese  Aufgabe  zu  erreichen,  ist  nicht  so  leicht. 
Der  Erreichung  stellen  sich  sehr  viele  Schwierigkeiten 
entgegen.  Jenes  ideale  Ziel,  nach  welchem  die  Vor- 
stellungswelt aus  lauter  zusammenstimmenden,  geord- 
neten und  widerspruchslosen  Vorstellungsgebilden  be- 
stehen soll,  dieses  Ideal  ist  langsam  und  schwer  zu  er- 
reichen. 

Auf  den  gewöhnlichen  Denkwegen  ist  das  natürliche 
Bestreben  die  Ausgleichung  aller  Vorstellungs- 
gebilde,  ihre  Prüfung  an  der  Wirklichkeit,  ihre 
Widerspruchslosigkeit.  Es  ist  der  natürlichste,  zu- 
näcbstliegende  und  anscheinend  einzige  Weg,  um  die 
wissenschaftliche  Erkenntnis  zu  fördern.  Er  wäre  es 
auch,  wenn  die  Vorstellungsgebilde  unmittelbare  Abbil- 
der des  Seins  wären;  aber  schon  die  gewöhnlichen  Wege 
und  Produkte  des  Denkens  enthalten  so  viel  subjektive 
und  fiktive  Elemente,  daß  es  uns  nicht  überraschen 
kann,  wenn  das  Denken  auch  noch  andere  Wege  ein- 
schlägt. Man  muß  hierbei  sich  daran  erinnern,  daß  die 
ganze  Vorstellungsv/elt  in  ihrer  Gesamtheit  nicht  die  Be- 
stimmung hat,  ein  Abbild  der  Wirklichkeit  zu 


Vorbemerkuag  über  die  fiktiven  Vorälelluagsgebilde. 


15 


sein  — es  ist  dies  eine  ganz  umnögliche  Aufgabe  — 
sondern  ein  Instrument  ist,  um  sich  leichter  in 
derselben  zu  orientieren.  Im  gesamten  Gefüge  des 
kosmischen  Geschehens  sind  auch  die  subjektiven  Denk- 
bewegungen mit  einbegriffen.  Sie  sind  die  höchsten  und 
letzten  Resultate  der  ganzen  organischen  Entwicklung; 
die  Vorstellungswelt  ist  gleichsam  die  letzte  Blüte  des 
ganzen  kosmischen  Geschehens;  aber  darum  eben  ist 
sie  kein  Abbild  desselben  im  gev/öhnlichen  Sinn. 
Die  logischen  Prozesse  sind  ein  Teil  des  kos- 
mischen Geschehens  und  haben  zunächst  nur  den 
Zweck,  das  Leben  der  Organismen  zu  erhalten  und  zu 
bereichern;  sie  sollen  als  Instrumente  dienen,  um  den 
organischen  Wesen  ihr  Dasein  zu  vervollkommnen;  sie 
dienen  als  Vermittlungsglieder  zwischen  den  Wesen. 
Die  Vorstellungswelt  ist  ein  geeignetes  Gebilde,  um 
diese  Zvrecke  zu  erfüllen,  aber  sie  darum  ein  Abbild  zu 
nennen,  ist  ein  voreiliger  und  unpassender  Vergleich. 
Sind  doch  die  elementaren  Empfindungen  schon  keine 
Abbilder  der  Wirklichkeit,  sondern  bloße  Maßstäbe,  um 
die  Veränderungen  der  Wirklichkeit  zu  messen. 

Ehe  wir  unsere  Aufgabe  in  Angriff  nehmen,  müssen 
wir  hier  schon  einen  Unterschied  machen,  der  in  der 
Folge  von  einiger  Bedeutung  sein  wird.  Als  eigentliche 
Fiktionen  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  stellen  sich 
solche  Vorstellungsgebilde  dar,  v/elche  nicht  nur  der 
Wirklichkeit  widersprechen,  sondern  auch  in  sich  selbst 
widerspruchsvoll  sind  (z.  B.  der  Begriff  des  Atoms,  des 
Dinges  an  sich).  Von  ihnen  zu  unterscheiden  sind  solche 
Vorstellungsgebilde,  welche  nur  der  gegebenen  Wirklich- 
keit widersprechen,  resp.  von  ihr  ab  weichen,  ohne  schon 
in  sich  selbst  widerspruchsvoll  zu  sein  (z.  B.  die  künst- 
liche Einteilung).  Man  kann  die  letzteren  als  Halb- 
fiktionen, Semifiktionen  bezeichnen.  Beide  Arten  sind 
nicht  streng  getrennt,  sondern  durch  Übergänge  verbun- 
den. Das  Denken  beginnt  zuerst  mit  leichteren  Ab- 
weichungen von  der  Wirklichkeit  (Halbfiktionen),  um  zu- 
letzt, immer  kühner  geworden,  mit  solchen  Vorstellungs- 
gebilden zu  operieren,  welche  nicht  mehr  bloß  dem 
Gegebenen  widersprechen,  sondern  auch  in  sich  selbst 
widerspruchsvoll  sind. 


16  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Kiktionen. 


A.  Aufzählung  und  Einteilung  der  wissen- 
schaftlichen Fiktionen. 

Kapitel  L 

Die  künstliche  Klassifikation. 

Die  am  weitesten  verbreitete  Art  derjenigen  Fiktionen, 
die  wir  soeben  Halb-Fiktionen  nannten,  dieser  „vorläufi- 
gen Methoden“,  ist  die  künstliche  Klassifikation. 
Das  ihr  entsprechende  realgültige  Gebilde,  das  seiner- 
zeit an  ihre  Stelle  treten  soll,  ist  das  natürliche 
System.  Alle  kosmischen  Objekte  stellen  eine  Spezi- 
fikation dar,  welche  theoretisch  ausgedrückt  wird  in 
der  Klassifikation;  entspricht  diese  in  allen  Gliedern 
der  Wirklichkeit,  so  ist  sie  ein  sogenanntes  natürliches 
System.  Das  natürliche  System  selbst  bildet  indessen 
eines  der  verwickeltsten  Probleme  der  Philosophie  und 
Naturwissenschaft,  und  ein  Ausfluß  der  auf  diesen  Punkt 
gerichteten  Untersuchungen  ist  die  brennende  Frage  über 
die  Spezies. 

Das  natürliche  System  ist  ein  solches,  in  welchem 
die  Wesen  nach  denselben  Prinzipien  geordnet  sind, 
welche  die  Natur  bei  der  Produktion  derselben  befolgt 
zu  haben  scheint.  Wir  können  kurz  sagen:  die  natürliche 
Einteilung  muß  ein  entsprechendes  Abbild  der  realen  Ent- 
stehung und  des  verwandtschaftlichen  Zusammenhanges 
aller  Wesen  sein.  Dies  ist  das  Ziel  der  Wissenschaft,  und 
eine  direkte  Methode  sollte  diesem  Ziele  unmittelbar  zu- 
steuern. 

Hier  machen  sich  nun  aber  schon  alle  jene  Gesichts- 
punkte geltend,  von  denen  wir  bisher  sprachen;  das 
gegebene  Material  stellt  diesem  direkten  Wege  so  un- 
geheure Hindernisse  entgegen,  daß  die  logische  Funk- 
tion den  indirekten  Weg  einschlägt.  Sie  wendet  einen 
Kunstgriff  an:  sie  bildet  eine  künstliche  Ein- 
teilung. Was  heißt  das?  In  unserer  psychologischen 
Terminologie  heißt  das:  sie  substituiert  den  noch 
unbekannten  einzig  richtigen  Gebilden  pro- 
visorisch solche,  denen  keine  Wirklichkeit 
unmittelbar  entspricht.  Mit  diesen  fiktiven 
Klassen  rechnet  sie  zunächst,  als  ob  es  die  wirklichen 


Die  künstliche  Klassifikation. 


17 


wären.  Es  ist  hier  nur  noch  auf  die  bekannte  Tatsache 
hinzuweisen,  daß  die  künstliche  oder  fiktive  Klassifika- 
tion aus  der  ganzen  Merkmalgruppe  immer  ein  besonders 
hervorstehendes  herauswählt,  nach  welchem  sie  die  Ein- 
teilung vollzieht,  ohne  sich  um  die  Determination  zu 
kümmern,  welche  die  Merkmale  gegenseitig  voneinander 
erfahren.  Diese  provisorischen  Hilfseinteilungen  haben 
nicht  bloß  den  praktischen  Zweck,  eine  Registrierung 
und  Rubrizierung  der  Dinge  zu  ermöglichen,  und  zu- 
gleich eine  Art  mnemotechnischer  Mittel  zu  sein,  son- 
dern sie  haben  auch  insofern  einen  theoretischen 
Wert,  als  sie  heuristische  Dienste  leisten,  und  die 
Auffindung  des  natürlichen  Systems  vorbereiten  und  er- 
leichtern. Die  künstlichen  Systeme  sind  meist  Konse- 
quenzen jener  Artbegriffe,  weiche  selbst  nur  provi- 
sorisch die  verwirrende  Menge  der  Erscheinungen  in 
eine  oberflächliche  Ordnung  bringen. 

Spezielle  Unterarten  dieser  künstlichen  Einteilung  sind 
jene  heuristischen  Methoden,  welche  auf  Dichotomie 
usw.  beruhen.  Diese  künstlichen  Klassifikationen  haben 
auch  eine  in  wesentlichen  Stücken  andere  Theorie,  als 
die  natürlichen:  d.  h.  die  sich  an  sie  anschließenden  und 
ihre  Anwendung  beherrschenden  methodologischen  Re- 
geln sind  selbstverständlich  anderer  Natur,  als  diejeni- 
gen für  die  natürlichen  Einteilungen.  Diese  Regeln  be- 
ziehen sich  besonders  auf  die  Vermeidung  der 
Fehler,  welche  notwendig  aus  der  künst- 
lichen Einteilung  entspringen;  diese  Fehler  be- 
stehen nicht  nur  darin,  daß  die  wirkliche  Gliederung  der 
Dinge  in  jenes  künstliche  Fachwerk  nicht  eingeht  und 
sich  nicht  mit  ihm  deckt,  sondern  auch  darin,  daß  durch 
die  künstliche  Einteilung  unmögliche  Glieder  ent- 
stehen, welche  in  der  Wirklichkeit  gai  nicht  existieren 
können. 

Als  Beispiele  sind  zu  nennen  u.  a.  das  Liniiösche 
System,  sowie  mehrere  der  späteren  Pflanzen-,  Tier-  und 
Menschensysteme,  welche  mehr  oder  minder  mit  dem 
Bewußtsein  ihrer  Künstlichkeit  aufgestellt  sind;  be- 
sonders ist  Lamarck  rühmend  hervorzuheben,  dessen 
in  seiner  „Philosophie  zoologique“  gegebene  technische 
Regeln  über  die  „künstlichen  Hilfsmittel  der  Natufwissen- 

Vaihinger,  Philosophie.  2 


18  Erster  Teil:  Prinzipiell©  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

* 

schatten“  eingehend  dieses  Thema  behandeln^  ferner 
Cuvier,  Blumenbach,  Kant  und  eine  große  Reihe 
von  Forschern,  welche  diese  künstliche  Klassifikation 
entweder  selbst  anwandten  oder  ihre  Theorie  bearbeiteten. 

Diese  künstliche  Klassifikation  ist  fast  die  einzige  der 
künstlichen  Hilfsmethoden  des  Denltens,  welche  sich  einer 
eingehenden  Bearbeitung  von  seiten  der  Logiker  zu  er- 
freuen hatte.  Es  war  eben  zu  deutlich,  daß  man  es 
hier  nicht  direkt  und  unmittelbar  mit  der  Wirklichkeit 
zu  tun  hatte,  sondern  nur  mit  provisorischen  und 
indirekten  Vor  s teil  u n g s g e b i Iden  und  Denk- 
formen. Die  verschiedenen  Momente,  welche  bei  allen 
Fiktionen  als  Merkmale  hervortreten,  sind  bei  dieser  Art 
schon  sehr  deutlich  zutage  gekommen.  Insbesondere,  daß 
alle  solche  Fiktionen  zuletzt  auf  Widersprüche  führen, 
ist  ein  sehr  beherzigenswertes  Merkmal,  das  später  beson- 
ders hervorzuheben  sein  wird. 


Kapitel  II. 

Abstraktive  (neglektive)  Fiktionen. 

Mit  dieser  Bezeichnung  fasse  ich  eine  Reihe  von  Me- 
thoden zusammen,  in  denen  die  Abweichung  von  der 
Wirklichkeit  sich  spezifiziert  als  eine  Vernach- 
lässigung gewisser  Elemente  des  Wirklichen 
(allgemein  ausgedrückt). 

Das  Gemeinsame  aller  der  in  dieser  Klasse  zusammen- 
gefaßten Fiktionen  ist  eine  Vernachlässigung  wich- 
tiger Wirklichkeitselemente.  Meistenteils  ist  der 
Grmrd  zu  der  Bildung  dieser  Fiktionen  die  allzu  große 
Verflochtenheit  der  Tatsachen,  welche  der  theoretischen 
Bearbeitung  in  dieser  ungemeinen  Kompliziertheit  zu 
große  Schwierigkeiten  entgegenstellt.  Hier  können  die 
logischen  Funktionen  ihr  Geschäft  nicht  ungestört  voll- 
ziehen, weil  es  noch  nicht  gelingt,  alle  Fäden  auseinander 
zuhalten,  aus  denen  das  Gewebe  der  Wirklichkeit  besteht. 

Wenn  also  das  Material  zu  kompliziert  und  vemorren 
ist,  um  dem  Denken  zu  gestatten,  es  allmählich  bis  auf 
seine  einzelnen  Fäden  zu  entwirren,  wenn  die  gesuchten 


Abstrakte  Fiktionen. 


19 


kausalen  Faktoren  wahrscheinlich  komplizierterer  Natur 
sind,  als  daß  sie  unmittelbar  zu  bestimmen  sind^  so 
wendet  das  Denken  den  Kunstgriff  an,  vorläufig 
und  einstweilen  eine  ganze  Reihe  von  Merk- 
malen zu  vernachlässigen  und  nur  die  wich- 
tigsten Erscheinungen  herauszugreifen. 

Ein  Standardbeispiel  für  diesen  Kunsigriff  bildet 
die  bekannte  Annahme  von  Adam  Smith,  daß  alle 
Handlungen  der  Menschen  nur  vom  Egoismus  dik- 
tiert werden.  Wir  werden  für  jede  Gattung  ein  beson- 
ders typisches  Beispiel  aufstellen,  um  an  diesem  durch 
möglichst  eingehende  Analyse  den  Bau  dieser  Vorstel- 
lungsgehilde  und  die  Methodologie  dieser  Kunstgriffe  zu 
studieren.  Für  die  künstliche  Klassifikation  ist  das  am 
meisten  typische  Beispiel  für  alle  Jahrhunderte  das 
L i n n 4 sehe  botanische  System.  Für  die  abstraktive  oder 
neglektive  Fiktion  is(  les  'die  Smith  sehe  Annahme.  Man  hat 
diese  Annahme  jahrelang  für  eine  Hypothese  gehalten. 

Adam  Smith  selbst  wollte  so  wenig  als  Linne 
damit  mehr  als  eine  Fiktion  geben.  Den  Nachweis,  daJß 
Smith  mit  jener  Annahme  nur  eine  vorläufige  Fiktion 
machte,  hat  in  England  zuerst  Buckle  geführt  in  der 
Einleitung  zu  seiner  „Geschichte  Englands“,  in  Deutsch- 
land hat  besonders  F.  A.  Lange  diesen  Gesichtspunkt 
betont. 

Die  empirischen  Erscheinungsweisen  des  menschlichen 
Handelns  sind  so  ungemein  verwickelt,  daß  sie  der  theore- 
tischen Erfassung  und  Reduktion  auf  ihre  kausalen  Fak- 
toren geradezu  unübersteigliche  Hindernisse  entgegen- 
stellen. Smith  hatte  nun  zum  Aufbau  seines  national- 
ökonomischen Systemes  nötig,  die  Handlungen  der  Men- 
schen kausal  zu  begreifen.  Mit  sicherem  Takte  griff 
er  die  Hauptursache  heraus,  nämlich  den  Egoismus,  und 
formulierte  seine  Annahme  so,  daß  alle  menschlichen 
Handlungen,  vornehmlich  diejenigen  geschäftlicher  und 
nationalökonomischer  Natur,  so  betrachtet  werden  können, 
als  ob  ihr  treibendes  Motiv  einzig  und  allein  der  Egois- 
mus wäre.  Hier  werden  also  alle  anderen  Nebenursachen 
und  mitbedingenden  Faktoren,  wie  z.  B.  Wohlwollen, 
Gewohnheit  usw.  vernachlässigt.  Mit  Hilfe  dieser  ab- 
strakten Ursache  nun  gelang  es  Smith,  die  ganze  National- 


20  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


Ökonomie  in  ein  geordnetes  System  zu  bringen.  Aus 
diesem  axiomartig  aufgestellten  Satze  entwickelte  er  de- 
duktiv alle  Verhältnisse  des  Handels  und  Verkehrs, 
welche  sich  mit  systematischer  Notwendigkeit  daraus 
ergeben.  Damit  hängt  die  Annahme  der  j, Harmonie  aller 
Sonderinteressen“  enge  zusammen,  eine  Annahme,  die  als 
Fiktion  höchst  wertvoll,  aJs  Hypothese  oder  Dogma  ge- 
radezu verderblich  ist. 

Es  sind  dies  aber  nur  provisorische  Annahmen,  welche, 
obwohl  konsequent  durchgeführt,  sich  dennoch  sehr 
scharf  von  Hypothesen  imterscheiden : denn  sie  sind 
oder  sollen  wenigstens  von  dem  Bewußtsein 
begleitet  sein,  daß  ihnen  die  Wirklichkeit 
nicht  entspricht,  und  daß  sie  absichtlich  nur 
einenBruchteil  der  Wirklichkeitan  die  Stelle 
der  ganzen  Fülle  der  Ursachen  und  Tatsachen 
setzen. 

Diese  künstliche  Methode  wird  überall  da  angewandt, 
wo  solche  veiAvickelten  Verhältnisse  stattfinden,  also  ins- 
besondere in  der  Behandlung  der  nationalökonomischen 
Fragen,  der  sozialen  Beziehungen,  der  moralischen  Ver- 
hältnisse. 

Es  gibt  noch  ein  Gebiet,  wo  vermittels  dieser  Methode 
höchst  fruchtbare  Ergebnisse  gewonnen  werden,  die 
theoretische  Mechanik. 

In  diesem  Gebiet  sind  die  Erscheinungen  so  verwickelt, 
daß  häufig  solche  abstrakten  Ursachen  allein  als  kausale 
Faktoren  angenommen  werden,  während  man  andere 
einstweilen  vernachlässigt.  Gerade  in  der  Berechnung 
der  mechanischen  Verhältnisse  der  Körper  werden  zur 
leichteren  Ausführung  dieser  Berechnungen  Neben- 
ursachen vernachlässigt,  und  die  ganze  mechanische  Be- 
wegung usw.  betrachtet,  als  ob  sie  nur  von  jenen  ab- 
strakten Faktoren  abhinge. 

Es  gibt  noch  eine  ganze  Reihe  anderer  Gebiete,  auf 
denen  diese  Methode  mit  mehr  oder  weniger  Erfolg  an- 
gewandt worden  ist:  z.  B.  gehören  in  diese  Klasse  alle 
jene  an  die  Condillacsche  Fiktion  einer  Statue  sich 
anlehnenden  Vorstellungsgebilde,  wie  sie  auch  neuer- 
dings z.  B.  von  Steinthal  wieder  zur  Erleichterung 
der  psychologischen  Betrachtung  angenommen  werden. 


Abstrakte  Fiktionen. 


21 


Die  psychologischen  Verhältnisse  speziell  sind  so  ver- 
wickelt, daß  gerade  hier  apriori  solche  Fiktionen,  welche 
zunächst  nur  ein  Moment  zur  Geltung  bringen  und 
andere  vernachlässigen,  um  so  die  Berechnung  prak- 
tischer anstellen  zu  können,  wohl  möglich  und  denkbar 
sind.  Seit  man  in  der  Psychologie  die  Analogie  der 
psychischen  Phänomene  mit  mechanischen  Vorgängen 
durchgeführt  hat,  hat  diese  Methode  auch  in  der  ab- 
stralden  Psychologie  Platz  gegriffen.  Man  könnte  auch  die 
H e r b a r t sehen  Gesetze  und  sonstige yAnnahmen  desselben 
als  Fiktionen  von  praktischem  Werte  nachweisen,  an- 
statt sie  als  Hypothesen  wie  bisher  anzusehen. 

Neuerdings  hat  sich  auch  Steinthal  mit  dieser  Me- 
thode versucht  und  theoretische  Formeln  auf  gestellt, 
welche  nur  durch  Vernachlässigung  vieler  empirischer 
Faktoren  gewonnen  sind. 

Dagegen  ist  apriori  nichts  einzuwenden;  im  Gegenteil, 
es  ist  höchst  wahrscheinlich,  daß  auf  diesem  Wege  etwas 
Erhebliches  gewonnen  werden  kann.  Es  bewegt  sich  ja 
auch  die  abstrakte  Mechanik  in  lauter  solchen 
Formeln,  welche  nur  durch  Vernachlässigung  \deler  em- 
pirischer Data  gewonnen  sind  und  die  Vorgänge  immer 
so  betrachten,  als  ob  sie  nur  von  jenen  einfach  formu- 
lierten Gesetzen  abhingen.  Es  ist  klar,  wie  nahe  indessen  ‘ 
diese  Fiktionen  mit  bloßen  Proben  und  Versuchen  Zu- 
sammenkommen, d.  h.  mit  solchen  Versuchen,  wo- 
bei wie  in  der  Berechnung  mathematischer  Aufgaben 
zunächst  ganz  beliebige  Werte  angenommen  und  all- 
mählich „durchprobiert“  werden. 

Überall  wo  vei-wickelte  Umstände  vorhanden  sind, 
welche  die  Darstellung  und  Berechnung  erschweren,  tut 
diese  kunstreiche  Methode  die  besten  Dienste.  Leider 
macht  sich  aber  schon  hier  die  in  der  Geschichte  der 
Wissenschaft  oft  unheilvolle  Verwechslung  solcher  Fik- 
tionen mit  Hypothesen,  welche  mehr  oder  weniger 
auf  Wirklichkeit  Anspruch  machen,  in  störender  Weise 
geltend  sowohl  bei  denen,  welche  solche  Vorstellungs- 
gebilde zuerst  formieren,  als  bei  denen,  welche  sie  dann 
weiter  verbreiten. 

Oft  ist  es  aber  auch  wirklich  noch  streitig,  ob  eine 
solche  Annahme  Hypothese  oder  Fiktion  sei;  allein  hier 


22  Erster  Teil:  Prinzipielle  GniiHllejiiQg.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


macht  sich  oft  der  wissenschaftliche  Unverstand  sehr 
miangenehm  bemerkbar,  indem  meist  ans  der  Unrich- 
tigkeit solcher  V orstellungsgebilde  auf  ihre  Unbrauch- 
barkeit geschlossen  wird.  Dieser  Schluß  ist  aber 
gerade  so  falsch,  wie  der  umgekehrte  aus 
der  Brauchbarkeit  auf  die  Richtigkeit.  Eine 
Einsicht  in  den  psychologischen  Zusammenliang  und  Ur- 
sprung alles  Erkennens  zeigt,  daß  vieles  theoretisch 
unrichtig  sein  kann  und  doch  praktisch  frucht- 
bar, wobei  praktisch  im  weiteren  Sinn  genommen  ist. 

Ein  solch  streitiger  Punlct  war  die  Frage,  ob  es  ur- 
sprünglich wirklich  Sprach  wurzeln  gegeben  habe,  ob 
die  Menschen  seinerzeit  eine  Periode  des  Sprechens 
gehabt  haben,  wo  nur  Wurzeln  existierten,  oder  ob 
diese  flexionslosen  Wurzeln  nur  Anhaltspunkte  für  die 
grammatische  Rechnung  seien.  Ähnlich  ist  es  mit  der 
Annahme  eines  vor  sprachlichen  Zustandes  des 
Menschen;  nach  den  einen  ist  dies  eine  berechtigte  Hypo- 
these, nach  anderen  ist  dies  eine  bloße  Fiktion,  um  die 
psychologische  Untersuchung  der  Menschen  zu  erleich- 
tern, da  die  Verhältnisse  hierbei  ungemein  verwickelter 
Natur  sind. 

Die  Produktion  solcher  Fiktionen  ist  in  letzter  Zeit 
sehr  stark  übertrieben  worden.  Indessen  sind  doch  auch 
brauchbare  Vorstellungsgebilde  darunter.  Hierher  gehört 
z.  B.  die  Fiktion  eines  einzelnen  Menschen- 
individuums, um  so  besser  lernen  zu  können,  wie  der 
Mensch  sich  sprachlich  oder  psychologisch  ent- 
wickelt. Auch  Wer  wird  ein  notwendiges  Element  negli- 
giert,  die  Gemeinschaft  mit  anderen  Menschen.  Hier 
sind  gleichzeitig  wirksame  Ursachen  als  zeitlich  nach- 
einander wirkend  gedacht,  um  so  durch  Isolierung 
des  einzelnen  ihre  Wirkungsweise  besser  beobachten 
zu  können.  Diese  Art  von  Behandlung  des  wissenschaft- 
lichen Materials  dient,  wie  bemerkt,  bald  rem  theoreti- 
schen, bald  mehr  oder  minder  praktischen  Zwecken. 

In  prinzipieller  Verwandtschaft  stehen  damit  auch  die 
Durchschnittsfiktionen,  d.  h.  solche  Fiktionen,  wo 
aus  einer  Menge  graduell  verschiedener  Erscheinungen 
das  Mittel  dieser  abweichenden  Grade  genom- 
men wird  und  als  Rechnungsansatz  dient.  Diese  Mittel 


Abstrakte  Fiktionen. 


23 


zahl  ist  eine  fingierte  Zahl,  mit  welcher  nur  gerechnet 
wird.  Besonders  in  der  angewandten  Mathematik  (u.  a. 
auch  in  der  Statistik,  sowie  in  der  Meteorologie  usw.) 
sind  diese  Methoden  sehr  üblich.  Auch  hier  werden  kleine 
Unterschiede  der  Wirklichkeit  negligiert.  Streng  durch- 
geführt, führen  solche  Fiktionen  auf  Wider- 
sprüche mit  der  Wirklichkeit.  Verwechslung  sol- 
cher Amialimen  und  Produkte,  welche  aus  diesen  Me- 
thoden hervorgehen,  mit  Hypothesen  ist  auch  bei  dieser 
Abart  nicht  selten,  jedoch  nicht  so  häufig,  wie  bei  den 
obengenannten  abstraktiven  Fiktionen. 

Eine  berühmte  Fiktion  der  Statistik  ist  der  homme  inoyen  von 
Quetelet,  d.  h.  die  Fiktion  eines  normalen  Durchschnitts- 
menschen. Diese  Fiktion  ist  aber  nicht  bloß  in  der  Statistik  von 
Wert:  auch  die  Medizin  fingiert  z.  B.  den  Begriff  eines  absolut  ge- 
sunden Menschen,  eines  Durchschnittsmenschen,  bei  dem  alle  ab- 
normen Abweichungen  aufgehoben  sind.  An  dieser  Stelle  sind  wolii 
auch  alle  diejenigen  willkürlichen  Bestimnnmgen  in  den  Wissen- 
schaften einzureihen,  wo,  wie  z.  B.  im  Meridian  von  Ferro,  oder 
z.  B.  in  der  Bestimmung  des  Nullgrades  oder  in  der  Aus- 
wahl des  Wassers  als  Maßstab  des  spezifischen  Gerichts  oder  der 
willkürlich  fixiert  werden,  von  denen  aus  nach  verschiedenen  Seiten 
hin  gleichsam  Koordinaten  gezogen  werden  zur  Bestimmung  und 
Einreihung  der  Erscheinungen. 

Himmelsbewegungen  als  Index  der  Zeit,  gewisse  Anhaltspunkte 
Noch  ist  zu  bemerken,  daß  das  ganze  begriffliche  klassifika- 
torische  System,  die  Unterscheidung  der  Begriffe  überhaupt  auf  Ab- 
straktionen einseitigster  Art  beruht,  wie  Lotze  in  seiner  Logik  sehr 
klar  ausführt.  Vgl.  Pfleiderer,  Der  moderne  Pessimismus,  pag.  81 : 
„Licht  und  Finsternis,  Schwarz  und  Weiß,  Leben  und  Tod  sind  lauter 
Kunstprod'u  kte  denkender  Abstraktion:  notwendig  in  dieser 
ihrer  Inkorrektheit  als  bloßer  Anhalt,  aber  in  der  Anwendung  aufs 
Wirkliche  stets  mit  bedachter  Vorsicht  zu  brauchen.“ 

Als  Abarten  der  bisher  geschilderten  Klasse  sind  nun 
noch  einige  Methoden  aufzuzählen:  so  die  Approxima- 
tionsmethode, wo  zuerst  eine  abstrakte  Lösung  für 
ein  Problem  aufgestellt  wird  und  dann  diese  Lösung  (ein 
Begriff,  eine  Zahl  usw.)  durch  Durchprobieren  und 
Experimentieren  allmählich  der  Wirklichkeit  immer  mehr 
akkommodiert  wird.  Diese  Methode  ist  besonders  in  den 
mathematischen  Wissenschaften  üblich,  wo  die  Kom- 
pliziertheit der  Aufgabe  eine  andere  Behandlung  nicht 
zuläßt.  Prinzipiell  sind  die  Versuchsmethoden  oder  ten- 
tativen  Fiktionen  von  den  neglektiven  nicht  ver- 
schieden. Die  Sokratisch-Platonische  Methode, 


24  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

Definitionen  zu  suchen,  indem  zuerst  eine  beliebige  vor- 
läufig fingiert  wird,  und  dann  diese  der  Wirklichkeit  all- 
mählich angenähert  wird,  ist  damit  prinzipiell  identisch. 


Kapitel  IIL 

Schematische,  paradigmatische,  utopische  und 
typische  Fiktionen. 

Schematische  Fiktionen.  Diese  Gattung  spielte 
schon  in  die  beiden  vorhergehenden  herein : sowohl  in  der 
Klassifikation  als  bei  den  abstraktiven  Fiktionen  werden 
Schemata,  allgemeine  Typen  auf  gestellt,  welche  nackt 
und  von  den  vielen,  die  Berechnung  hemmenden  Merk- 
malen der  Wirklichkeit  entkleidet  sind.  Indessen  bilden 
sie  doch  mit  Recht  hier  eine  eigene  Gattung.  Während 
bei  den  abstraktiven  Fiktionen  ein  gewisser  Teil  der 
Wirklichkeit  gleichsam  weggeschnitten  und  auf  die  Seite 
gelegt  wird,  und  nur  der  übrig  bleibende  berücksichtigt 
wird,  wird  bei  den  schematischen  Fiktionen  ein  Gerüste, 
sozusagen  das  Knochengerüste  eines  bestimmten  Kom- 
plexes herausgestellt,  und  an  diesem  nackten^  der  vollen 
Wirklichkeit  entkleideten  Bilde  wird  dann  die  Denkrech- 
nung vollzogen.  Die  Verschiebung  der  Wirklichkeit  ist 
aber  hier  schon  weiter  vorgeschritten  als  in  den  vorher- 
gehenden Gattungen.  Auch  hier  wird  ein  abstrakt-sub- 
jektives Vorstellungsgebilde  formiert,  um  an  ihm,  statit 
an  der  viel  verwickelteren  Wirklichkeit,  die  theoretische 
Berechnung  anzustellen.  Man  studiert  hier  die  Gesetze 
der  Wirklichkeit  gewissermaßen  an  einfacheren  Mo- 
dellen, welche  zwar  das  Wesentliche  des  Wirklichen 
enthalten,  aber  in  einer  viel  einfacheren  und  reineren 
Form.  Schon  die  schematischen  Zeichnungen  in 
vielen  Wissenschaften  geben  eine  Idee  von  dieser  Me- 
thode, welche  in  manchen  Wissenschaften  eine  ausge- 
breitete Anwendung  findet. 

Man  kann  diese  Formen  auch  die  Fildion  der  ein- 
fachen Fälle  nennen.  Das  typische  Beispiel  für  diese 
Gattung  ist  die  sogenannte  Thünensche  Idee,  eine 
nalionalökonomische  Fiktion,  deren  Aufstellung  im  An- 


Schematische,  paradigmatische,  utopische  und  typische  Fiktionen.  26 


fang  des  XIX.  Jahrhunderts  durch  Thünen  eine  Reform 
der  Nationalökonomie  herbeigeführt  hat.  Diese  Idee  ist 
auch  das  historisch  berühmteste  Beispiel  dieses  methodo- 
logischen Hilfsmittels.  Die  Idee  besteht  darin,  daß,  um 
die  landwirtschaftlichen  Verkehrsverhältnisse  usw.  besser 
berechnen  zu  können,  eine  Stadt  fingiert  wird^  um  welche 
sich  in  konzentrischen  Zonen  die  verschiedenen  Sphären 
lagern,  aus  denen  die  zur  Erhaltung  der  Stadt  notwen- 
digen Befriedigungsmittel  gezogen  werden.  Mit  Hilfe 
dieses  genialen  Kunstgriffes  werden  nun  alle  landwirt- 
schaftlich-nationalökonomischen Gesetze  systematisch  ab- 
geleitet. Diese  Art  von  Fiktionen  sind  gerade  in  der 
Nationalökonomie  sehr  verbreitet.  Die  schematische  Fik- 
tion eines  isolierten  Menschen,  einer  isolier- 
ten Stadt  (oder  Insel),  eines  isolierten  Staa- 
tes usw.  gehören  hierher.  Ferner  werden  ähnliche  Sche- 
mata auch  sonst  zur  Berechnung  und  Ableitung  theoreti- 
scher Gesetze  in  den  sozialen  Wissenschaften  überhaupt 
angewandt.  Besonders  Dühring  hat  sich  mit  großem 
Glücke  dieser  Methode  in  seinen  nationalökonomischen 
Schriften  bedient,  indem  durch  Fiktion  solcher  Schemata 
der  denkbar  einfachsten  Fälle  die  sozialen  Grundgesetze 
auf  ganz  einfache  Weise  deduktiv  abgeleitet  werden. 

Nahe  verwandt  mit  diesen  Formen  sind  die  para- 
digmatischen  Fiktionen  oder  fingierten  Fälle. 
Besonders  in  der  Beweisführung  werden  Fälle  fin- 
giert, an  denen  das  zu  Beweisende  als  vorhanden  nach- 
gewiesen wird. 

Diese  Methode  der  fingierten  Fälle  ist  eine  in  allen 
Wissenschaften  beliebte;  so  z.  B.  hat  sich  Locke  dieser 
Methode  bedient,  um  die  Entstehung  von  Substanznameii 
begreiflich  zu  machen.  Eine  besonders  häufige,  hierher 
gehörige  Gattung  sind  die  rhetorischen  Fiktionen, 
wo  eben  auch  zur  Beweisführung  Fälle  fingiert  werden. 

Als  eine  weitere  Gattung,  welche  aber  auch  als  eine 
besondereAbart  der  schematischen  Fiktionen  behandelt  wer- 
den könnte,  lassen  sich  die  utop i sehen  Fiktionen  be- 
trachten. Der  Name,  den  ich  dieser  Gattung  gebe,  rührt  her 
von  den  besonders  in  früheren  Jahrhunderten  so  beliebten 
Utopien  oder  Fiktionen,  wie  sie  z.  B.  Morus  und 
Campanella  aufstellten.  Auch  das  Platonische 


26  Elster  Teil;  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


Staats  ideal  ist  hier  als  das  historisch  erste  Beispiel 
dieser  Methode  zu  nennen.  Ebenso  gehört  liierher  die  be- 
sonders im  18.  Jahrhundert  beliebte,  noch  bei  Fichte 
wichtige  Fiktion  eines  Urstaates. 

Ferner  gehört  hierher  die  Idee  eines  Urgeistes  oder 
Weltgeistes,  wie  sie  z.  B.  Du  B o is-B.ey  mondin  seinem 
bekannten  Vortrag  i)  zur  Verdeutlichung  und  theoretischen 
Ableitung  einer  streng  wissenschaftlichen  Gedankenreilie 
mit  großem  Glück  anwaiidte.  Ferner  ist  die  Platonische 
Idee  eines  (hermaphroditischen)  Urmenschen  hier  zu 
erwähnen,  endlich  die  Fiktion  von  Urrechten,  Ur- 
r e 1 i g i o n e n , eines  Urvertrages,  der  Urtradition, 
und  eine  ganze  Reihe  ähnlicher  Gedanken,  welche  mehr 
oder  minder  von  Wert  sind  oder  waren.  Freilich  war 
gerade  hier  die  wissenschaftliche  Phantasie  oft  in  zügel- 
loser Weise  tätig.  Solange  aber  solche  PÜktionen  eben 
nur  als  das  gelten,  was  sie  sind,  und  nicht  für  Hypo- 
thesen ausgegeben  werden,  können  sie  der  Wissen- 
schaft oft  wirklich  erhebliche  Dienste  leisten. 

Als  eine  weitere,  mit  der  bisherigen  eng  zusammen- 
hängende Art  zähle  ich  die  typische  Fiktion  oder  die 
fingierte  Urform  auf.  Hier  wird  aus  einer  Reihe 
von  Wesen  ein  Art  b i 1 d , ein  Typus  gebildet,  aus  dem  nun 
nicht  nur  die  Gesetze  der  einzelnen  Wesen  allgemein 
abgeleitet  werden,  sondern  auch  die  Fülle  dieser  selbst 
als  Modifikationen  begriffen  wird.  Bei  dieser  Gattmig 
besonders  spielen  Fiktion  und  Hypothese  oft  wun- 
derlich ineinander.  Das  klassische  Beispiel  hierfür  ist 
für  uns  die  Idee  Goethes  von  der  Ur pflanze  und  dem 
Urtier.  Diese  Frage  hat  neuerdings  besonderes  Interesse 
gewoimen  durch  den  Dai’winismus.  Es  fragt  sich  erstens, 
wie  Goethe  die  Idee  der  „Urpflanze“  gemeint  hat,  ob 
als  Fiktion  oder  als  Hypothese,  zweitens,  ob  denn 
mm  nach  dem  heutigen  Stand  der  Wissenschaft  die 
historische  Existenz  einer  solchen  Urpflanze  anzu- 
nehmen sei,  und  ob  sogar  die  bloß  fiktive  Auf- 
stellung einer  solchen  Urform  noch  wissenschaftlich 
zweckdienlich  sei.  Charakteristisch  und  für  die  Theorie 
dieser  Fiktion  nicht  ohne  Bedeutung  ist  die  bekannte 


1)  über  die  Grenzen  des  Naturerkennens.  Leipzig  1872. 


Symbolische  Fiktionen. 


27 


Schi  Ile  rsche  Äußerung  hierüber:  „Diese  Urpflanze  ist 
nur  eine  Idee“,  womit  er  eben  in  Kantischer  Termino- 
logie sagte,  sie  sei  eine  ideale  oder  typische  Fiktion. 


Kapitel  IV. 

Symbolische  (analogische)  Fiktionen. 

Eine  weitere,  für  die  Wissenschaft  höchst  wichtige 
Gattung  nenne  ich  tropische  Fiktionen;  man  kami  sie 
auch  symbolische  oder  analogische  nennen.  Sie 
sind  nahe  verwandt  mit  den  poetischen  Gleichnissen, 
sowie  mit  dem  Mythus.  Bei  diesen  ist  der  Mechanismus 
des  Denkens  folgender:  Eine  neue  Anschauung  wird  apper- 
zipiert  von  einem  Vorstellungsgebilde,  in  dem  ein  ähn- 
liches Verhältnis,  eine  analoge  Proportion  ob- 
waltet, wie  in  der  beobachteten  Wahrnehmungsreihe.  In 
solchen  Fällen  bilden  Verhältnisse  die  apperzipie- 
rende  Macht.  Dies  ist  auch  zugleich  der  formale  Ur- 
sprung der  Poesie. 

Besonders  beliebt  sind  diese  Arten  Fiktionen  in  der 
wissenschaftlichen  Theologie.  An  der  Spitze 
dieser  Methode  steht  die  Schl  eie  r mach  er  sehe  An- 
wendung derselben.  Bei  der  ungeheueren  AVichtigkeit 
dieser  Methode  für  die  theologische  Wissenschaft  werden 
wir  auf  diesen  Fall  ganz  besonders  eingehen  müssen. 

Das  Eigentümliche  hierbei  ist,  daß  Schleiermacher  und 
mit  ihm  seine  Schule  die  meisten  Dogmen  als  solche 
analogischen  F iktionen  ansehen,  welche  eben  nur 
provisorische  Hilfsgebilde  sein  sollen,  weil  das  eigent- 
liche metaphysische  Verhältnis  uns  unfaßbar  bleibt.  So 
wird  also  z.  B.  das  Verhältnis  Gottes  zur  Welt,  das  für 
den  Philosophen  Schleiermacher  vollständig  unerkenn- 
bar ist,  von  dem  Theologen  Schleiermacher  nach  der 
Analogie  des  Vaters  zu  seinem  Kinde  auf  gef  aßt  usw.  Es 
ist  dies  keine  rationalistische  Umdeutung  der  Dogmen, 
sondern  eine  feine  erkenntnistheoretische  Wen- 
dung, ein  Kunstgriff,  durch  den  Schleiermacher  Tau- 
sende dem  Christentum  erhalten  hat.  „Gott“  ist  nicht 
„Vater“  der  Menschen,  aber  er  ist  so  zu  betrachten  und 


28  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzilhlung  d.  Fiktionen. 


ZU  behandeln,  als  ob  er  es  wäre;  diese  Wendung  hat 
dann  wieder  ungeheuere  Wichtigkeit  für  die  religiöse 
Praxis  und  den  Kult.  Durch  diese  Wendung  werden 
dann  durch  Schleiermacher  ähnlich  alle  Dogmen  aus 
Hypothesen  in  Fiktionen  verwandelt.  Wie  nahe 
indessen  diese  analogischen  Fiktionen  den  Mythen 
stehen,  wurde  schon  oben  ausgedrückt.  Durch  diese  Be- 
trachtungsweise wird  die  Schleiermachersche  Religions- 
philosophie methodologisch  richtig  gefaßt.  Schleiermacher 
selbst  war  sich  dieser  seiner  l^ünstlichen  und  kunstreichen 
Methode  wohl  bewußt,  ohne  daß  er  sie  jedoch  gerade  so 
bezeichnete,  wie  wir  es  hier  tun.  Wie  nahe  diese  Wen- 
dung mit  der  von  Schleiermacher  fleißig  studierten 
Kan  tischen  Philosophie  zusammenhängt,  liegt,  obwohl 
es  noch  nie  deutlich  hervorgehoben  worden  ist,  auf  der 
Hand,  wie  überhaupt  die  Kantische  Philosophie  auch  in 
der  Folge  für  unser  Thema  ein  hochbedeutsames  Interesse 
gewinnen  wird. 

Diese  analogische  Methode  ist  wie  in  der  Theologie  so 
in  der  Metaphysik  heimisch.  Die  Kategorien  sind 
solche  erkennt  nistheoretischenAnalogien.  Die 
Kategorien  sind  nur  analogische  Fiktionen;  so  werden 
sie  eingereiht  in  die  methodologische  Einteilung  und 
finden  hier  ihren  systematischen  Ort.  Nach  Analogie 
menschlicher,  subjektiver  Verhältnisse  wird  das  Wirk- 
liche gedacht,  und  muß  es  gedacht  werden.  Alle  Er- 
kenntnis kann,  wenn  sie  nicht  bloß  tatsächliche  Sukzes- 
sion und  Koexistenz  feststellt,  nur  analogisch  sein. 

Hier  zeigen  sich  die  Grundlinien  dessen,  was  man 
eine  Theorie  des  Begreifens,  eineKomprehensiorialtheorie 
nennen  kann.  Alles  Erkennen  ist  Apperzipieren  durch 
ein  anderes.  Es  handelt  sich  also  stets  um’  eine  Analogie 
beim  Begreifen.  Es  ist  auch  gar  nicht  abzusehen,  wie 
denn  überhaupt  das  Sein  anders  als  so  begriffen  werden 
sollte.  Wer  den  Mechanismus  des  Denkens  kennt,  weiß, 
daß  alles  Begreifen  und  Erkennen  auf  analogischen  Apper- 
zeptionen beruht.  Die  einzigen  Vorstellungsgebilde,  mit 
denen  die  gegebenen  Dinge  apperzipiert  werden  können, 
sind  entweder  die  entsprechenden  Allgemeinbegriffe  oder 
auch  andre  konkrete  Dinge.  Da  diese  aber  lediglich  selbst 
wieder  unbegreiflich  sind,  so  wird  mit  all  diesen  Ana- 


Symbolische  Fiktionen. 


29 


logien  nur  ein  Scheinbegreifen  erzeugt.  Aus  dem  Me- 
chanismus des  Denkens,  wie  ihn  besonders  Steinthal  auf- 
gedeckt hat,  folgt  eben  mit  absoluter  Sicherheit  dasselbe, 
was  Kant  erkenntnistheoretisch  mühselig  nachwies,  daß 
ein  Begreifen  der  Welt  absolut  unmöglich  sei,  nicht  weil 
unser  Denken  zu  eng  bemessen  ist  — dies  ist  eine  dog- 
matisch-schiefe Wendung  — , sondern  weil  eben  alles 
Begreifen  immer  nur  in  Kategorien  erfolgt,  welche  eben 
in  letzter  Linie  nur  analogische  Apperzeptionen  sind. 
Durch  diesen  wichtigen  Beweis  der  Unerkennbarkeit  und 
Unbegreiflichkeit  der  Welt  wird  dem  Begreifen  seine 
Richtung  klar  vorgezeichnet  und  allem  dogmatischen 
Grübeln  ein  Ende  gemacht.  Wir  gewinnen  auf  einem  ganz 
anderen  Wege  das  Resultat  der  Kantischen  Philosophie, 
daß  die  Kategorien  nicht  zum  Erfassen  der  Wirklichkeit 
tauglich  sind,  daß  sie  als  analogische  Fiktionen  keine 
wahre  Erkenntnis  gewähren  können. 

Die  Erkenntnis,  daß  die  Kategorien  nur  analogische  Fik- 
tionen seien,  ist  durch  Locke,  Leibniz,  Kant  u.  a. 
vorbereitet. 

Zu  bemerken  ist  insbesondere,  daß  auch  die  besonde- 
ren, im  XVIII.  Jahrhundert  der  Logik  angehängten  Er- 
örterungen über  symbolische  Erkenntnis  (ein  von 
Leibniz  eingeführter  Ausdruck)  eng  mit  dem  Gesagten 
Zusammenhängen. 

Besonders  sind  hier  Maimons  Erörterungen  lobend 
zu  erwähnen;  alle  diese  oft  sehr  scharfsinnigen  Er- 
örterungen des  XVIII.  Jahrhunderts  sind  vergessen  wor- 
den im  Taumel  der  absoluten  dogmatischen  Philosophie. 
Maimon  insbesondere  faßt  das  ganze  Ergebnis  der  Kanti- 
schen Philosophie  ganz  richtig  dahin  zusammen,  daß  nur 
symbolische  Erkenntnis  möglich  sei. 

Unter  denjenigen,  welche  die  symbolische  Erkenntnis  zum 
Gegenstand  der  Untersuchung  machten,  ist  Lambert  zu  nennen; 
unter  den  unmittelbaren  Vorgängern  Kants  ist  dieser  der  scharf- 
sinnigste, wie  unter  den  Nachfolgern  Maimon.  Lamberts  Orga- 
non enthält  im  II.  Teil  einen  ausführlichen  Abschnitt  über  die  sym- 
bolische Erkenntnis,  in  welchem  schon  viele  Resultate  Kants  ante- 
zipierl  sind.  Das  ganze  diskursive  Denken  ist  symbolisch  in  zwei- 
facher Hinsicht:  1.  insofern  es  mit  Symbolen  im  mathematischen 
Sinne  rechnet,  2.  insofern  alle  dadurch  gewonnene  Erkenntnis  nur 
eine  Art  Gleichnis,  Bild,  Gegenstück  des  Wirklichen  schafft,  nicht 
aber  dieses  selbst  erkennen  läßt,  wenigstens  nicht  in  adäquater 


30  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


Form.  Ein  Erkennen  des  Wirklichen  in  adäquater  Form  führt  auf 
den  Begriff  der  intuitiven  Erkenntnis  oder  intellektuellen  Anschauung 
also  wiederum  eines  fiktiven  Begriffes  von  methodischem,  aber 
nicht  von  objektivem  Wert. 

Man  hätte  auf  diesem  Wege  weitergehen  sollen:  so  hätte 
man  sich  das  Kantische  Resultat  rein  bewahrt;  freilich 
hatte  dieser  große  Philosoph  selbst  seine  ruhmreichen 
Entdeckungen  mit  den  Rettungsversuchen  abgelebter  ratio- 
nalistischer Dogmatik  befleckt  und  so  selbst  dazu  bei- 
getragen, daß  seine  richtigen  Resultate  begraben  und 
vergessen  wurden. 

Hier  sehen  wir  nun  sogleich,  wie  alle  logischen  Resul- 
tate zugleich  erkenntnistheoretische  Bedeutung  gewinnen. 
Indem  die  Kategorien  unter  den  Gesichtspunkt  ana- 
logischer Fiktionen  gerückt  werden,  erhält  die 
ganze  Erkenntnistheorie  ein  anderes  Ansehen.  Sie  sind 
damit  als  bloße  Vorstellungsgebilde  erkannt,  welche  zur 
Apperzeption  des  Gegebenen  dienen.  Dinge,  welche 
Eigenschaften  haben,  Ursachen,  welche  wirken,  sind 
Mythen. 

Man  kaim  nur  sagen,  daß  sich  die  objektiven  Er- 
scheinungen so  betrachten  lassen,  als  ob  sie  sich  so 
verhielten;  aber  nimmermehr  besteht  ein  Recht,  hier 
dogmatisch  aufzutreten  und  das  „als  ob“  in  ein  „daß“ 
zu  verwandeln. 

Sowie  nun  solche  Analogien  als  Hypothesen  auf- 
gefaßt werden,  so  entstehen  alle  jene  Systeme  in  Theo- 
logie und  Philosophie,  welche  die  dadurch  entstehenden 
Widersprüche  aufklären  wollen.  Welche  Mühe  und  Zeit 
hat  man  daran  verschwendet,  z.  B.  das  Vaterverhältnis 
Gottes  zu  Christus  klarzustellen;  und  wie  einfach  löst 
Schleiermacher  dies!  Noch  viel  näher  liegen  uns 
aber  jene  mannigfachen  Versuche,  die  Substanz  und  ihr 
Verhältnis  zu  ihren  Attributen  zu  bestimmen,  die  Ursache 
und  ihr  Verhältnis  zur  Wirkung  usw. 

Solche  analogischen  Fiktionen  sind  sehr  verbreitet  und 
auch  in  anderen  Wissenschaften  sehr  beliebt.  Sehr  häufig 
aber  erhebt  sich  die  wichtige  Frage,  wie  weit  eine  solche 
Analogie  „real“  sei,  wie  weit  sie  hypothetisch,  wie 
weit  sie  fiktiv  sei.  Diese  Frage  ist  z.  B.  wich- 
tig bei  der  neuerdings  so  beliebten  Analogie  des 


Symbolische  Fiktionen. 


31 


Staates  oder  einer  sozialen  Gesellschaft  mit  einem 
Organismus;  gerade  hier  bei  solchen  Fragen  macht 
sich  unter  den  Streitenden  der  Mangel  einer  logischen 
Theorie  dieser  Methode  sehr  unangenehm  fühlbar.  Selbst 
da,  wo  solche  Analogien  rein  fiktiv  sind,  wie  z.  B.  bei 
der  Vergleichung  der  Gesellschaft  mit  einem  mensch- 
lichen Organismus,  dienen  sie  doch  oft  zur  Ableitung 
richtiger  theoretischer  Gesetze. 

Dieselbe  Quelle  ist  aber  auch  der  Ursprung  vieler 
Irrtümer,  wo  dann  solche  Fiktionen  unvorsichtig  für 
reale  Analogien  genommen  und  die  so  abgeleiteten 
Gesetze  der  Wirklichkeit  ungeprüft  substituiert  werden. 
Der  Irrtum  entspringt  eben  ganz  genau  aus  denselben 
Ursachen,  wie  die  Wahrheit;  und  wie  in  der  Natur  die- 
selben blinden  Gesetze,  je  nach  den  Umständen,  Scha- 
den oder  Nutzen  bringen  — sie  sind  zweisclmeidig  — so 
auch  in  dem  Gebiete  des  Geistes,  wo  aus  denselben  Ge- 
setzen Gutes  und  Schlimmes  entspringt.  Die  Logik  hat 
um  so  mehr  auch  die  Aufgabe,  den  Irrtum  zu  erklären, 
als  die  Grenzen  zwischen  Irrtum  und  Wahrheit  keine 
scharfen  sind,  wie  ja  aus  dem  Vorhergegangenen  erhellt, 
indem  die  Anwendung  einer  Fiktion  halb  auf  Wahrheit, 
halb  auf  (absichtlichem)  Irrtum  beruhen  kann.  Die  Lo- 
giker des  XVIII.  Jahrhunderts  hielten  es  stets  für  ihre 
Pflicht,  auch  den  Irrtum  weitläufig  in  das  logische  System 
hereinzuziehen.  Es  ist  also  — wir  haben  schon  mehr- 
fach darauf  hingewiesen  — streng  zu  unterscheiden  zwi- 
schen realen  Analogien,  welche  aufzufinden  Sache 
der  Induktion  und  Hypothese  ist,  und  zwischen  bloß 
fiktiven  Analogien,  welche  bloß  Sache  der  sub- 
jektiven Methode  sind.  Daß  ich  also  zu  einer  Erschei- 
nung eine  andere  unmittelbar  und  notwendig  sukze- 
dierende,  und  antezedierende  aufsuche  — nach  dem 
Gesetz  der  Kausalität  — ist  Sache  einer  realen  Ana- 
logie; ich  habe  so  oft  bemerkt,  daß  jeder  Erscheinung 
andre  folgen  und  vorhergehen,  daß  ich  berechtigt  bin, 
den  Analogieschluß  zu  bilden,  daß  auch  bei  dieser  speziell 
vorliegenden  Erscheinung  dieser  Fall  zu  statuieren  sei. 
Daß  ich  aber  dieses  ganze  Verhältnis  der  unab- 
änderlichen Sukzession  „Ursache  und  Wirkung“  heiße 
und  mit  der  Kategorie  der  Kausalität  apperzipiere,  ist 


32  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A’  Aiifzählimg  d.  Fiktionen. 


Sache  einer  analogischen  Fiktion,  indem  zwar 
wohl  das  Verhältnis  des  Willens  zu  seiner  Handlung 
eine  reale  Analogie  mit  der  unabänderlichen  Sukzession 
ist,  nicht  aber  kann  ich  umgekehrt  die  Glieder  der  unab- 
änderlichen Sukzession  mit  Namen  aus  der  subjektiven 
Sphäre  bezeichnen;  real-anal.ogisch  ist  also  hier  die 
Form  der  Verhältnisse;  dagegen  eine  analogische 
Fiktion  ist  die  materielle  Gleichstellung  der  unab- 
änderlichen Sukzession  mit  der  Sukzession  der  Handlung 
auf  den  Willen. 


Kapitel  V. 

Juristische  Fiktionen. 

Eine  speziellere  Abart  der  vorigen  sind  die  juristi- 
schen Fiktionen.  Der  Name  der  Fiktionen  ist  bis 
jetzt  nirgends  besser  bekannt  als  in  der  Rechtswissen- 
schaft, wo  sie  ein  beliebtes  Kapitel  bilden.  Sie  sind 
prinzipiell  ganz  identisch  mit  den  vorigen.  Der  psycho- 
logische Mechanismus  ihrer  Anwendung  besteht  auch 
darin,  daß  ein  einzelner  Fall  unter  ein  für  ihn  nicht 
eigentlich  bestimmtes  Vorstellungsgebilde  subsumiert 
wird,  daß  also  die  Apperzeption  eine  bloß  analoge 
ist.  Der  Grund  dieser  Methode  ist  folgender:  Weil  die 
Gesetze  nicht  alle  einzelnen  Fälle  in  ihren  Formeln  um- 
fassen können,  so  werden  einzelne  besondere  Fälle  ab- 
normer Natur  so  betrachtet,  als  ob  sie  unter  jene  ge- 
hörten.- Oder  aus  irgendeinem  praktischen  Interesse  wird 
ein  einzelner  Fall  einem  allgemeinen  Begriff  subsumiert, 
dem  er  eigentlich  nicht  angehört.  Wer  mit  der  Methode 
der  Rechtswissenschaft  bekannt  ist,  kann  ermessen,  wie 
ungeheuer  wichtig  dieser  Kunstgriff  für  die  juristi- 
sche Praxis  ist;  er  ist  für  sie  ebenso  unentbehrlich, 
als  er  es  in  der  Mathematik  ist.  Freilich  haben  die 
Logiker  mit  einer  verschwindenden  Ausnahme  sich  dieses 
Beispiel  entgehen  lassen,  weil  sie  überhaupt  nicht  ein- 
sahen, daß  die  Logik  ihr  Material  aus  der  le- 
bendigen Wissenschaft  zu  entnehmen  habe. 
Neben  der  Mathematik  gibt  es  fast  kein  Gebiet,  das  zur 
Deduktion  logischer  Gesetze  und  Illustrierung 
öder  Entdeckung  logischer  Methoden  passender  wäre. 


juristische  Fiktionen. 


'6‘6 


als  das  Jus.  Dies  beruht  auf  einer  prinzipiellen  V^er- 
wandtschaft  beider  Gebiete.  Es  ist  eben  der  Reiz  und 
Nutzen  solcher  methodologischen  Betrachtungen,  zu  beob- 
achten, wie  die  Psyche  in  ganz  verschiedenen  Ge- 
bieten nach  einem  gleichen  Prinzip  verfährt. 
Es  ist  daher  nicht  merkwürdig,  sondern  natürlich,  daß 
auch  nur  in  der  Mathematik  und  im  Jus  bisher  diese 
Fiktionen  eine  ausgedehntere  theoretische  Behandlung, 
aber  meist  nur  von  Denkern  dieser  Wissenschaften  selbst, 
erfahren  haben.  Merkwürdig  ist  nur  die  Achtlosigkeit 
der  Logiker,  welche  diese  Gebiete  sich  entgehen  ließen. 
Der  apriorische  Weg  zur  Feststellung  der  Kunstregeln 
muß  notwendig  ergänzt  werden  durch  rein  induk- 
tive Beobachtung  des  logischen  Verfahrens 
in  den  Wissenschaften  selbst.  Nur  die  ganz  ge- 
naue Beschäftigung  mit  dem  Verfahren  der  einzelnen 
Wissenschaften  befähigt,  fruchtbare  logische  Regeln 
aufzustellen,  und  die  Aufstellungen  solcher  sind  denn 
auch  nur  von  solchen  ausgegangen,  welche  mit  den 
Spezialwissenschaften  in  ungewöhnlichem  Umfange  be- 
kannt waren,  von  Aristoteles  und  Baco.  Auch  die 
Logiker  Englands,  sowie  die  Deutschlands  im  XVIII.  Jahr- 
hundert haben  hierin  Bedeutendes  geleistet.  Nur  eine 
universalistische  Kemitnis  des  wissenschaftlichen  Ver- 
fahrens in  allen  Gebieten  ermöglicht,  logische  Entdeckun- 
gen zu  machen. 

Es  ist  interessant,  zu  sehen,  wie  die  scheinbar  so  ent- 
legenen juristischen  Fiktionen,  prinzipiell  ganz  identisch 
sind  mit  den  in  den  vorigen  Paragraphen  behandelten 
erkenntnistheoretischen. 

Das  straffe  Band,  welches  hier  die  Ordnung  bestimmt, 
ist  einzig  und  allein  die  Methode  und  ihr  Prinzip. 
Unsere  Einteilung,  so  sehr  es  scheinen  könnte,  als  wer- 
den hier  verschiedene  Dinge  zusammengeworfen,  wird  so- 
fort als  eine  prinzipielle,'  sehr  notwendig  gebotene  und 
richtige  erscheinen,  wenn  eben  der  Maß  stab  des 
methodologischen  Prinzip  es,  auf  das  es  hier 
einzig  und  allein  ankommt,  angelegt  wird.  Wir  wollen 
hier  nun  beobachten,  wie  die  logische  Funktion 
in  ganz  verschiedenen  Gebieten  immer  wieder  die- 
selben Kunstgriffe  anwendet. 

Vaihinger,  Philosophie. 


3 


34;  Erster  Teil:  Prinzipielle  Gnmdlegang.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

Die  fictiones  juris  sind  ein  weites  Gebiet.  Dafür  bieten 
sie  aber  auch  methodologisch  ein  äußerst  fruchtbares 
Material  und  enthüllen  den  wunderbaren  Mechanismus 
des  Denkens  und  seiner  Kunstgriffe.  Ein  Eingehen  auf 
juristisches  Detail  wird  hier  ebensowenig  zu  vermeiden 
sein,  wie  bei  der  Mathematik,  Nationalökonomie,  Theo- 
logie, Erkenntnistheorie  usw.;  die  Logik  hat  bisher  viel 
zu  Vv'enig  sich  auf  die  detailliertere  Analyse  ganzer  wissen- 
schaftlicher Gedankenreihen  und  Methoden  eingelassen. 
Nur  ein  liebevolles  Eingehen  auf  die  Wege  des  Denkens 
gibt  Aufschluß  über  die  Methode  der  logischen  Funktion 
und  der  oft  wunderbaren  Umwege,  welche  sie  einschlägt. 

Auch  in  der  fictio  juris  wird  etwas  Nicht-Geschehenes 
als  geschehen  oder  umgekehrt  betrachtet,  oder  es  wird 
ein  Fall  unter  ein  analoges  Verhältnis  gebracht  in  einer 
Weise,  die  der  Wirklichkeit  schroff  widerspricht.  Das 
römische  Recht  ist  ganz  davon  durchzogen;  unter  den 
neueren  Völkern  hat  die  juristische  Fiktion  besonders  in 
England  Fortbildung  erfahren. 

Ein  weiterer,  besonders  interessanter  Punkt  hierbei 
ist  das  Verhältnis  der  fictio  juris  zur  praesumtio  juris. 
Die  letztere  ist  die  juristische  Hypothese,  die  erstere  ist 
die  juristische  Fiktion;  auch  in  der  juristischen  Theorie 
und  Praxis  sind  beide  oft  verwechselt  worden,  und  ihre 
Distinktion  ist  ein  beliebtes  juristisches  Problem.  Die 
praesumtio  ist  eine  Vermutung,  die  fictio  ist  eine 
absichtliche,  eine  bewußte  Erfindung. 

Die  enormen  praktischen  Vorteile  dieser  Methode  sind 
ebenso  groß,  daß  sie  stets  wieder  angewandt  wird, 
z.  B.  im  neuen  deutschen  Handelsgesetzbuch  § 377  Ab- 
satz 2,  wo  die  Bestimmung  getroffen  ist,  daß  eine  nicht 
rechtzeitig  dem  Absender  wieder  zur  Verfügung  gestellte 
Ware  zu  betrachten  sei,  als  ob  sie  vom  Empfänger  de- 
finitiv genehmigt  und  akzeptiert  sei.  An  einem  solchen 
Beispiel  ist  so  recht  die  prinzipielle  Identität  der  ana- 
logischen Fiktionen,  z.  B.  der  Kategorien,  mit  dieser 
juristischen  Fiktion  zu  studieren. 

Bei  dem  Falle,  wo  die  Aimahme  der  Ware  durch  den 
Empfänger  genehmigt  ist,  ist  nämlich  das  Zeit  Ver- 
hältnis wichtig,  in  welchem  keine  Rücksendunng  und 
Remonstration  erfolgt.  Dieses  Verhältnis  wird  nun  als 


Personifikative  Fiktionen. 


35 


das  apperzipierende  aufgestellt  in  dem  ähnlichen  Fall, 
wo  ein  Empfänger  eine  Ware  zwar  nicht  akzeptieren 
will,  aber  die  rechtzeitige  Remonstration  versäumt;  hier 
wird  also  ein  reines  analoges  Zeitverhältnis  zwischen 
zwei  Fällen  zum  Grund  einer  sachlichen  Identifizierung 
des  Inhalts.  Diese  Methode  in  der  Rechtswissenschaft 
ist  ebenso  notwendig  zu  einer  fruchtbaren  Praxis,  als  in 
der  Erkenntnistheorie:  hier  wäre  die  Begreiflichkeit  un- 
möglich ohne  die  analoge  Apperzeption,  dort  die  prak- 
tische Behandlung  des  Falles.  Die  formale  Handlungs- 
weise der  Seele  in  diesen  beiden  Fällen  ist  total  iden- 
tisch; und  die  Einsicht  in  diese  formale  Identität  ist 
darum  wichtig,  weil  man  sich  so  schwer  daran  ge- 
wöhnt, den  Wert  der  beiden  Handlungsweisen  auch 
gleichzustellen:  der  praktische  Wert  ist  groß  und 
oft  unberechenbar;  theoretisch  ist  damit  nicht  bloß 
nichts  erreicht,  sondern  es  ist  auch  eine  Abweichung 
von  der  Wirklichkeit  vorgenommen  worden.  Ohne 
solche  Abweichungen  kann  das  Denlcen  seine  Zwecke 
nicht  erreichen;  und  das  ist  doch  auch  ganz  natürlich: 
denn  wie  sollte  denn  das  Denken  das  gegebene  Material 
behandeln  können  und  bearbeiten,  ohne  solche  Ab- 
weichung ? Gerade  die  Abweichung  erscheint  schließ- 
lich als  das  Naturgemäße;  es  ist  dringend  notAvendig, 
immer  wieder  auf  diesen  Umstand  acht  zu  geben  und 
aufmerksam  zu  machen.  Gewöhnlich  hat  man,  wie  schon 
oben  bemerkt,  die  entgegengesetzte  Ansicht  und  schreibt 
allen  logischen  Handlungen  so  lange  Realität  zu,  bis 
ihre  Unrealität  bewiesen  ist.  Unser  methodisches  Prinzip 
ist  umgekehrt.  Das  Auge  des  Philosophen  ist  geschärft 
für  die  ganz  gewaltigen  Differenzen,  welche  zwischen 
den  formalen  Verstandeshandlungen  des  Denkens  und 
zwischen  dem  Sein  und  Geschehen  der  Wirklichkeit  be- 
stehen. 


Kapitel  VI. 

Personifikative  Fiktionen. 

Eine  weitere  Abart  der  analogischen  Fiktionen,  welche 
aber  auch  eine  besondere  Behandlung  verdient,  sind  die 
personifikativen  Fikti  onen.  Die  Analogie,  unter  der 


Erater  Teil:  Prinzipielle  Gnindlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


hier  die  Erscheinungen  erfaßt  werden,  ist  die  Vorstel- 
lungsgruppe der  Person.  Die  vorige  Abart  war  eine 
Anwendung  der  analogischen  Fiktion  in  einem  spe- 
ziellen Gebiet;  hier  ist  es  eine  spezielle  Apperzep- 
tionsform, welche  wir  behandeln. 

Das  gemeinsame  Prinzip  ist  die  Hypostase  von 
Phänomenen  in  irgendeiner  Hinsicht,  mag  sich  diese 
Hypostasierung  nun  mehr  oder  weniger  an  das  Bild  der 
Persönlichkeit  anschließen.  Dieses  letztere  ist  auch  der 
eigentliche  bestimmende  Faktor  in  der  Kategorie  des 
„Dinges“.  Hierher  gehört  ferner  eine  ganze  Pteihe  wohl- 
bekaimter  Begriffe:  z.  B.  Seele,  Kraft,  Seelenver- 
mögen. Während  diese  Begriffsgebilde  früher  für  den 
Ausdruck  realer  Dinge  gegolten  haben,  sieht  man  nun 
dieselben  für  bloße  Abbreviaturen  an,  für  den  zusaminen- 
fassendeii  Ausdruck  einer  Reihe  von  zusammenhängen- 
den Phänomenen  und  Prozessen.  Ferner  gehören  hier- 
her alle  spezielleren  Kräfte,  z.  B.  S c h av  e r k r a f t , welche 
als  Kraft  NeAvton  selbst  nur  als  Fiktion  ansah;  die 
Phänomene  sind  natürlich  real,  aber  die  Zuschreibung  der- 
selben an  eine  Gravitations  kraft  ist  eben  nur  ein  zusam- 
menfassender Ausdmck  für  die  gesetzlichen  Phänomene. 

Ebenso  ist  es  mit  der  Lebenskraft  und  einer  großen 
Reihe  anderer  Kräfte.  Gerade  jene  galt  früher  allgemein 
als  eine  relativ  sichere  Hypothese,  jetzt  gilt  sie  fast 
ebenso  allgemein  bis  auf  einige  Theologen  und  theo- 
logische Naturforscher)  als  Fiktion.  So  äußert  sich 
auch  Li e big  in  seinen  „Reden  und  x^bhandlmigen“, 
die  unbekannten  Ursachen  seien  nur  Kinder  der  Ein- 
bildungskraft, so  z.  B.  der  spiritus  rector,  Brennstoff, 
Schallstoff,  katalytische  Kraft  der  Isomeren;  die  Lebens- 
kraft sei  eine  Erfindung  des  Geistes,  Gespenst  usw. 
Indessen  wird  das  Wort  als  Hilfswort,  als  summarische 
Zusammenfassung  noch  allgemein  gebraucht,  und  es  läßt 
sich  als  Nominalfiktion  (=  Hilfswort)  auch  wohl  nicht 
entbehren.  Weiter  aber  ist  die  Lebenskraft  nicht  mehr 
zu  gebrauchen,  darüber  hinaus  wird  sie  eine  schlechte 
Fiktion. 

Flier  sinkt  die  Fiktion  freilich  zu  der  bloßen  Nominal- 
fiktion  herab,  d.  h.  der  Begriff  hat  Aveiter  keinen  prak- 
tischen Wert  als  den,  der  Zusammenfassung  des  Vielen 


Personifikative  Fiktionen. 


37 


und  der  Erleichterung  der  Ausdrucksweise  zu  dienen. 
In  solchen  Worten  ist  eben  nichts  anderes  gesagt,  als  was 
die  einzelnen  Phänomene  selbst  sagen  können. 

Wenn  man  durch  solche  Worte  resp.  Begriffe  etwas  be- 
griffen zu  haben  glaubt  — eine  Naivität,  die  nicht  gar 
allzuferne  hinter  uns  liegt  — so  vergißt  man,  daß  dieses 
alles  nur  Tautologien  sind. 

Dasselbe  ist  auch  der  Fall,  wenn  man  glaubt,  die  unabänderliche 
Sukzession  begriffen  zu  haben,  wenn  man  sie  als  Kausalität  apper- 
zipiert:  das  ist  nur  eine  Tautologie;  Kausalität  ist  eine  analogische 
Fiktion  und  schließlich  rein  nur  ein  Wort;  wenigstens  heutzutage 
ist  dieser  Begriff  für  den  Philosophen  zu  einem  bloßen  Wort  herab- 
gesunken, während  man  früher  alles  als  begriffen  ansah,  Wenn  man 
es  unter  die  Kausalität  brachte.  So  ist  aber  schließlich  alles  soge- 
genannte Beweisen  und  Begreifen  nur  Tautologie. 

Als  solche  tautologischen  Nominalfiktioueii  sind  nun 
eine  Reihe  von  Begriffen  zu  betrachten;  z.  B.  faßt  die 
Chemie  eine  Reihe  von  Prozessen  unter  dem  Namen 
einer  „katalytischen  Kraft“  ziisamm.en,  der  sie 
eben  einstweilen  zugeschrieben  werden. 

Solcher  Begriffe  hat  besonders  das  XVllI.  Jahrhundert 
in  allen  Wissenschaften  viele  geschaffen;  damals  glaubte 
man,  damit  wirklich  etwas  begriffen  zu  haben;  aber  ein 
solches  Wort  ist  nur  eine  Schale,  welche  den  sach- 
lichen Kern  Zusammenhalten  und  aufbewahren  soll.  Und 
wie  die  Schale  in  allen  ihren  Formen  sich  dem  Kerne 
anschmiegt  und  ihn  einfach  verdoppelt  äußerlich  wieder- 
gibt, so  sind  auch  diese  Worte  oder  Begriffe  nur  Tauto- 
logien, welche  die  eigentliche  Sache  in  einem'  anderen 
Gewände  wiederholen.  Das  bekannteste  Beispiel  ist  ja 
hier  die  „vis  dormdtiva“;  überhaupt  ist  daran  zu 
eriimern,  daß  das  meiste,  was  man  nicht  bloß  im  ge- 
wöhnlichen Leben,  sondern  auch  in  der  Wissenschaft  Er- 
kenntnis heißt,  in  solchen  Schalen  besteht,  in  Begriffen, 
unter  welchen  das  faktisch  Gegebene  einfach  zusammen- 
gefaßt wird,  ohne  daß  sie  irgendeine  neue  Erkenntnis 
schüfen.  Eine  Lösung  des  sogenannten  Welträtsels  wird 
es  nie  geben,  weil  das  meiste,  was  uns  rätselhaft  er- 
scheint, von  uns  selbst  geschaffene  Widersprüche  sind, 
die  aus  der  spielenden  Beschäftigung  mit  den 
b 1 o ß e /I  Formen  und  Schalen  der  Erkenntnis 
entstehen. 


38  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen, 

Kapitel  VlI. 

Summatorische  Fiktionen. 

(Die  Allgemeinbegiiffe.) 

Die  eben  behandelten  Fiktionen  führen  uns  nun  zu 
den  Allgemeinbegriffen,  welche  im  allgemeinen  den- 
selben Dienst  leisten,  welchen  wir  die  vorigen  Fiktionen 
im  speziellen  leisten  sahen. 

Der  Dienst,  den  diese  Fiktionen  der  Seele  inid  ihren  logischen 
Operationen  leisten,  nähert  sich  immer  mehr  dem  Dienste  an,  den 
die  Sprache  imd  ihre  Worte  dem  Denken  leisten.  — Daß  die  All- 
gemeinbegriffe unter  allen  Fiktionen  zuerst  dem  gemeinsamen 
Schicksal  beinahe  aller  Fiktionen  anheimf allen,  liypostusiert  zu 
werden,  ist  bekannt. 

Wir  nannten  — streng  nominalistisch  — schon  oben 
die  Allgemeinbilder  und  Allgemeinbegriffe  Fiktionen,  da 
diese  künstlichen  Begriffsgebilde  dem  Denken  große 
Dienste  leisten.  Da  sie  indessen  immerhin  indirekt 
der  Wirklichkeit  entsprechen  und  eine  Reihe  gleichartiger 
Phänomene  zusammenfassen,  so  sind  sie  hier  unter  den 
vorläufigen  Vorstellungsgebilden  auf  gezählt,  welche 
als  zusammenfassende  Ausdrücke  einer  Reihe  einzelner 
Phänomene  substituiert  werden.  Die  Begriffe  und  sche- 
matischen Vorstellungen  sind  auch  solche  künstlichen 
Bildungen,  Vorstellungsknoten,  welche  das  Denken  zu 
mnemotechnischen  Zwecken  bildet.  Es  sind  das  rein 
summatorische  Fiktionen,  d.  h.  Ausdrücke,  in  denen 
eine  Summe  von  Phänomenen  nach  ihren  Hauptzügen 
zusammengefaßt  wird.  Insofern  diese  Ausdrücke  zugleich 
zu  Abbildern  real  sein  sollender  Dinge  gemacht  werden, 
sind  sie  auch  unter  die  personifikatorischen  zu  rechnen; 
oder  indem  nur  das  V/esentliche  festgehalten.  Unwesent- 
liches vernachlässigt  wird,  sind  sie  auch  als  abstraktive 
zu  bezeichnen.  Die  verschiedenen  Klassen  gehen  in- 
einander über. 


Kapitel  VIII. 

Heuristische  Fiktionen. 

Als  eine  weitere  Gattung  sind  noch  hervorzuheben  die 
heuristischen  Fiktionen.  Zwar  sind  mehrere  der 
bisherigen  Fiktionen  auch  zugleich  von  heuristischem 


Heuristische  Fiktionen. 


39 


Wert;  allein  gerade  diejenigen  Fiktionen,  welche  wir 
speziell  unter  diesem  Namen  hier  zusammenfassen,  sind 
ganz  besonders  heuristischen  Zwecken  gewidmet.  In 
den  bisherigen  Fiktionen  bestand  die  Ab  weich  ung  von 
der  Wirklichkeit  nur  in  einer  mehr  oder  weniger 
willkürlichen  Veränderung  derselben:  in  den  jetzt  zu  be- 
handelnden Fällen  wird  direkt  ein  ganz  Unwirkliches 
an  Stelle  des  Wirklichen  gesetzt.  Die  wichtigste  Bedin- 
gung hierbei  ist  jedoch,  daß  dieses  Vorstellungsgebilde 
noch  nicht  in  sich  selbst  widerspruchsvoll  sein 
darf,  wie  dies  bei  den  später  aufzuzählenden  Fiktionen 
der  Fall  ist:  es  darf  aber  ein  sich  nicht  in  der  Wirklich- 
keit findendes  Gebilde  sein,  das,  wenn  konsequent  durch- 
geführt, zu  Widersprüchen  mit  der  Wirklichkeit  führt. 
Zur  Erklärung  eines  Wirklichkeitskomplexes  werden  zu- 
nächst unwirkliche  Ursachen  angenommen,  deren  syste- 
matische Durchführung  aber  in  den  Phänomenen  nicht 
nur  bloß  Ordnung  schafft,  sondern  auch  die  richtige 
Lösung  der  Frage  vorbereitet  und  aus  diesem  Grunde 
heuristischen  Zwecken  dient.  Indessen  werden  solche 
Amiahmen,  soweit  sie  nicht  unter  die  bisherigen  Metho- 
den oder  unter  die  reine  Versuchsmethode  fallen  und 
insofern  tentativer  Natur  sind,  meistens  nicht  direkt  neu 
gemacht,  sondern  sie  entstehen  dann,  wenn  bisherige 
Hypothesen  sich  als  unzulänglich  und  falsch  erweisen; 
solche  abgedankten  Hypothesen  tun  aber  doch  noch  sehr 
oft  gute  praktisch-heuristische  Dienste.  Die  Geschichte 
der  Wissenschaften  enthält  mehrere  solcher  Fälle,  welche 
sehr  belehrender  Natur  sind.  So  ist  naclizuweiseri,  daß 
das  Ptolemäische  Weltsystem  schon  den  Arabern 
des  Mittelalters  nur  noch  als  Fiktion  galt,  nicht  als 
Hypothese.  Dasselbe  ist  mit  der  Kartesianischen  Wirbel- 
hypothese der  Fall,  welche  noch  im  XVIII.  Jahrhundert 
besonders  in  Frankreich,  als  Fiktion  fesigehalten  wurde, 
bei  welcher  Gelegenheit  auch  interessante  theoretische 
Eröiterungen  über  die  Methode  der  Hypothesen  und  Fik- 
tionen angestellt  wurden.  Dasselbe  ist  heutzutage  der 
Fall  mit  der  Äther hypothese,  welche  zur  Erklärung 
der  Lichterscheinungen  dienen  soll,  und  vielen  Natur- 
forschern nur  noch  als  Fiktion  gilt.  Alle  diese  abgedank- 
ten Hypothesen  tun  jetzt  als  Fiktionen  noch  ganz  gute 


40  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

praktische  und  heuristische  Dienste.  Hierher  gehört  auch 
ferner  die  teleologische  Hypothese,  welche  als  heu- 
ristische Fiktion  die  besten  Dienste  leistet,  während  sie 
theoretisch  wertlos  ist,  wenigstens  in  ihrer  früheren 
Gestalt. 

Die  Teleologie,  wenn  metaphysisch  und  hypothetisch  genommen, 
ist  allerdings  ein  „trauriger  Behelf“,  wie  Goethe  sich  ausdrückt 
über  die  Tendenz,  die  Dinge  nach  Endursachen  zu  erklären; 
dagegen  ist  die  Teleologie  ein  sehr  guter  Behelf  wenn  man  sie 
nur  heuristisch  anwendet  zum  Auffindenl  Vgl.  Kants  Kritik  der 
Urteilskraft.  Nach  Kant  ist  die  Teleologie  nur  em  modas  re- 
flexionis  (modus  dicendi),  eine  Nothilfe,  eine  Krücke,  bloß  regu- 
latives Prinzip,  subjektives  Hilfsprinzip. 

Eine  heuristische  Fiktion  ist  auch  das  Ideal  einer  „aufsteigen- 
den Reihe  von  Lebewesen.“ 

Die  früheren  geologischen  Perioden  werden  vielfach  nur 
noch  als  künstliche  Einteilungen  oder  „schematische“  Fik- 
tionen verwertet.  Man  sucht  auch  hier  nach  einem  natürlichen 
System  der  Erdschichten. 

Aufsehen  hat  es  gemacht,  daß  Neumann  auch  die 
Newtonschen  Gravitationsgesetze  für  solche 
Fiktionen  erklärt  hat. 

Es  besteht  überhaupt  in  der  modernen  Naturwissenschaft  die 
Tendenz,  bisher  als  fest  geltende  Hypothesen  zu  erschüttern  und 
zu  nützlichen  Fiktionen  zu  degradieren;  die  Ansicht  Neumanns  hat 
Nachfolger  gefunden,  indem  man  sagt,  die  Newtonschen  Gesetze 
seien  ohne  Berücksichtigung  des  Ätherwüderstandes  aufgestellt  und 
seien  nur  empirische  Gesetze.  Sobald  nun  solche  empirischen  Ge- 
setze als  eigentliche  Gesetze  ausgesprochen  und  vorgetragen 
werden,  und  man  mit  ihnen  rechnet,  als  ob  sie  wirklich  objek- 
tive Gesetze  wären,  werden  sie  zu  Fiktionen.  Vgl.  Wundt,  Auf- 
gabe der  Philosophie,  pag.  6 : „So  konnte  es  denn  nicht  fehlen, 
daß  man  alle  Hypothesen  über  den  letzten  Grund  der  physika- 
lischen Erscheinungen  als  bloße  Hilfsmittel  der  Veranschau- 
lichung oder  Rechnung  betrachtete  und  daher  kein  Arg 
daran  fand,  wenn  in  den  verschiedenen  Teilen  der  Naturlehre  die 
Hypothesen  über  die  Konstitution  der  Materie  wechselten.“ 

Neu  mann  nannte  auch  das  Gesetz  der  Erhaltung 
der  Kraft,  sowie  eine  Reihe  mathematischer  iVxiome 
und  Postulate  bloße  fiktive  ilnnahmen.  Auch  bei 
der  Bestreitung  aufgestellter  Hypothesen  endigt  eine  Kritik 
solcher  oft  dahin,  diese  Annahmen  zwar  nicht  als  Hypo- 
thesen, wohl  aber  als  heuristische  Fiktionen  gelten  zu 
lassen.  Besonders  ist  dies  der  Fall  bei  der  Bestreitung 
des  DaiAvinismus. 


Heuristische  Fiktionen. 


41 


Es  hängt  diese  theoretische,  methodologische  Frage 
enge  zusammen  mit  einem  Problem,  das  besonders  in 
England  eine  sehr  lebhafte  Bearbeitung  gefunden  hat. 
Newton  hat  nämlich  bekanntlich  in  seinen  methodolo- 
gischen Regeln  zwischen  causa  vera  und  causa  ficta 
unterschieden;  die  Erörterungen  über  diesen  nicht  ganz 
klaren  Unterschied  haben  gerade  den  von  uns  aufge- 
stellten Unterschied  berührt;  hierher  ist  auch  der  andere 
Newtonsche  Ausspruch:  hypotheses  non  fingo  zu  ziehen, 
der  bis  auf  unsere  Zeit  oft  Gegenstand  von  Erörterungen 
gewesen  ist ; man  hat  bekanntlich  stets  gegen  diesen 
Newtonschen  Satz  eingewandt,  Newton  habe  ja  selbst 
Hypothesen  aufgestellt.  Man  hat  hierbei  merkwürdiger- 
weise immer  übersehen,  daß  Newton  den  Ton  auf  „fingo'' 
legt,  nicht  auf  „hypotheses".  Selbst  Mi  11  und  Whe- 
well,  welche  jenen  Ausdruck  kommentierten,  haben  nicht 
bemerkt,  daß  Newton  nicht  davon  spricht,  daß  er  keine 
Hypothesen  machen  wolle,  sondern  daß  er  keine  Hypo- 
thesen fingieren  wolle. 

Newton  wendet  sich  in  diesem  Satz  gegen  die  zu  seiner  Zeit 
sehr  verbreitete  Liebhaberei,  ganz  willkürliche  und  phantastische 
Hypothesen  ohne  Verifikationsmöglichkeit  aufzustellen.  Dadurch 
entstand  jener  allbekannte  Degoüt  vieler  Naturforscher  tmd  Lo- 
giker gegen  die  Hypothesen  überhaupt.  Allein  bekanntlich  sind 
die  Hypothesen  unentbehrlich;  und  daß  es  auch  Fiktionen  gibt, 
welche  ebenso  berechtigt  als  nützlich  sind,  dies  wollen  wir  eben 
zeigen.  Freilich  'werden  wdr  auch  hier  auf  Schritt  und  Tritt  gegen 
schlechte  Fiktionen  ankämpfen  müssen,  wie  man  dort  gegen 
schlechte  Hypothesen  angekämpft  hat. 

Die  Newtonschen  theoretischen,  methodologischen  Re- 
geln sind  also  nicht  unangreifbar;  und  in  unserem  Sinne 
sind  fiktive  Annahmen  allerdings  erlaubt,  wenn  sie  nur 
mit  dem  Bewußtsein  aufgestellt  werden,  daß  sie 
eben  dies  sind  und  nicht  mehr;  sie  können  nichtsdesto- 
weniger große  Dienste  leisten.  In  diese  Klasse  gehören 
nun  noch  eine  Reihe  historisch  berühmter  Beispiele : 
z.  B.  Locke  verwertet  die  Kartesianische  Lebensgeister- 
Theorie  noch  als  eine  propädeutisch-heuristische  Fiktion. 
Die  Spinozistische  Annahme  eines  durchgängigen 
Parallelismus  der  psychischen  und  physi- 
schen Vorgänge,  welche  jetzt  so  viele  Anhänger  zählt, 
ist  unserer  Ansicht  nach  als  Hypothese  nicht  bloß  un- 


42  Erster  'feil : Prinzipielle  Gnindlegung.  A.  Aufzählung  il.  Fiktionen. 

haltbar,  sondern  auch  wertlos  — wogegen  sie  als  Fiktion 
geradezu  unschätzbare  Dienste  leistet. 

Neuere  Beispiele  dieser  Art  von  heuristischen  Fik- 
tionen lassen  sich  nicht  selten  finden:  z.  ß.  hat  Zöllner 
eine  solche  Fiktion  aufgestellt  in  seiner  bekannten  An- 
nahme, daß  die  Atome  oder  Massenpunkte  eines  Systems 
sich  so  bewegen,  „als  ob  sie  die  geringste  Unlust- 
summe produzieren  wollten“.  Meistens  indessen  sind 
diese  Fiktionen  ehemalige  Hypothesen,  welche  so  noch 
in  ihrem  invaliden  Zustande  doch  der  Wissenscliaft 
Dienste  leisten.  Es  ist  noch  eine  Frage,  ob  nicht  auch 
manche  als  Axiome  oder  Postulate  aufgestellten  Annah- 
men zu  Hypothesen  und  von  da  sogar  zu  Fiktionen  her- 
absinken könnten;  solche  allmählichen  Degradationen 
sind  ja  schon  oft  da  gewesen.  Selbst  in  der  Mathematik 
und  mathematischen  Physik  wird  jetzt  an  diesen  Pfeilern 
gerüttelt,  und  es  ist  nicht  unmöglich,  daß  auch  hier 
Elemente  als  fiktiv  entdeckt  werden,  die  bisher  als  axio- 
matisch  gegolten  haben. 


Kapitel  IX. 

Praktische  (ethische)  Fiktionen. 

An  diese  eben  behandelte  Fiktionenklasse  schließen 
wir  nun  eine  Reihe  anderer  an,  welche  wir  praktische 
Fiktionen  nennen.  Mit  dieser  Klasse  fallen  wir  frei- 
lich aus  unserer  Einteilung  heraus,  die  wir  im  folgenden 
auch  nicht  mehr  festhalten  können.  Es  beginnen  nun 
solche  Annahmen,  welche  nicht  nur  der  Wirklichkeit 
widersprechen,  sondern  auch  in  sich  widersprechend  sind. 
Diese  sind  nicht  auf  eine  der  bisherigen  Klassen  zurück- 
zuführen, nicht  allein  auf  Abstraktion  oder  auf  Analogie 
zu  reduzieren  — die  zwei  Hauptmomente  bei  der  Bil- 
dung von  Fiktionen  — sondern  bei  ihrer  ßildmig  haben 
verschiedene  Formen  zusammengewirkt.  Die  hier  zu  be- 
handelnden Begriffe  sind  so  verwickelter  Natur,  daß  sie 
nicht  unter  gleichlautende  formale  Rubriken  zu  bringen 
sind:  ihr  psychologischer  Bau  ist  sehr  kompliziert.  Zur 
Bildung  dieser  verwickelten  Begriffe,  welche  zugleich 


Praktische  (ethische)  Fiktionen.  43 

die  höchsten  Probleme  der  Wissenschaften  darstellen, 
haben  die  mannigfachsten  Seelenprozesse  beigetragen. 

Auf  der  ScliAvelle  dieser  Fiktionen  begegnet  uns  so- 
gleich einer  der  wichtigsten  Begriffe,  den  die  Menschheit 
gebildet  hat:  es  ist  der  Begriff  der  Freiheit;  die  mensch- 
lichen Handlungen  werden  als  freie  und  darum  als  ver- 
antwortliche betrachtet  und  dein  notwendigen  Natuiiauf 
gegenübergestellt.  Wir  brauchen  die  oft  aufgeführten 
iVntinomien,  welche  in  diesem  widerspruchsvollen  Be- 
griffe liegen,  an  dieser  Stelle  nicht  nochmals  zu  wieder- 
holen: der  Begriff  widerspricht  nicht  nur  der  beobach- 
teten Wirklichkeit,  in  der  alles  nach  miabänderlichen  Ge- 
setzen folgt,  sondern  auch  sich  selbst:  denn  eine  abso- 
lut freie,  zufällige  Handlung,  die  also  aus  nichts  erfolgt, 
ist  sittlich  gerade  so  wmrtlos  wie  eine  absolut  notwen- 
dige. Aller  dieser  Widersprüche  ungeachtet,  wenden  wir 
diesen  Begriff  nicht  nur  im  täglichen  Leben  bei  der  Be- 
urteilung der  moralischen  Handlungen  an,  sondern  er 
bildet  auch  die  Grundlage  des  ganzen  Kriminalrechtes : 
ohne  jene  Annahme  wäre  eine  Strafe  für  etwas  Getanes 
undenkbar  vom  sittlichen  Standpunkt  aus;  dann  ist  eben 
Strafe  nur  eine  Vorsichtsmaßregel,  um  die  anderen  vor 
dem  Verbrechen  zu  schützen.  Aber  auch  die  Beurteilung 
unserer  Nebenmenschen  hängt  so  vollkommen  von  diesem 
Begriffsgebilde  ab,  daß  wir  es  nicht  mehr  entbehren 
können:  die  Menschheit  hat  dieses  Avichtige  Begriffs- 
gebilde im  Laufe  der  EnUvicklmig  mit  immanenter  psychi- 
scher Notwendigkeit  gebildet,  weil  nur  auf  seiner  Grund- 
lage höhere  Kultur  und  Sittlichkeit  möglich  ist:  allein  das 
hindert  nicht,  einzusehen,  daß  dieses  Begriffsgebilde  selbst 
eine  logische  Monstrosität  ist,  daß  es  ein  Widerspruch 
ist,  kurz,  daß  es  nur  eine  Fiktion,  keine  Flypothese  ist.  Jahr- 
hunderte lang  hat  die  Freiheit  nicht  bloß  als  Hyp othese 
gegolten,  sondern  sogar  als  uniunstößliches  Dogma.  Dann 
sank  sie  zur  bestrittenen  Hypothese  herab : jetzt  wird 
sie  schon  häufig  als  eine  unumgängliche  Fiktion  ange- 
sehen. Es  hat  viel  Kampf  gekostet,  bis  man  auf  den 
heutigen,  freilich  lange  noch  nicht  allgemein  verbreiteten 
Standpunkt  sich  stellte,  daß  dem  Freiheitsbegriff  in  der 
Wirklichkeit  nichts  entspreche,  daß  er  aber  eine  für  die 
Praxis  höchst  notwendige  Fiktion  sei. 


44  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen 

Ähnliche  Anschauungen  vertritt  Hoppe,  „die  Zurech- 
nungsfähigkeit“ (Würzburg  1877).  ihm  fehlt  nur  das  Wort 
„Fiktion“  zu  unserer  Auffassung,  S.  32  sagt  er  über 
die  ideale  Zurechnungsfähigkeit:  iVbsolute  Willensfreiheit 
und  Zurechnungsfähigkeit  seien  eine  Unmöglichkeit; 
nichtsdestoweniger  müsse  man  den  idealen  Wunsch  der- 
selben jedem  gerne  gönnen,  denn  jeder  „falsche  Begriff“ 
habe  doch  den  Wert  eines  Ideals,  „in  dem  Maße  mithin, 
als  jemand  diese  ideal  gedachte  Zurechnungsfäiiigkeit 
haben  sollte,  wird  man  auch  bei  Vergehungen  ihn  beur- 
teilen“; „die  idealgefaßte  Zurechnungsfähigkeit  bew'ährt 
sich  nicht,  aber  trotz  alledem:  der  Mensch  will  die  ideale 
Fassung  der  Zurechnungsfähigkeit,  und  er  soll  und 
muß  sie  wollen“.  (Damit  kann  man,  wie  hier  von  uns 
hinzugefügt  ’werden  mag,  die  vollkommenen,  idealen 
Figuren  der  Mathematik  vergleichen:  z.  B.  ideale  Rund- 
heit gibt  es  nicht  in  der  Natur,  aber  der  Mathematiker 
verlangt,  daß  es  solche  geben  soll  und  rechnet,  als 
ob  es  solche  geben  würde;  so  ist  auch  nach  Hoppe 
doch  die  ideale  Zurechnungsfähigkeit  trotz  ihrer  Un- 
möglichkeit eine  berechtigte  Annahme.) 

Daraus  ergibt  sich  also  der  Schluß:  Wie  die  Wissen- 
schaft (speziell  die  Mathematik)  auf  Imaginäres  führt,  so 
führt  auch  das  Leben  auf  Unmögliches,  das  aber  darum 
doch  berechtigt  ist  - absolute  Zurechnungsfähigkeit,  ab- 
solute Freiheit,  Gutes  tun  um  seiner  selbst  willen  (absolut). 
Du  bist  Mensch  und  mußt  diese  edeln  Gefühle  haben  — 
so  befiehlt  der  Idealist  und  mit  ihm  die  Gesellschaft. 

Also  das  Imaginäre  (das  Abstrakte,  Ideelle)  hat  seine 
Berechtigung  trotz  seiner  Unwirklichkeit.  Oime  solches 
Imaginäre  sind  weder  Wissenschaft  noch  Leben  möglich 
in  höchster  Form.  Das  ist  eben  die  Tragik  des  Lebens, 
daß  die  weiivollsten  Begriffe,  realiter  genommen,  wertlos 
sind.  So  kehrt  sich  der  Wert  der  Realität  um.  Auch 
F.  A.  Lange  weist  darauf  hin,  daß  Ideal  und  Wirklich- 
keit ihre  Rolle  wechseln;  das  Ideale,  das  Unwirkliche  ist 
das  w^ertvollste : man  muß  „das  Unmögliche  fordern“; 
auch  wenn  es  auf  Widersprüche  führt. 

Daß  speziell  die  Idee  der  absoluten  Zurechnung  auf 
einen  Widerspruch  führt,  darauf  weist  auch  Hoppe 
a.  a.  0.  hin,  S.  52  ff. : „Die  absolute  Zurechnungsfähig- 


Praktische  (ethische)  Fiktionen. 


■4-5 


keit,  wie  die  absolute  Vollkommenheitsforderung  (nebst 
dem  kategorischen  Imperativ)  ist  nur  ein  Wunsch,  nur 
ein  ideelles  Begehren  nach  einem  Nicht  existierenden“, 
es  ist  „eine  ideale  Schaffung  der  Menschheit“ ; ib.  S.  86  ff. : 
„Freiheit  ist  nur  ein  Gedankending“,  aber  die  Menschheit 
muß  an  diesem  imaginären  Ideale  festhalten  wie  die 
Mathematiker  z.  B.  an  imaginären  idealen  Punkten  trotz 
ihres  inneren  Widerspruches. 

Eine  ähnliche  Stellung  nimmt  auch  Adolf  Steudel 
ein  in  seiner  „Philosophie  im  Umriß.  II.  Praktische 
Fragen  A:  Kritik  der  Sittenlchre“.  (Stuttgart,  Bonz  1877.) 
Steudel  widerlegt  ausführlich  die  Freiheitslehre,  meint 
aber,  daß  diese  theoretische  Widerlegung  der  Freiheits- 
lehre  die  Sittenlehre  nicht  alteriere,  und  sagt  ausdrück- 
lich S.  589:  „Man  lebe,  denke  und  handle,  als  ob  man 
vollkommen  freie  Gewalt  über  seine  Willensentschließun- 
gen  und  sein  Handeln  hätte,  das  Naturgesetz  wird  sich 
darum  nichtsdestoweniger  mit  Sicherheit  vollziehen.“ 

Es  ist  wichtig  und  belehrend,  zu  zeigen,  welche  ver- 
schiedene Form  dieser  Streit  häufig  angenommen  hat. 
Der  bekannte  Statistiker  Rümelin  in  Tübingen  hat  im 
Herbst  1876,  am  6.  November,  eine  Rede  gehalten:  Über 
einige  psychologische  Voraussetzungen  des 
Strafrechts.  Er  geht  davon  aus,  daß  die  Freiheit  und 
Verantwortlichkeit  eine  notwendige  Voraussetzung 
des  Strafrechts  seien  und  führt  das  dann  weiter  so  aus: 
die  Freiheit  sei  freilich  ein  angefochtener  Begriff;  aber 
man  muß,  meint  er,  bedenken,  daß  dann,  wenn  man  die 
Freiheit  theoretisch  leugne  und  doch  praktisch  zur 
Grundlage  des  Strafrechts  mache,  ein  unerträglicher  Zwie- 
spalt zwischen  Theorie  und  Praxis  entstehe.  Ihm 
kommt  ein  solcher  Zwiespalt  zweifelhaft  vor  nach  beiden 
Seiten  hin:  wenn  eine  Theorie  richtig  und  die  auf  sie 
gestützte  Praxis  falsch  sei  — so  müßte  es  unfruchlt- 
bare  Wahrheiten,  wenn  aber  die  Theorie  falsch 
und  die  darauf  gestützte  Praxis  richtig  sei  — , so  müßte 
es  fruchtbare  Irrtümer  geben.  Ist  dies,  fragt  unser 
Redner,  ^virklich  anzunehmen?  In  den  Naturwissen- 
schaften, meint  er,  wäre  diese  Frage  leicht  zu  beant- 
worten; da  gebe  es  Experimente  und  empirisch  geführte 
Beweise,  Schwieriger  sei  die  Beantwortung  dieser  Frage 


Erster  Teil:  Prinzipielle  Gnuullegimg.  A.  Aufzählung  fl.  Fiktionen- 


in  anderen  Gebieten,  und  so  auch  im  Rechtsleben.  Im 
Strafrecht  handelt  es  sich  um  den  Begriff  der  Zurech- 
nung, der  Willensfreiheit,  als  einer  notwendigen  sitt- 
lichen, psychologischen  Voraussetzung.  Denn  wenn  Strafe 
stattfinden  soll,  so  muß  auch  eine  Schuld  stattfinden. 
Diese  ist  aber  nicht  vorhanden,  wo  die  Zurechnung  und 
Freiheit  geleugnet  wird.  Der  Determinismus  in  seinen 
verschiedenen  Formen  hebe  diesen  Begriff  auf  und  suche 
die  Strafe  auf  andere  Weise  zu  rechtfertigen;  allein  die 
Abschreckungstheorie  sei  gegen  das  sittliche  Gefühl,  das 
im  Unrecht  eine  Schuld  erblickt  und  die  Strafe  als 
Sühne  und  Vergeltung  auf  faß  t.  Der  Strafrichter 
handle  notwendig  nach  folgenden  Voraussetzungen:  1.  er 
nimmt  die  Existenz  einer  Seele  an  als  eines  realen, 
iimeren  Ilerrschaftspunktes,  welcher  die  Triebe  und 
Handlungen  des  Älenschen  bestimme  und  also  seine  Wahl- 
freiheit ausmache;  2.  dem  Strafrichter  ist  der  Charakter 
nicht  eine  objektive  Macht,  welche  den  Willen  bestimmt, 
sondern  der  Charakter  ist  ein  Produkt  des  Willens ; 3.  er 
nehme  in  jedem  die  Existenz  eines  Gewissens,  eines 
Rechtsgefühls  an,  das  Bewußtsein  eines  sittlichen  Sol- 
lens,  dessen  Nichtbefolgung  Sühne  und  Vergeltung  er- 
heischt. Dies,  sagt  Rümelin,  sind  ganz  notwendige 
Voraussetzungen  des  Richters,  der  sicherlich  keinem 
Verbrecher  die  Berufung  auf  die  Notwendigkeit  seines 
Handelns  zugeben  wird.  Aber,  fragt  unser  Redner,  ist 
nun  aus  diesem'  Verfahren  des  Richters  in  der  strafrichter- 
lichen Praxis  auch  auf  die  Wahrheit  jener  theoretischen 
Sätze  ein  Schluß  zu  ziehen?  Rümelin  bejaht  das.  Es 
gelte  die  Einheit  von  Praxis  und  Theorie  zu  erweisen 
und  herzustellen;  es  gibt,  schließt  er,  keine  frucht- 
baren Irrtümer. 

Unsere  Antwort  auf  diese  Frage  hätte  natürlich  mn- 
gekehrt  gelautet.  Wohl  mag  es  bei  der  Betrachtung  des 
einzelnen  Begriffes  dem  Denker  schwer  fallen,  einen 
so  wichtigen  Begriff  für  eine  Fiktion  zu  erklären:  allein 
in  dem  großen  Zusammenhang  unserer  Untersuchung 
bildet  dieser  Begriff  nur  einen  kleinen  Bruchteil,  und  wo 
andere  noch  wichtigere  Begriffe  fallen,  da  kann  es  nicht 
schwer  sein,  auch  diesen  aus  einer  Hypothese  sich  in 
eine  Fiktion  verwandeln  zu  sehen. 


Praktische  (ethische)  Fiktionen. 


47 


Der  oben  mitgeteilte  Gedankengang  ist  so  recht  ein 
Typus  der  bisher  gewöhnlichen  Betrachtungsweise  und 
ein  Beispiel  des  logischen  Optimismus.  Freilich, 
das  geben  wir  zu,  der  Strafrichter  darf  nicht  erst  lange 
Meditationen  über  die  Freiheit  anstellen:  für  ihn  ist  sie 
ein  realgültiger  Begriff.  Allein  wenn  wir  auch  nicht  bloß 
zugeben,  sondern  sogar  selbst  fest  darauf  bestehen,  daß 
die  Freiheit  die  notwendige  Voraussetzung  der  Strafe 
sei,  so  müssen  wir  doch  daran  festhalten,  daß  „Voraus- 
setzung“ zweierlei  Bedeutungen  hat.  Es  kann  dies 
eine  Hypothese,  es  kann  aber  auch  ein  Postulat 
oder  eine  Fiktion  sein.  Es  gibt  allerdings  einen  Wider- 
spruch zwischen  Theorie  und  Praxis,  es  gibt  allerdings 
fruchtbare  Irrt ü me r.  Dies  will  freilich  der  logische 
Optimist  nicht  zugeben : allein  gegen  eine  Tatsache  kann 
man  sich  schließlich  nicht  sperren.  Die  Geschichte  der 
Menschheit  ist  voll  von  Beispielen,  daß  es  nicht  bloß  viele 
fruchtbare  Irrtümer  gegeben  hat  (man  nehme  nur  die 
Religionen),  sondern  auch  schädliche  Wahrheiten: 
der  Redner  selbst  drückte  sich  freilich  so  aus : „unfrucht- 
bare Wahrheiten“;  dieser  parallele  Ausdruck  mit  „frucht- 
baren Irrtümem“  verdunkelt  aber  seinen  eigenen  Ge- 
dankengang : den  fruchtbaren  Irrtümern  entsprechen  viel- 
mehr schädliche  Wahrheiten.  Damit  ist  freilich  der 
logische  Optimist  nicht  einverstanden,  dem  es  schon  in 
der  Jugend  eingepflanzt  war,  daß  das  Gute  auch  das 
Wahre  sei,  und  daß  die  Wahrheit  immer  gut  sei. 
Die  Einheit  von  Gut  und  Wahr  — dies  hat  schon  Lange  i) 
treffend  nachgewiesen  — ist  ein  Ideal.  Wir  sagen  statt 
Ideal  — Fiktion.  Denn  auch  alle  Ideale  sind  für  uns 
— logisch  gesprochen  — Fiktionen. 

Der  logische  Optimismus  kann  sich  freilich  nicht  daran 
gewöhnen,  daß  im  Gebiete  der  Wissenschaften  manches 
nur  ein  Rechenpfennig  ist,  was  der  gewöhnliche  JVIensch 
für  bare  Münze  nimmt.  Gerade  die  Grundlagen  mancher 
Wissenschaften  stehen  auf  schwachen  Füßen. 

Es  sei  noch  die  Bemerkung  hier  eingeschoben,  daß  die 
Behauptung  des  Redners,  in  den  Naturwissenschaften 
wäre  eine  solche  Frage  leichter  beantwortbar,  uns  nicht 


Geschichte  des  Materialismus,  2.  A.  TI,  498. 


Erster  Teil:  Frliizipielie  Gruiidlegiuig.  A.  Aafzäiiluiig  d.  Eiktioueii. 

richtig  erscheint:  es  werden  uns  — außer  den  schon 
angefühiien  naturwissenschaftlichen  Beispielen  — noch 
mehrere  naturwissenschaftliche  Begriffsgebilde  begegnen, 
bei  denen  wohl  auch  am  Ende  die  Theorie  ebenso  faul 
ist  als  die  Praxis  fruchtbar.  Gerade  viele  der  wich- 
tigsten und  fruchtbarsten  Begriffsgebilde  sind  voller 
Widersprüche. 

Unter  den  Neueren  hat  R.  Sey  del  in  seiner  Ethik  einen 
Ansatz  dazu  gemacht,  die  Freiheit  als  eine  Fiktion 
zu  fassen,  und  zwar  eben  als  eine  Fiktion  in  unserem 
Sinne  — nämlich  als  eine  zwar  widerspruchsvolle,  aber 
höchst  fruchtbare  mid  notwendige  Grundlage  der  Ethik^ 
nicht  in  dem  Sinne  eines  bloßen  Irrtums,  in  welchem 
Sinne  das  Wort  Fiktion  oft  gebraucht  wird. 

Ein  besonderes  Interesse  wird  die  Behandlung  abgeben, 
welche  Kant  diesem  Problem  angedeihen  ließ. 

Kant  war  vollständig  auf  dem  Weg,  die  Freiheit  als 
„Idee“,  d.  h.  als  Fiktion  anzusehen:  auch  war  die  Kon- 
zeption der  intelligihlen  Freiheit  zuerst  wohl  nur  als 
Fiktion  gedacht:  allein  der  reaktionäre  Zug,  den  man  auch  ' 
sonst  bei  Kant  findet,  bewog  ihn,  aus  der  Fiktion  doch 
wieder  eine  Hypothese  zu  machen,  welche  dann  natürlich 
von  den  Epigonen  vollends  in  ein  Dogma  verwandelt 
wird,  imd  die  sie  dann  als  solches  mit  Begeisterung  ver- 
breiten. Faktisch  hat  diese  Konzeption  aber  nur  Wert, 
wenn  sie  als  eine  zweckmäßige  Fiktion  behandelt  wird, 
wie  denn  alle  diese  Fiktionen  Betätigungen  der  orgaiii- 
nischen  Zwecktätigkeit  der  logischen  Funktion 
sind.  Dagegen  verbietet  die  logische  Paradoxie,  der 
Widerspruch,  der  in  diesem  Begriffe  enthalten  ist,  ihn 
als  eine  Hypothese  gelten  zu  lassen,  der  etwas  Ob- 
jektives entspräche.  Hierher  gehören  auch  teilweise  jene 
schon  unter  dem  Namen  „symbolische  Fiktionen“  zu- 
sammengefaßten BegriffsgelDÜde,  so  weit  sie  das  prak- 
tische Handeln  beeinflussen:  so  soll  nach  Kant  der 
Mensch  nicht  nur  in  seinem  Handeln  beurteilt  werden, 
als  ob  er  frei  wäre,  sondern  er  soll  auch  so  handeln, 
als  ob  er  einst  dafür  zur  Rechenschaft  gezogen  würde,  ja 
Kant  zwar  nicht  selbst,  aber  Schleiermacher  erlaubt 
sogar  das  Gebet  als  eine  praktische  Handlung,  so  lange 
nur  das  Bewußtsein  nicht  erlischt,  daß  es  so  zu  be- 


Praktische  (ethische)  Fiktionen. 


49 


trachten  sei,  a 1 s o b wirklich  ein  Gott  dasselbe  erhören 
würde.  Bekanntlich  enthält  aber  gerade  auch  der  Gebets- 
begriff Antimonien,  welche  seine  Objektivität  nicht  zii- 
lassen.  Im  Gebet,  wenigstens  innerhalb  des  Islams  und 
des  Christentums,  ist  ein  unlösbarer  Widerspruch  zwi- 
schen der  Allmacht  Gottes,  welcher  das  Gebet  erhören 
kami,  und  zwischen  seiner  alles  voraus  wissenden  Welt- 
regierung, abgesehen  noch  von  den  Widersprüchen,  in 
welche  sich  der  gewöhnliche  Gebetsbegriff  mit  den  Natur- 
gesetzen verwickelt. 

Unter  diese  Kategorie  der  praktischen  Fiktionen  sind 
noch  eine  Reihe  moralischer  Begriffe  und  Postu- 
lat e zu  zählen,  z.  B.  der  Begriff  der  Pflicht,  der  Un- 
sterblichkeit usw. 

über  die  Idee  der  Unsterblichkeit  vergleiche  man  besonders 
Biedermann,  Christliche  Dogmatik  § 949 — 973;  Biedermann  läßt 
diese  Idee  als  Fiktion  zu,  bekämpft  sie  aber  als  Hypothese  resp. 
als  Dogma:  eine  wahrhaft  edle  Seele  brauche  sie  nicht. 

Die  großartigste  Fiktion  dieser  Art  ist  die  „moralische  Welt- 
ordnung“. So  auch  die  unendliche  Vervollkommnung,  le  progres 
indMini  sowohl  beim  Individuum  (Leibniz)  als  in  der  Welt- 
’ geschichte. 

Richtig  urteilt  Mi  11  in  der  Schrift  über  den  Theismus:  „Die 
Ideen  von  Gott  und  Unsterblichkeit  sind  für  Kant  „Incitive“ : 
Anfeiierungs-,  Reiz-  oder  Erziehungsmittel;  das  ima- 
ginäre gute  Wesen“  ist  ihm  eine  Norm,  zu  der  wir  aufblicken. 

Es  hängt  dies  alles  enge  zusammen  mit  der  von  dem  Darwinis- 
mus so  genannten  Ausbildung  nützlicher  Illusionen  durch  die 
natürliche  Zuchtwahl,  was  besonders  Hellwalds  Kulturgeschichte 
sehr  lebhaft  betont. 

Also  gehören  hierher  alle  jene  im  gewöhnlichen  Leben 
sogenannten  „Ideale“,  welche  logisch  genommen  eben 
nur  Fiktionen  sind,  dagegen  praktisch  einen  ungeheuren 
welthistorischen  Wert  besitzen.  Das  Ideal  ist  eine  in  sich 
widerspruchsvolle  und  mit  der  Wirklichkeit  in  Wider- 
spruch stehende  Begriffsbildung,  welche  aber  ungeheuren 
weltüberwindenden  Wert  hat.'  Das  Ideal  ist  eine 
praktische  Fiktion. 

In  diesem  Satz  liegt  das  Prinzip  dessen  klar  ausge- 
sprochen, was  Lange  seinen  Standpunkt  des  Ideals 
nannte.  Ihm  mangelte  noch  die  logische  Termino- 
logie, mit  Hilfe  deren  wir  einfach  so  formulieren:  Die 
Ideale  sind  keine  Hypothesen;  dies  wären  sie,  wenn 

Vaihinger,  Philosophie.  4 


50  Erstei  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


sie  erreichbar  wären,  oder  wenn  sie  in  irgendeinem  Teil 
der  Welt  erreicht  worden  wären,  sondern  sie  sind  Fik- 
tionen. 

Wir  ziehen  in  den  Kreis  der  Fiktion  nicht  nur  gleich- 
gültige theoretische  Operationen  herein,  sondern  Begriff’s- 
gebilde,  welche  die  edelsten  Menschen  ersonnen  haben, 
an  denen  das  Herz  des  edleren  Teiles  der  Menschheit 
hängt,  und  welche  diese  sich  nicht  entreißen  läßt.  Wir 
wollen  das  auch  gar  nicht  tun  — als  praktische 
Fiktion  lassen  wir  das  alles  bestehen,  als  theore- 
tische Wahrheit  aber  stirbt  es  dahin. 

Der  so  oft  mißverstandene  Begriff  Langes,  der  Begriff 
der  Dichtung,  erweist  sich  von  hier  aus  als  ein  un- 
klarer Ausdruck  dessen,  was  wir  Fiktion  nennen.  Wir 
gehen  damit  auf  die  eigentliche  psychologische  Quelle  aller 
dieser  Gebilde  der  menschlichen  Einbildungskraft  zurück : 
wir  haben  die  gemeinsame  logische  Vers  Landesbehand- 
lung gefunden,  welche  sowohl  diesen  riesenhaften  Kon- 
zeptionen der  Menschheit  zugrunde  liegt,  als  ganz  indiffe- 
renten logischen  und  wissenschaftlichen  Methoden:  aus 
jenem  kleinen  logischen  Kunstgriff  — Begriffsgebilde  zu 
formieren,  welche  praktischen  Zwecken  dienen,  ohne  doch 
theoretisch  weiter  weilvoll  zu  sein  — entspringen  jene 
logischen  Methoden  ebenso  gut  als  die  wichtigsten  prak- 
tischen Begriffe  der  Menschheit.  Das  Gemeinsame  ist  aber 
der  ungeheure  praktische  Wert,  den  alle  diese 
Begriffsgebilde  haben,  während  ihnen  doch  keine  ob- 
jektive Wirklichkeit  entspricht. 

Der  logische  Optimist  wird  dieses  hier  in  wenige  Sätze 
gedrängte  Programm  für  niederschlagend  erklären:  wir 
können  an  dem  Ptesnltate  deshalb  doch  nichts  ändern.  Die 
Wissenschaft  geld  unbarmherzig  vorwärts.  Wem  solche 
Erkenntni s f ü r c h t e r 1 i c h erscheint,  wem  sie  eine  schäd- 
liche Wahrheit  ist,  wer  glaubt,  dadurch  seine  Ideale  als 
wertlos  wegwerfen  zu  müssen,  wer  sie  gar  darum  einfach 
wegwirft  — der  hat  eben  auch  nie  an  jenen  Idealen  mit 
aller  Macht  seiner  Seele  gehangen.  Wir  sprechen  hiermit 
zugleich  in  unserer  Terminologie  das  eigentliche  Prinzip 
der  Kantischen  Ethik  aus : die  eigentliche  Sittlichkeit 
ist  nur  dann  vorhanden,  wenn  sie  auf  einer  fiktiven 
Grundlage  ruht ; aber  alle  h y p o t h e t i s c h e n G r u n d - 


Praktische  (ethische)  Fiktionen. 


öl 


lagen  derselben:  Gott,  Unsterblichkeit,  Lohn, 
Strafe  usw.  — zerstören  ihren  sittlichen  Charakter:  d. h. 
wir  sollen  wohl  so  handeln,  als  ob  es  unsere  von  Gott 
auf  erlegte  Pflicht  wäre,  als  ob  wir  dafür  zur  Rechen- 
schaft gezogen  würden,  als  ob  wir  für  Unsittlichkeit 
bestraft  würden:  mit  derselben  Pünktlichkeit  und  mit 
demselben  Ernste.  Aber  sowie  dieses  Als  ob  sich  in  ein 
Weil  verwandelt,  hört  der  Charakter  der  reinen  Sittlich- 
keit auf,  und  es  ist  bloßes  niederes  und  gemeines  Inter- 
esse, bloßer  Egoismus. 

So  erweitert  sich  vor  unseren  Blicken  jener  kleine 
Kunstgriff  der  Psyche  zum  mächtigen  Quell  nicht  bloß 
der  ganzen  theoretischen  Weltanschauung  — denn  aus 
ihm  entspringen  ja  alle  Kategorien  — , sondern  auch  zum 
Ursprung  alles  idealen  Glaubens  und  Handelns  der 
Menschheit.  Man  schreibt  das  sonst  der  Einbildungs- 
kraft der  Menschen  zu:  allein  dies  ist  ebenso  wertlos, 
als  die  organischen  Prozesse  einer  „Lebenskraft“  zuzu- 
schreiben : es  handelt  sich  um  den  Nachweis  der  zugrunde 
liegenden  mechanischen  Prozesse.  Gemäß  rein  mechani- 
schen Gesetzen  des  Seelenlebens  haben  diese  Gebilde  eine 
ungeheuere  praktische  Wichtigkeit  und  spielen  eine 
unersetzliche  Vermittlerrolle;  ohne  sie  ist  die  Lust 
des  Begreifens  unmöglich,  ohne  sie  die  Ordnung  des 
chaotischen  Materials,  ohne  sie  ist  alle  höhere  Wissen- 
schaft unmöglich,  denn  sie  dienen  zur  Vermittlung,  Be- 
rechnung, Vorbereitung;  ohne  sie  ist  endlich  alle  höhere 
Sittlichkeit  unmöglich.  Trotz  dieser  enormen  Wichtigkeit 
jener  Funktion  sind  doch  ihre  Produkte,  eben  jene  Begriffs- 
gebilde, immer  nur  als  Fiktionen  zu  betrachten  ohne 
eine  entsprechende  Wirklichkeit,  als  freie  Vorstel- 
lungsgebilde, welche  aus  dem  mechanischen  Vorstel- 
lungsspiel mit  immanenter  Notwendigkeit  entstehen,  als 
Hilfsmittel  und  Organe,  welche  sich  die  zweck- 
tätig funktionierende  logische  Tätigkeit  zur  Erleichterung 
und  Vervollkommnung  ihrer  Arbeit  selbst  schafft,  mag 
sich  diese  Arbeit  auf  die  Wissenschaft  oder  auf  das 
Leben  beziehen.  Somit  ist  die  Phantasie  allerdings  „das 
Prinzip  des  Weltprozesses“,  aber  freilich  in  einem  anderen 
Sinn,  als  Frohschammer,  der  Verfasser  des'  gleich- 
namigen Buches,  meint. 


52  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  cl.  Fiktionen. 

Kapitel  X. 

Fiktive  Grundbegriffe  der  Mathematik. 

Als  ein  weiteres  besonderes  Gebiet  behandeln  wir 
ferner  die  mathematischen  Fiktionen.  Wir  haben 
schon  bemerkt,  daß  neben  der  Jurisprudenz  gerade  in 
der  Mathematik  bisher  die  Fiktionen  allein  zur  Geltung 
gekommen  sind.  Es  handelt  sich  in  beiden  Gebieten  oft 
darum,  einen  einzelnen  Fall  unter  ein  Allgemeineres 
zu  sulDSumieren,  dessen  Bestimmungen  nun  auf  jenes 
Einzelne  angewendet  werden  sollen.  Nun  aber  wider- 
strebt das  Einzelne  dieser  Subsumtion;  denn  das  All- 
gemeine ist  nicht  so  umfassend,  um  dieses  Einzelne 
unter  sich  zu  begreifen.  In  der  Mathematik  handelt 
es  sich  z.  B.  darum;  die  krummen  Linien  unter 
die  geraden  zu  subsumieren;  das  hat  ja  den  enormen 
Vorteil,  daim  mit  denselben  rechnen  zu  können.  In  der 
Jurisprudenz  handelt  es  sich  darum,  einen  einzelnen  Fall 
unter  ein  Gesetz  zu  bringen,  um  dessen  Wohltaten  oder 
Strafbestimmungen  auf  jenen  Fall  anzuwenden,  ln  beiden 
Fällen  wird  nun  dies  in  Wirklichkeit  nicht  herzustellende 
Verhältnis  als  hergestellt  betrachtet:  so  ^\drd  z.  B.  die 
krumme  Linie  als  gerade  betrachtet,  so  wird  der  Adoptiv- 
sohn als  wirklicher  Solm  betrachtet.  Faktisch  ist  aber 
beides  geradezu  unmöglich.  Eine  krumme  Linie  ist  nie- 
mals gerade,  ein  Adoptivsohn  ist  niemals  ein  wirklicher 
Sohn;  oder  um  andere  Beispiele  zu  wählen:  der  Kreis  soll 
als  eine  Ellipse  gedacht  werden;  in  der  Rechtswissen- 
schaft wird  der  nicht  erschienene  Beklagte  betrachtet, 
als  ob  er  die  Klage  zugestanden  habe,  wird  der  ein- 
gesetzte Erbe  im  Falle  der  Unwürdigkeit  betrachtet,  als 
ob  er  vor  dem  Erblasser  gestorben  sei. 

Die  Rechtswissenschaft  hat  es  bei  ihren  Fiktionen  in- 
dessen viel  leichter  als  die  Mathematik:  dort  sind  Fälle, 
denen  vdllkürliche  Gesetzesbestimmungen  gegenüber- 
stehen; da  ist  also  eine  Übertragung  leicht  möglich.  Man 
denkt  sich  die  Sache  eben  einfach  so,  als  ob  sie  so 
wäre.  In  der  Mathematik  setzt  aber  das  sprödere  i\Iate- 
rial  der  Raumverhältnisse  dieser  Mißhandlung  durch  den 
Kunstgriff  Widerstand  entgegen:  hier  weiß  sich  nun  die 
logische  Funktion  auf  eine  Weise  zu  behelfen,  die  dem 


Fiktive  Grundbegriffe  der  Mathematik. 


63 


logischen  Betrachter  entzückend  erscheint  in  ihrer  Genia- 
lität; dieser  Kunstgriff  ist  einer  der  merkwürdigsten,  den 
die  Psyche  erfand.  Jeder  Kenner  der  Mathematik  und 
ihrer  bewunderungswürdigen  Methodik  weiß,  daß  nun  die 
Psyche  in  jenen  Fällen  so  verfährt:  der  Kreis  wird  als 
eine  Ellipse  beti’achtet,  deren  beide  Brennpunkte  die 
Distanz  0 haben  (diese  ingeniöse  Methode  ist  eine  in 
der  Mathematik  sehr  beliebte);  bei  der  Subsumtion  der 
krurmnen  Linien  unter  die  geraden  wird  die  krumme 
Linie  als  aus  einer  unendlichen  Anzahl  gerader 
Linien  bestehend  betrachtet. 

Die  Grundbegriffe  der  Mathematik  sind  der  Raum, 
und  zwar  der  leere  Raum,  die  leere  Zeit,  der 
Punkt,  die  Linie,  die  Fläche,  und  zwar  Punkte 
ohneAusdehnung,  Linien  ohneBreite,  Flächen 
ohne  Tiefe,  Räume  ohne  Erfüllung.  Alle  diese 
Begriffe  s^'nd  widerspruchsvolle  Fiktionen:  die  Ma- 
thematik ruht  auf  einer  vollständig  imaginativen  Grund- 
lage, sogar  auf  Widersprüchen. 

Aus  diesen  mathematischen  Grundbegriffen  hat  die 
Psyche  eine  ganze  Wissenschaft  aufgebaut,  die  vielbewun- 
derte Mathematik.  Manchmal  kam  den  Mathematikern 
das  Bewußtsein,  daß  sie  mit  Widersprüchen  sich  be- 
fassen, aber  nie  oder  selten  hat  dies  tiefere,  theore- 
tische Erörterung  gefunden.  Die  offene  Anerkennung  die- 
ser Widersprüche  in  der  Mathematik  in  bezug  auf  die 
Gmndlagen  ist  für  den  Fortschritt  der  Wissenschaft  abso- 
lut notwendig  geworden:  die  oft  unternommenen  Ver- 
tuschungsversuche erwiesen  sich  als  fadenscheinig. 

Auch  die  Vorstellung  der  leeren  Zeit,  wie  sie  der  Mechanik  zu- 
grunde liegt,  als  eines  stehenden,  bleibenden  Gebildes,  einer  Form, 
wie  sie  auch  Kant  auf  faßt,  ist  eine  auf  abstraktivei*  und  ein- 
seitiger Isolierung  beruhende  Fiktion.  Es  ist  aber  einleuchtend, 
daß  der  leere  Ranm,  die  leere  Zeit  unentbehrliche  Fiktionen 
der  Mechanik  sowie  der  Erkenntnistheorie  sind. 

Daß  außerdem  „die  mathematischen  Idealkonzeptionen“,  welche 
„die  Wirklichkeit  anregt“,  .„der  sie  aber  nie  völlig  exakt  ent- 
sprechen“ — auch  nach  dieser  Seite  hin  also  fiktiv  sind,  ist  ein 
allgemein  angenommener  Satz : ein  reiner  Kreis,  eine  absolut 
gerade  Linie  usw.  sind  Ideale;  d.  h.  Fiktionen.  Laas  stellt  die 
absolute  Linie,  die  konstante  Geschwindigkeit,  die  Un- 
bedingtheit, die  Totalität,  die  Unendlichkeit,  das  Be- 


54  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

w’ußtseiii  überhaupt,  das  Ding  an  sich  als  Ideale,  d.  h. 
als  Fiktionen  zusammen. 

Speziell  sei  hingewiesen  auf  Michele ts  Naturphilosophie  § 174; 
schon  Platon  nenne  den  Punkt  ein  doyixa  yiuiutTQtxiv  im  Sinne  einer 
Fiktion,  Punkt  wie  „Atom“  sei  nur  ein  „Grenzbegriff“.  Die 
„Grenze“  selbst  ist  eine  fiktive  Annahnie,  wenn  man  sie  hypo- 
stasiert. 

Daß  die  Linie  aus  Punkten  besteht,  ist  auch  eine  mathema- 
tische Fiktion. 

Die  Philosophie  der  Alathematik,  speziell  bei  Michelet,  bietet 
hierzu  noch  viele  Beispiele.  Wenn  der  Kreis  als  Polygon  betrachtet 
wird,  so  ist  dies  eine  formale  Identifizierung  auf  Kosten  der  quali- 
tativen Differenz;  der  Kreis  wird  so  angesehen,  als  ob  er  ein  Poly- 
gon aus  unendlich  vielen,  unendlich  kleinen  Seiten  wäre. 

Daß  solche  Fiktionen  auf  Widersprüche  führen,  sieht  man  an 
den  Zenonischen  Schlüssen,  welche  darauf  beruhen,  daß  die  Fik- 
tion der  Raum-  mid  Zeitatome  (der  unendlich  kleinen  Raum-  und 
Zeitteile)  ernst  genommen  und  in  Wirklichkeit  verwandelt  wird. 
Die  Fiktion  wird  zur  Hypothese  und  daraus  folgen  die  krassesten 
AVidersprüche. 

Die  Mathematiker  machen  solche  Fiktionen  gerne,  um  die  Wuk- 
lichkeit  besser  bereclmen  zu  können;  z.  B.  die  Fiktion  „einer  un- 
endlich düimen  Schale,  ellipsoidisch,  von  zwei  ähnlichen  Flächen 
begrenzt“;  oder  die  „Fiktion  einer  unendlich  dünnen  Schicht“. 

Der  leere  Raum  ist  eine  rein  mathematische  Fiktion, 
und  doch  geht  alle  wissenschaftliche  Erkenntnis  darauf 
aus,  die  Weltprozesse  auf  AtombeAvegungen  im  leeren 
Ramn  zu  reduzieren.  Daß  auch  das  Atom  eine  Fiktion 
sei,  in  jeglicher  Gestalt,  antizipieren  wir,  um  einen  wich- 
tigen Gedanken  hier  schon  aussprechen  zu  können:  die 
Reduktion  alles  Geschehenden  auf  Atombewegungen  im 
Raume,  das  Ziel  aller  Wissenschaft,  ist  faktisch  das 
Bestreben,  alles  Geschehen  und  Sein  auf  Vorstellungs- 
gebilde zu  reduzieren,  welche  rein  fiktiver  Natur 
sind. 

Das  Begreifen  besteht  in  der  Reduktion  auf  bekannte 
Vorstellungsgebilde:  der  leere  Raum  und  das  körper- 
lich gedachte  Atom  sind  scheinbar  bekannte  Vorstel- 
lungsgebilde — faktisch  sind  sie  nur  Fiktionen.  Ist  es 
aber  gelungen,  alles  hierauf  zu  reduzieren,  so  scheint 
die  Welt  begriffen.  Sie  scheint  es! 

Denn  jene  apperzipierenden  Vorstellungsgebilde  sind 
Fiktionen,  sind  Produkte  der  Einbildungskraft.  Alles  Ge- 
schehen wird  auf  diesen  uns  bekannten  Maßstab  ge- 
bracht, und  wie  Reduktionen  aus  einem  Maßsystem  in  das 


Fiktive  Grutidbegriffe  der  Mathematik. 


55 


andere,  z.  B.  in  das  Metersystem  nicht  ohne  Brüche  ab- 
gehen, so  auch  hier  nicht  diese  ungeheure  Reduktion  auf 
das  uns  bekannt  scheinende  Vorstellungsgebilde. 

Die  ungeheure  Arbeit  der  modernen  Wissenschaft  redu- 
ziert also  alles  Geschehen,  das  in  letzter  Linie  absolut 
unbegreiflich  ist,  auf  einen  ganz  subjektiven  Maßstab, 
der  eine  reine  Fiktion  ist. 

Jetzt  erscheint  uns  erst  das  Verständnis  für  die  volle 
Bedeutung  ICants  aufzugehen.  Nach  ihm  ist  ja  der  Raum 
subjektiv  und  alles  v/irkliche  Sein  unbekannt.  Die  Kan-- 
tischen  Beweise  hierfür  sind  unzulänglich:  der  einzig 
richtige  Beweis,  der  stichhaltig  ist,  ist  folgender:  Der 
Raum  ist  ein  subjektives  Vorstellungsgebilde,  weil  er 
voller  Widersprüche  ist:  es  ist  ein  Merkmal  aller 
echten  Fiktionen,  Widersprüche  zu  enthalten:  der  Begriff 
des  Raumes  ist  ein  Nest  von  Widersprüchen.  Das  Vor- 
stellungsgebilde des  Raumes  hat  die  Psyche  erfunden, 
formiert,  um  in  ihn  das  ihr  gegebene  Geschehen  — die 
chaotische  und  widerspruchsvolle  Masse  der  Empfindun- 
gen — zu  ordnen.  Der  Raum  ist  ein  uns  allmählich 
ganz  bekannt  und  vertraut  gewordenes  Vorstellungs- 
gebilde,  das  uns  durch  Gewohnheit  wirklich  und  ganz 
harmlos  erscheint:  faktisch  ist  dieser  Begriff  voller  Wider- 
sprüche. Das  kosmische  Geschehen  hat  in  der 
Psyche  diesen  Begriff  des  tr  idirnen  si  o nären 
Raums  b e r v o r g e t r i e b e n , um  den  Schein  des 
Begreifens  zu  erzeugen.  Das  wirkliche  Geschehen 
ist  uns  mifaßbar:  aber  dasselbe  wird  in  diesen  Raum 
hineinprojiziert. 

Man  hat  nun  neuerdings  versucht,  jene  Wider- 
sprüche durch  Erfindung  künstlicher  Ptäume  zu  lösen: 
allein  das  führt  immer  zu  denselben  Widersprüchen: 
übrigens  beruht  die  Vorstellung  solcher  Räume  mit  n-Di- 
mensionen  auf  einem  neuen  Kunstgriff  des  Denkens, 
indem  einfach  viel  allgemeinere  Gebilde  erdacht  werden, 
als  wirklich  gegeben  sind. 


56  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

Kapitel  XL 

Die  Methode  der  abstrakten  Verallgemeinerung. 

Die  Methode  der  abstrakten  Verallgemeinern ng 
ist  ein  weiterer  genialer  Kunstgriff  des  Denkens,  der  aber 
auch  nicht  ohne  Widersprüche  abgeht.  Sein  Wert  be- 
steht darin,  daß  die  Erdichtung  viel  allgemeinerer  Ver- 
hältnisse die  Durcharbeitung  der  speziellen  wirklich  ge- 
gebenen erleichtert. 

In  der  Mathematik  wird  der  Raum  mit  drei  Dimen- 
sionen als  ein  Spezial  fall  gedacht,  da  ja  auch 
mehr  als  drei  Dimensionen  abstrakt  denkbar  sind: 
durch  die  Bildung  solcher  Räume,  solcher  Begriffsgebilde, 
die  aber  widerspruchsvoll  sind,  ist  es  nun  ermöglicht, 
das  einzelne  schärfer  in  seinen  Verhältnissen  zu  er- 
fassen. 

Diese  Fiktion  hat  viele  Gegner,  u.  a.  Dühriiig,  der  diese  Vor- 
stellung mystisch  nennt.  (Der  Vorwurf  des  Mystizismus  kehrt 
wieder  bekanntlich  beim  Atom,  Differential , Ding  an  sich,  Kraft,-  — 
kurz  bei  allen  Fiktionen.)  Mystisch  sind  solche  Vorstellungen  nur, 
wemi  man  in  ihnen  Hypothesen  sieht;  aber  als  bewußte  Fik- 
tionen sind  sie  wertvoll.  Wir  haben  also  die  Fiktion  nicht  bloß 
von  der  Hypothese  zu  unterscheiden,  sondern  auch  gegen  ihre  Ver- 
ächter zu  schützen.  Allein  die  Verachtung  rührt  doch  teilweise  oder 
meistens  nur  daher,  daß  man  solche  Fiktionen  für  Hypothesen  hält. 

Laas  wirft  solchen  Fiktionen  vor,  sie  seien  gewaltsam  und  gefähr- 
lich. Gewaltsamkeit  und  Gefährlichkeit  ist  das  gemeinsame  Merk- 
mal aller  Fiktionen;  auch  die  Unanschaulichkeit,  welche  hier  sich 
zum  Widerspruch  steigert,  ist  Merkmal  solcher  Fiktionen;  mit 
Recht  fügt  aber  Laas  die  Rechnungsergiebigkeit  zu.  Mit  die- 
sem treffenden  Ausdruck  ist  das  Wesen  der  Fiktion  gut  bezeichnet. 
Eine  andere  Frage  ist,  ob  die  Fiktion  eines  Raumes  mit  mehr  als 
drei  Dimensionen  wirklich  w^ertvoll  sei?  Das  Kriterium  einer  guten 
Fiktion  ist  bloß  die  praktische ,, Rechnungsergiebigkeit“.  Die  fiktive 
Möglichkeit  von  Räumen  mit  mehr  als  3 Dimensionen  ist  nim- 
meimehr  zu  verwechseln  mit  der  hypothetischen  Möglichkeit. 

Die  abstrakte  Verallgemeinernng  ist  ein  Produkt  der  viel 
freieren  Stellung,  welche  die  jetzige  Menschheit  den  Din- 
gen gegenüber  einnimmt;  sie  beruht  aber  einzig  und 
allein  darauf,  daß  die  gegebenen  Spezialfälle  selbst  nur 
Produkte  der  Einbildungskraft  sind,  und  sie  ist  auch  nur 
da  anwendbar,  wo  dies  der  Fall  ist.  Alle  diese  Spezial- 
fälle sind  von  der  vorwissenschaftlichen  Periode  instink- 
tiv hervorgebracht  worden:  nun  denkt  sich  das  wissen- 


Die  Methode  der  abstrakten  Verallgemeinerung.  57 

schaftliche  Denken  vermöge  derselben  Einbildungskraft, 
durch  welche  jene  primären  Produkte  geschaffen  worden 
sind,  andere  allgemeinere  Fälle,  welche  abstrakt  denk- 
bar sind;  also  z.  B.  einen  Raum  mit  n-Dimensionen.  In- 
dem man  nun  erforscht,  warum  der  Spezialfall,  den 
man  vor  sich  hat,  also  z.  B,  der  Raum  mit  drei  Dimen- 
sionen übrig  geblieben  und  gewählt  worden  ist,  findet 
man  die  Ursachen  und  Motive,  welche  das  Denken  hei 
seiner  Bildung  geleitet  haben:  er  ist  den  Gegenständen 
am  besten  angepaßt,  kurz,  er  ist  der  einzig  übrig  ge- 
bliebene Fall  aus  einer  Reihe  anderer  möglicher  und  ist 
durch  Selektion  als  der  passendste  erwiesen  worden. 

Nun  erst  sehen  wir  den  Nutzen  der  Verallgemeinerung 
vollständig  ein.  Diese  Verallgemeinerung  nimmt  die  Be- 
standteile des  Seienden  selbst  auseinander  und  legt 
sie  in  viel  allgemeinerer  Weise  wieder  zu- 
sammen und  findet  die  vielen  Möglichkeiten,  welche 
noch  — möglich  gewesen  wären:  nun  werden  die  Ge- 
setze der ' compossibilitas  (im  Sinne  von  Leibniz)  stu- 
diert, und  dadurch  wird  das  Einzelne  viel  tiefer  erkannt. 

Ein  Beispiel  dieser  abstrakten  Verallgemeinerung  ist 
etwa  die  Idee  eines  Weltgeistes,  dem  alle  kosmischen 
Bewegungen  bekannt  wären. 

Diese  Methode  der  abstrakten  Verallgemeinerung  ist 
einer  der  genialsten  Kunstgriffe  des  Denkens : man  wendet 
ihn  in  allen  Gebieten  an  und  denkt  das  Bestehende,  Ein- 
zelne, allgemein  genommen  als  Spezialfall  vieler  anderer 
Möglichkeiten.  Dieser  Kunstgriff  ist  nicht  nur  das  Prinzip 
des  wissenschaftlichen  Fortschrittes,  sondern  auch  des 
ganzen  praktischen  Fortschrittes  der  Menschheit.  Die 
großen  Reformatoren  des  sozialen  Lebens  denken  sich 
stets  das  Bestehende  als  einen  Spezialfall  unter  vielen 
Möglichkeiten. 

Auf  dieseWeise  entstehen  leicht  chimärischeVorstellungs- 
gebilde.  Aber  andererseits  ist  die  Einsicht,  daß  auch  in 
der  Wissenschaft  die  Imagination  eine  große  Rolle  spiele, 
einer  der  Hauptforl schritte  der  modernen  Erkenntnis- 
theorie: in  diesem  Sinne  hat  Kant  mit  Recht  und  mit 
Bedacht  von  der  „transzendentalen  Einbildungskraft“ 
gesprochen.  Diese  Einsicht  hat  man  neuerdings  von  der 
der  Philosophie  auch  auf  andere  Wissenschaften  über- 


58  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktioiißßr^  ' 


tragen,  freilich  niemals  in  dem  Maßstabe,  in  weichein 
es  hier  geschehen  ist,  wo  so  viele  Grundbegriffe  für 
fiktiv  erklärt  werden^  d.  h.  für  Produkte  der  Einbildungs- 
kraft, des  freien  Schaffens  der  Psyche,  welche  dabei 
indessen  immerhin  an  die  gegebenen  Sukzessionen  und 
Koexistenzen  des  Empfindungsmaterials  gebunden  ist. 
Wenn  die  Bildung  von  Fiktionen  wertvoll  sein  soll,  so 
muß  man  eben  stets  wieder  von  ihnen  aus  zum  Ge- 
gebenen den  Weg  hinabfinden  können. 


Kapitel  XIL 

Die  Methode  der  unberechtigten  Übertragung. 

Mit  den  bisher  aufgeführten  sind  die  mathenmtischen 
Fiktionen  resp.  die  darauf  bezüglichen  Methoden  nicht 
erschöpft.  Insbesondere  die  Methode  der  unberech- 
tigten Übertragung,  wie  ich  sie  nennen  möchte, 
von  der  wir  oben  Beispiele  hatten  (Subsumtion  des  Krum- 
men unter  das  Gerade,  des  Kreises  unter  die  Ellijiseii- 
formel),  ist  in  der  Mathematik  sehr  beliebt,  und  sic 
wird  mit  großem  Erfolg  zu  einer  Verallgemeine- 
rung der  Formeln  angewandt. 

Insbesondere  sind  die  sog.  Nullfälle  hier  von  Wert, 
wie  wir  dies  oben  beim  Kreise  sahen  (um  ihn  unter  die 
Ellipsenformel  bringen  zu  können,  wird  bekanntlich  der 
Kreis  als  eine  Ellipse  betrachtet,  deren  beide  Brenn- 
punkte die  Distanz  = 0 haben).  Ähnlich  wird  diese  Me- 
thode der  Nullfälle  z.  B.  angewandt,  um  die  gerade 
Linie  unter  den  Begriff  der  krummen  zu  bringen,  in- 
dem sie  als  eine  krumme  Linie  mit  einem  Krümmungs- 
halbmesser = 0 betrachtet  wird.  Diese  Methode  ist  ver- 
wandt mit  der  Methode  der  abstrakten  Verallgemeinerung. 
Sie  beruht  darauf,  der  Null,  einem  ganz  fiktiven  Vorstel- 
lungsgebilde, eine  Existenz  zuzugestehen. 

Dieselbe  Methode  ist  beteiligt  bei  der  Bildung  der 
negativen  Zahlen,  der  Bruchzahlen,  der  irratio- 
nalen und  imaginären  Zahlen;  schon  die  Bezeich- 
nung dieser  Gebilde  deutet  ihre  logische  Bedeutung  an: 


Die  Methode  der  unberechtigten  Übertragung. 


59 


es  sind  fiktive  Vorstellungsgebilde,  welche  für  die  Er- 
weiterung der  Wissenschaft  und  Verallgemeinerung  ihrer 
Resultate  einen  hohen  Wert  haben  trotz  der  klaffenden 
Widersprüche,  welche  in  diesen  Begriffen  enthalten  sind. 
Diese  Begriffe  sind  auch  zugleich  Belege  für  unsere  obi<?e 
Behauptung,  daß  solche  irregulären  Bildungen  und  Be- 
griffe meist  mit  einem  gewissen  mystischen  Schimmer 
umgeben  werden : die  Geschichte  der  Mathematik  weiß  da- 
von zu  erzählen,  mit  welcher  abergläubischen  Ehrfurcht 
diese  Zahlbildungen  noch  im  XVIII.  Jahrhundert  be- 
trachtet wurden.  Jetzt  gelten  sie  allgemein  als  fiktive,  aber 
sehr  wertvolle  und  fruchtbare  Zahlgebilde.  Das  Grund- 
prinzip ist  eben  auch  hier  eine  unberechtigte  Anwendung 
und  Übertragung  einer  logischen  Methode  auf  Fälle,  die 
strenggenoimnen  nicht  darunter  zu  subsmnieren  sind,  oder 
die  Betrachtung  solcher  Gebilde  als  Zahlen,  welche  gar 
keine  rechten  Zahlen  sind.  Negative  Zahlen  sind  ein 
Selbstwiderspruch,  wie  alle  Mathematiker  zugeben;  es  ist 
eine  Ausdehnung  der  Subtraktion  über  das  Maß  der 
logischen  Anwendungsmöglichkeit  derselben  hinaus : 
die  Bruchzahlen  sind  das  Produkt  'derselben  Methode 
bei  der  Division  und  die  irrationalen  Zahlen  bei  der  Radi- 
zierung;  das  monströseste  Zahlgebilde  dagegen  sind  die 
imaginären  Zahlen,  denen  die  Konstruktion  durch 
Gauss,  Drobisch  und  andere  nichts  von  ihrer  fiktiven  und 
widerspruchsvollen  Natur  genommen  hat. 

Überhaupt  beruht  die  ganze  Mathematik,  auch  die  Arith- 
metik, auf  rein  imaginativer  Basis,  ebenso  das 
Messen  und  ähnliche  mathematische  Methoden.  Die  ganze 
Mathematik  ist  das  klassische  Beispiel  eines  ingeniösen 
Instrumentes,  eines  Denk  mittels  zur  Erleicht  ermig 
der  Denkrechnung. 

Daß  die  ganze  Zahlenbildung  imaginativ  sei,  lehrt 
nicht  bloß  die  Möglichkeit  der  unendlich  vielen  denk- 
baren Zahlensysteme,  sondern  auch  die  Tatsache  der 
Unendlichkeit  der  Zahl  selbst;  von  dem  Begriff  der  Un- 
endlichkeit aber  wird  noch  die  Rede  sein. 

Eine  ingeniöse  mathematische  Methode  ist  ferner,  die 
Linien  und  Flächen  als  zusammengesetzt  aus  Linien-  und 
Flächen el  e menten  von  unendlich  kleiner  Ausdehnung 
zu  betrachten.  Man  wendet  diese  Methode  in  zweierlei 


00  Erster  Teil:  Prii)ziplelle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

Hinsicht  an : erstens,  wie  wir  sehen  werden,  um  den 
Gebrauch  der  Maßzahlen  überhaupt  theoretisch  zu  be- 
gründen — eine  Notwendigkeit,  welche  erst  neuere  Mathe- 
matiker erkannt  haben  — sodann  um  sämtlichen  Linien 
den  Vorteil  einer  identischen  Maßweise  zukommen  zu 
lassen,  besonders  um  die  krummen  Linien  ebenfalls  be- 
messen und  berechnen  zu  können.  Schon  die  versuchte 
Subsumtion  dieser  unter  die  geraden  Linien,  d.  h.  der  Be- 
griff der  Länge  einer  Kurve  ist,  wie  Lotze  richtig 
bemerkt,  eine  Fiktion.  Um  aber  diese  Fiktion  brauchbar 
zu  machen,  wird  eine  neue  Fiktion  gemacht. 

Kaum  bietet  einer  der  in  unser  Gebiet  hereinfallenden 
Gegenstände  ein  so  umfassendes  Interesse,  einen  so  hohen 
wissenschaftlichen  Reiz,  als  derjenige,  bei  dem  wir  nun 
angelangt  sind.  Es  sind  dies  die  Versuche,  das  Krumme 
unter  den  Begriff  und  die  Gesetze  des  Geraden  zu  brin- 
gen. In  zwei  aufeinander  folgenden  Etappen  wurde  dies 
Ziel  genial  erreicht,  einmal  durch  die  K a r t e s i anischo 
Reform  der  Analysis,  sodann  durch  die  Infinitcsimal- 
methode  Leibnizens  und  die  Fluxionsrechnung  New- 
tons. Was  den  eisteren  Punkt  betrifft,  so  galt  es  einmal, 
überhaupt  das  Bildungsgesetz  krummer  Linien  auf  das 
der  geraden  zu  reduzieren:  dies  gelang  dem  Descartes 
durch  eine  äußerst  sinnreiche  Methode,  welche  auf  den 
mathematischen  Schüler  zum  erstenmal  in  ihrer  ein- 
fachen Genialität  denselben  großartigen  Eindruck  zu 
machen  pflegt,  wie  die  erste  Einführung  in  den  Kanti- 
schen  Grundgedanken  auf  den  jungen  Philosophen.  Beide- 
mal geht  uns  plötzlich  ein  wunderbar, erhellendes  strahlen- 
des Licht  auf. 

Die  zweite  Etappe  in  der  Methode,  das  Krumme  unter 
den  Begriff  des  Geraden  zu  bringen,  geschah  durch 
Leibniz  und  Newton.  Einen  besonderen  Reiz  bieten 
hier  die  Untersuchungen  der  merkwürdigen  Tastversuche 
des  logischen  Triebes  dar,  welche  dieser  in  den  Vor- 
gängern jener  beiden,  besonders  in  der  Person  des  Eng- 
länders Wallis  und  des  Italieners  Cavalieri  zur  Er- 
reichung dieses  Zieles  machte.  Die  eigentliche  Vollendung 
dieser  merkwürdigen  Methode  geschah  durch  Ausbildung 
eines  Vorstellungsgebildes,  das  helfend  und  vermittelnd 
einspringt  und  das  eigentliche  Standardbeispiel  einer  Fik- 


Die  Methode  der  unberechtigten  Übertragung. 


61 


tion  ist:  es  ist  die  Fiktion  der  Differentiale  resp. 
Fluxionen.  Dies  sind  rein  fiktive,  widerspruchsvolle 
Vorstellungsgebilde,  vermittels  welcher  aber  jene  Sub- 
sumtion des  Krummen  unter  das  allgemeine  Vorstellungs- 
gebilde des  Geraden  und  seiner  Gesetze  gelingt.  Diese 
über  alle  Maßen  bewmnderungswmrdige  Methode  ist  das 
beste  Beispiel  jener  zum  Teil  unbewußten  Zwecktätig- 
keit der  logischen  Fimktion,  die  wdr  oben  ausführlich 
geschildert  haben.  Weder  Newton  noch  Leibniz  waren 
sich  vollständig  und  konsequent  klar  darüber,  w^as  sie 
eigentlich  logisch  taten,  als  sie  jene  Vorstellungsgebilde 
erfanden.  Es  bildet  ein  bekanntes  und  ungemein  viel 
behandeltes  Thema,  wie  denn  eigentlich  Newton  und 
Leibniz  ihre  Konzeptionen  ursprünglich  verstanden  haben 
wollten.  Nirgends  erscheint  die  zwecktätige  Funktion  des 
logischen  Triebes  glänzender  und  erfinderischer  als  in 
diesem  Teile  der  Mathematik : die  ganze  nachfolgende,  nun 
zw^ei  Jahrhunderte  dauernde  Kontroverse  drehte  sich 
dämm,  ob  die  Differentiale  resp.  Fluxionen 
Hypothesen  oder  Fiktionen  seien.  Alle  die  scharf- 
sinnigen Einw^endungen,  welche  später  gegen  diese  Me- 
thode gemacht  worden  sind,  beriefen  sich  sowohl  auf 
die  Unmöglichkeit,  daß  solche  Gebilde  objektiv  existieren 
könnten,  als  auch  auf  die  Widersprüche,  in  welche  sich 
diese  Methode  verwd ekele.  Daß  jenes  kein  Einwand  sei, 
davon  sind  wir  nun  endlich  überzeugt,  nachdem  wir 
im  vorhergehenden  eine  Reihe  von  Vorstellungsgebilden 
entdeckt  haben,  welche  trotz  ihrer  Unrealität  doch  dem 
Denken  die  größten  Dienste  leisten.  Daß  aber  Wider- 
sprüche dadurch  entstehen,  ist  ebenfalls  kein  Einwand, 
sobald  man  sich  an  unsere  neue  Betrachtungsw^eise  ge- 
wöhnt, welche  das  alte  Vomrteil  ablegt,  als  ob  das 
Denken  nur  durch  widerspruchslose  Operationen  fort- 
schreite und  Ergebnisse  erreiche.  Im  Gegenteil  haben 
wir  im  vorhergehenden  unsere  neue  xA.nsicht  zu  begründen 
versucht,  welche  ebensowohl  von  Hegel  als  Lotze  ge- 
ahnt worden  ist. 

Man  ist  heute  weit  entfernt,  die  Widersprüche  gelöst 
zu  haben,  w^elche  die  Infinitesimalmethode  enthält.  Zwei 
Jahrhunderte  lang  haben  sich  die  Mathematiker  bemüht, 
samt  den  Philosophen,  zu  zeigen,  daß  in  derselben  keine 


62  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


solchen  Widersprüche  seien;  wir  kehren  den 
Gesichtspunkt  um  und  stellen  die  Sache  ge- 
radezu auf  den  Kopf;  jene  Widersprüche  sind  nicht 
bloß  nicht  wegzu leugnen,  sondern  sie  selbst 
sind  gerade  das  Mittel,  durch  welches  der 
.Fortschritt  erreicht  worden  ist. 

Unter  den  Gegnern  der  Inifinitesimaltheorie  ragt,  was 
selbst  Mathematikern  und  Philosophen  nicht  mehr  be- 
kannt ist,  Berkeley  sehr  hervor.  Er  hat  die  in  dieser 
Methode  enthaltenen  Widersprüche  mit  einer  bewunde- 
rungswürdigen Klarheit  und  Eleganz  aufgedeckt,  und 
merkwürdigerweise  hat  er  auch  zugleich  gezeigt,  wie 
das  Denken  trotz  dieser  Widersprüche  sein  Ziel  erreicht; 
allein  er  hat  diese  Entdeckung  gar  nicht  verwertet,  son- 
dern im  Gegenteil  trotz  derselben  die  Infinitesimalmethode 
als  widerspruchsvoll  verworfen.  Erst  im  XIX.  Jahrhun- 
dert ist  diese  Entdeckung  neu  gemacht  worden,  in  Frank- 
reich durch  Carnot;  in  Deutschland  durch  Drobisch, 
ohne  daß  diese  Entdeckung  das  Aufsehen  gemacht  hätte, 
welches  sie  verdient.  Freilich  mangelte  bei  beiden  die 
Ausdehnung  auf  die  allgemeine  Methode  des  Denkens, 
welche  im  folgenden  und  vorhergehenden  versucht  ist. 
Diese  Entdeckung  besteht  darin,  daß  das  Denken^  die 
Fehler,  welche  es  begeht,  wieder  korrigiert: 
in  diesem  einfachen  Satze  ist  das  ganze  Prinzip  der  Fik- 
tionen ausgesprochen,  was  noch  unten  weiter  ausgeführt 
werden  wird. 


Kapitel  XIII. 

Der  Begriff  des  Unendlichen. 

Im  engsten  Zusammenhang  mit  den  im  vorigen  Ab- 
schnitt besprochenen  Erscheinungen  steht  ein  Vorstel- 
lungsgebilde, welches  nicht  bloß  die  crux  aller  Mathe- 
matiker bis  auf  den  heutigen  Tag  ist,  sondern  auch 
den  Philosophen  viel  Kopfzerbrechen  gemacht  hat:  durch 
Einreihung  in  unser  allgemeines  Prinzip  wird  dieser 
Begriff,  der  Begriff  des  Unendlichen,  \delleicht  geklärt 
und  erklärt. 


Der  Begriff  des  Unendlichen. 


63 


Der  Begriff  des  Unendlichen  zeigt  sich  als  ein  Hilfs- 
begriffj  den  das  Denken  zur  Erleichterung  seiner  Ope- 
rationen eingeführt  hat,  und  der  gerade  durch  seinen 
immanenten  Widerspruch  ein  erfolgreiches  Denken  ermög- 
licht. Dies  ist  zunächst  in  der  Mathematik  der  Fall,  wo 
das  Symbol  oo,  weiches  hier  für  „Unendlich“  ge- 
braucht wird,  einfach  eine  Fiktion  ist,  durch  welche 
das  mathematische  Denken  seine  Zwecke  viel  leichter 
erreicht.  Die  allmähliche  Ausbildung  dieses  Begriffs  (die 
Griechen  haben  mit  einer  merkwürdigen,  aber  leicht  er- 
klärlichen Scheu  alle  Fiktionen  und  so  auch  diese  ver- 
mieden und  sich  ohne  die  Beihilfe  dieser  fiktiven  Vor- 
stellungsgebilde fortzuhelfen  gesucht)  bietet  eines  der 
reizendsten  und  belehrendsten  Themata  der  Wissen- 
schaftsgeschichte dar.  Überhaupt  ist  die  allmähliche  histo- 
rische Ausbildung  aller  dieser  fiktiven  Begriffe  eines  der 
merkwürdigsten  Schauspiele,  welches  die  Geschichte  des 
menschlichen  Geistes  darbietet.  Man  sieht  hier  so  recht, 
wie  die  logische  Funktion  anfänglich  im  Dunkeln  tappend 
allmählich  tatonnierend  vorgeht  und  mit  Vorsicht  diese 
Gebilde  formiert,  welche  dann  so  nützliche  und  unschätz- 
bare Dienste  leisten. 

Von  hier  aus  fällt  denn  auch  ein  belehrendes  Licht 
auf  den  philosophischen  Begriff  des  Unendlichen.  Auch 
dieser  ist  ein  Hilfsbegriff,  der  freilich  oft  eine  schäd- 
liche Mißanwendung  fand,  der  aber  doch  dem  Denken  ge- 
wisse Hilfe  leistet. 

Dieses  wichtige  Vorstellungsgebilde  entsteht  rein  durch 
die  Einbildungskraft  und  hat  absolut  keinen  objektiven 
Wert.  Gerade  die  Widersprüche,  welche  in  diesem  Vor- 
stellungsgebilde liegen,  zeigen,  daß  es  rein  fiktiv  ist,  und 
daß  seine  Anwendung  auf  die  wahre  Welt  ein  Mißbrauch 
ist.  Der  stärkste  Beweis  für  die  Subjektivität  von  Raum 
und  Zeit  liegt  in  ihrer  Unendlichkeit:  die  gewöhnlichen 
Begriffe  von  Raum  imd  Zeit  sind  dadurch  als  fiktiv  de- 
maskiert, als  bloße  Hilfshegriffe,  Hilfsbilder,  welche  die 
logische  Funktion  entwickelt,  um  das  Gegebene  zu  ordnen 
und  zu  begreifen.  Gerade  die  subjektiven  Operationen 
gestatten  solche  Mißanwendungen,  wie  diese  Begriffe  sie 
erfahren  haben.  Nur  eine  subjektive  Operation  läßt  sich 
fortgesetzt  denken,  als  oh  sie  ohne  Ende  wäre  und  doch 


64  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

vollendet.  Demnach  sind  alle  diese  Produkte  reine 
Formen  des  Denkens,  rein  subjektive  Operationen.  Es 
wäre  ja  doch  auch  wunderbar,  wenn  diese  Begriffe  oder 
Vorstellungen  Bilder  des  Objektiven  sein  sollten:  Man 
mache  sich  nur  einmal  klar,  was  denn  dieser  Begriff: 
Bild,  Abbild  heißen  soll;  wie  überhaupt  die  logischen 
Funktionen  Abbilder  des  Geschehenden  sein  sollten. 
Nein!  Alle  diese  Vorstellungen  sind  nicht  Bilder  des 
Geschehens,  sondern  selbst  ein  Geschehen,  ein  Teil 
des  kosmischen  Geschehens;  dieses  Geschehen  tritt  auf 
einer  gewissen  Stufe  der  organischen  Entwicklung  mit 
Notwendigkeit  ein:  das  kosmische  Geschehen  setzt 
sich  in  diesen  Vorstellungen  selbst  fort;  sie 
sind  ja  psychische  Produkte,  psychische  Prozesse,  und 
‘ das  psychische  Geschehen  ist  doch  sicherlich  ein  Teil 
^ des  kosmischen  Geschehens  überhaupt;  die  Welt,  so 
wie  wir  sie  worstellen,  ist  erst  ein  sekundäres  oder  ter- 
tiäres Gebilde,  das  im  Spiel  des  kosmischen  Geschehens 
in  unseren  Köpfen  entsteht,  und  das  nur  zur  Vermittlung 
des  Geschehens  selbst  entsteht.  Nicht  ein  Bild  der 
wahren  Welt  ist  diese  Vorstellungswelt,  sondern  ein  In- 
strument, um  jene  zu  erfassen  und  subjektiv  zu  be- 
greifen. 

Sie  ist  nur  ein  Hilfsgebilde,  welches  die  logische  Funk- 
tion allmählich  formiert,  um  sich  zu  orientieren.  Man 
kann  dieses  Vorstellungsgebilde  der  wirklichen  Welt  sub- 
stituieren, und  das  tun  wir  alle  praktisch;  allein  es  ist 
kein  Bild  des  wahren  Seins,  nicht  einmal  ein  Symbol 
im  gewöhnlichen  Sinne,  sondern  nur  ein  Zeichen,  um 
das  Wirkliche  zu  berechnen,  ein  logisches  Hilfsgebilde, 
um  uns  in  dieser  wahren  Welt  zu  bewegen  und  in  ihr  zu 
handeln.  Praktisch  können  v/ir  die  Vorstellungswelt 
an  die  Stelle  der  wahren  Welt  setzen,  allein  theore-i 
tisch  sind  beide  streng  zu  unterscheiden:  die  Vor- 
stellungswelt ist  erst  ein  sekundäres  Produkt  der  wahren 
Welt  selbst,  ein  Gebilde,  welches  organische  Wesen  dieser 
Welt  aus  sich  heraus  treiben. 


Die  Materie  und  die  sinnliche  Vorstellungswelt. 


65 


Kapitel  XIV. 

Die  Materie  und  die  sinnliche  Vorstellungswelt. 

Die  Materi(3  ist  ebenfalls  eine  solche  Fiktion.  In 
diesem  Vorstei] unijsgebilde  sind  widerspruchsvolle 
Elemente  verbunden;  allein  dieses  Vorstellungsgebilde 
tut  uns  ebensc'  gute  Dienste  wie  die  Fiktion  der  Kraft. 
Daß  die  Materie  eine  solche  Fiktion  sei,  ist  heutzutage 
eine  allgemeine  Überzeugung  der  denkenden  Köpfe.  Die 
Widersprüche  in  derselben  hat  besonders  Berkeley 
überzeugend  nachgewiesen,  der  überhaupt  merkwürdig 
tief  in  das  Wesen  der  logischen  Funktion  hineinblickte. 
Die  mannigfachen  Kämpfe,  welche  um  diesen  Begriff 
stattgefunden  haben,  drehen  sich  um  denselben  Punkt, 
wie  er  uns  schon  mehrfach  begegnet  ist:  ob  die  Ma- 
terie eine  Hypothese  oder  eine  Fiktion  sei. 
Der  Begriff  der  ^laterie  mag  umgearbeitet  werden  wie  er 
will:  es  bleiben  an  ihm  in  jedem  Fall  alle  Widersprüche 
kleben,  welche  schon  sooft  aufgedeckt  worden  sind. 
Nicht  das  Unbekannte,  was  der  Materie  zugrunde  liegt, 
wird  damit  weggeleugnet:  v>^ohl  aber,  daß  dieses  Un- 
bekannte identisch  sei  mit  dem  Begriffsgebilde,  das  wir 
Materie  nennen. 

Dieses  Begriffsgebilde  Materie  ist  aus  ganz  wider- 
sprechenden Elementen  zusammengesetzt,  tut  aber  als 
Fiktion  die  besten  Dienste  für  das  wissenschaftliche  Den- 
ken. Es  ist  daher  ganz  falsch,  wenn  man  mit  Berkeley, 
sobald  man  die  objektive  Unmöglichkeit  dieser  Be- 
griffe eingesehen  hat,  sie  sofort  sQs  unnütz  wegwirft: 
diese  Tat  beruht  auf.  demselben  Vorurteil,  das  die  Philo- 
sophie bis  heute  beherrscht:  als  ob  logisch  Wider- 
spruchsvolles we.rtlos  sei:  gerade  umgekehrt,  logisch 
widerspruchsvolle  Begriffe  sind  die  wertvollsten.  Viele 
Grundbegriffe,  mit  denen  die  sämtlichen  Wissenschaften 
operieren,  sind  Fiktionen:  es  handelt  sich  nicht  darum, 
diese  Widersprüche  aus  ihnen  wegzuschaffen  — das  ist 
ein  vergebliches  Untijrnehmen  — , sondern  zu  zeigen,  daß 
sie  trotzdem  dem  Denken  nützlich  und  förderlich  sind. 
Mail  darf  nicht  das  Vorurteil  hegen,  daß  nur  das  logisch 
Widerspruchslose  auch  logisch  fruchtbar  sei:  dieDurch- 
führung  dieser  Ansicht  würde  — da  ja  so  viele  Grund- 

Vaihinger,  Philosophie.  5 


6ß  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

begriffe  aller  Wissenschaften  widerspruchsvoll  sind  — 
zu  der  Konsequenz  des  Agrippa  von  Nettesheim  führen, 
alle  Wissenschaften  für  nichtig  zu  halten.  Dieses  Resultat 
ist  sehr  zu  unterscheiden  von  demjenigen,  das  wir  er- 
halten haben.  Allerdings  sind  viele  wissenschaftliche 
Grundbegriffe  fiktiv  und  widerspruchsvoll,  und  kein  Ab- 
druck des  Wirklichen,  das  uns  überhaupt  unzugänglich 
ist,  aber  darum  sind  sie  doch  nicht  wertlos.  Sie  sind 
psychische  Gebilde,  welche  nicht  nur  die  Illusion  des  Be- 
greifens hervorbringen,  sondern  es  uns  auch  ermög- 
lichen, uns  in  der  wahren  Welt  praktisch  zu  orientieren. 

Eben  weil  unsere  Vorstellungswelt  selbst  ein  Produkt 
der  Welt  der  Wirklichkeit  ist,  kann  sie  nicht  ein  Abbild 
des  Seins  sein:  dagegen  kann  sie  wohl  ein  Instrument 
innerhalb  derselben  sein,  mit  Hilfe  dessen  sich  höher 
organisierte  Wesen  in  der  wirklichen  Welt  bewegen. 
Sie  ist  ein  Symbol,  mit  Hilfe  dessen  wir  uns  bewegen. 
Die  Wissenschaft  hat  das  Interesse,  dieses  Symbol 
immer  adäquater  und  brauchbarer  zu  machen; 
aber  es  bleibt  doch  ein  Symbol.  Gegen  den  Beweis  aber, 
daß,  weil  die  Vorstellungswelt  ein  Produkt  der  wirklichen 
Welt  sei,  sie  nicht  identisch  mit  derselben  sein  könne: 
gegen  diesen  Beweis  gibt  es  keine  Instanz  mehr.  — Es 
gibt  keine  Identität  von  Denken  und  Sein:  die  „Welt“  ist 
nur  ein  Denk  mittel;  darum  ist  die  Vorstellungswelt 
eben  auch  nicht  das  letzte  Ziel  des  Denkens;  der 
eigentliche  Zweck  des  Denkens  ist  nicht  das  Denken  und 
seine  Produkte  selbst,  sondern  das  Handeln  und  in  letzter 
Linie  das  ethische  Handeln.  Das  Mittel  dazu  ist 
die  objektive  Welt  als  Vorstellungswelt.  Mit 
Fichte  kann  man  also  sagen:  die  Welt  sei  das  Mate- 
rial des  sittlichen  Handelns.  Fichte  fehlte  nur  darin, 
nun  auch  dies  Material  selbst  vom  Ich  produzieren 
zu  lassen;  nur  die  Form  ist  Produkt  der  Psyche.  Die  Vor- 
stellungswelt ist  lediglich  ein  Denk  mittel,  ein  Instru- 
ment, um  das  Handeln  in  der  wirklichen  AVelt  zu 
ermöglichen. 

Der  letzte  und  eigentliche  Zweck  des  Denkens  ist  das 
Handeln  und  die  Ermöglichung  des  Handelns. 
Von  diesem  Standpunkt  aus  betrachtet,  erscheint  die 
Vorstellungswelt  im  großen  und  ganzen  eben  als  ein 


Die  Materie  und  die  sinnliche  Vorstellungswelt. 


67 


bloßes  Mittel;  ihre  einzelnen  Bestandteile  sind  eben- 
falls nur  Mittel,  Es  ist  dies  ein  System  von  Denk- 
mitteln, welche  sich  gegenseitig  fordern  und  unter- 
stützen, und  deren  Schlußprodukt  die  wissenschaftlich 
gereinigte  Vorstellungswelt  ist;  diese  ist  nur  eine  unend- 
lich feine  Maschine,  welche  sich  der  logische  Trieb 
baut,  lind  sie  verhält  sich  zur  sinnlichen,  vorwissen- 
schaftlich geschaffenen  Vorstellungswelt  wie  ein  modernes 
Eisenhammerwerk  zum  primitiven  Steinhammer  des  Tertiär- 
menschen, wie  eine  Dampfmaschine  und  eine  Eisenbalm 
zum  plumpen  Wagen  des  Heidebewohners.  Beide  aber 
sind  nur  Instrumente,  die  sich  zwar  dem  Grade 
der  Feinheit  und  Eleganz  nach  sehr  weit  unterscheiden, 
die  aber  der  Aid  nach  identisch  sind:  es  sind  auch  In- 
strumente, Produkte  des  logischen  Triebes, 
der  logischen  Tätigkeit.  Die  ganze  Vorstellungswelt  liegt 
zwischen  den  beiden  Polen:  Empfindung  — Bewegung 
mitten  darinnen.  Die  Psyche  schiebt  immer  wei- 
tere Mittelglieder  zwischen  diese  beiden 
Punkte  ein,  und  die  Feinheit  und  Ausbildung  dieser 
eingeschobenen  Mittelglieder,  Bilder  und  Hilfsbegriffe 
wächst  mit  der  Zunahme  der  Nervenmasse  und  der  zu- 
nehmenden Isolierung  des  Gehirns  vom  Rückenmark. 
Zwischen  den  Empfindungs-  und  Bewegungsnerven  liegt 
unsere  Vorstellungswelt,  diese  unendliche  Welt,  mitten 
darin,  und  sie  dient  nur  dazu,  die  Venuittlung  zwischen 
diesen  beiden  Elementen  immer  reicher,  feiner,  zweck- 
mäßiger und  leichter  zu  machen.  Mit  der  Ausbildung 
dieser  Vorstellungswelt,  mit  der  Anpassung  dieses  Instru- 
mentes an  die  sich  bemerkbar  machenden  objektiven 
Sukzessions-  und  Koexistenzverhältnisse  ist  die  Wissen- 
schaft beschäftigt.  Die  Wissenschaft  macht  diese  Kon- 
struktionen weiterhin  zum  Selbstzweck  und  ist,  wo  sie 
dies  tut,  wo  sie  nicht  mehr  bloß  der  Ausbildung  des 
Instrumentes  dient,  streng  genommen,  ein  Luxus,  eine 
Leidenschaft.  Alles  Edle  im  Menschen  hat  aber  einen 
ähnlichen  Ursprung. 

Wenn  wir  sagen,  daß  unsere  Vor stellungs weit  zwischen  den  Ner- 
ven der  Empfindung  und  Bewegung  liege,  so  müssen  wir  uns  selbst 
hier  einer  fiktiven  Sprache  bedienen:  Faktisch  haben  wir  ja  nur 
Empfindungen  sowohl  die  Bewegungsvorslellungen,  als  die  Vor- 
stellungen von  Nerven,  also  von  Materie,  sind  schon  Gebilde  der 


68  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

produktiven  Phantasie,  der  Fiktion:  es  heißt  das  also  mit  anderen 
Worten,  daß  die  ganze  Vorstellungswelt  zwischen  die  Empfindun- 
gen eingeschoben  sei;  diese  sind  ja  einzig  und  allein  das  schließ- 
lich Gegebene:  nur  gewisse  Empfindungssukzessionen  sind  uns 
gegeben.  Also  ist  die  Vorstellungswelt  ein  aus  elementaren  Emp- 
findungen, resp.  ihren  Resten  aufgebautes  Gebilde,  welches  dazu 
dient,  zwischen  verschiedenen  Empfindungszentren  eine  leichtere 
Vermittlung  zu  schaffen;  die  Vorstellungswelt  entsteht  durch 
alle  Vorgänge,  durch  welche  die  elementaren  Empfindungen  verän- 
dert werden,  selbst  wieder  nach  elementaren  Gesetzen.  Durch  diese 
Verdichtung  und  Verbindung  usw.  der  Empfindungen,  welche  in  dem 
Gehirne  vor  sich  gehen,  d.  h.  in  demjenigen  Teil  der  Wirklichkeit, 
den  wir  als  Gehirn  anschauen,  wird  nun  ein  höheres,  entwickel- 
teres Gebilde  erzeugt,  welches  den  Dienst  leistet,  daß  durch  das- 
selbe das  menschliche  Handeln  bereichert  und  vervollkommnet 
wird.  Es  ist  hierbei  prinzipiell  irrelevant,  ob  man  die  fiktve  Tätig- 
keit schon  bei  der  Bildung  der  Raumvorstellung  beginnen  läßt, 
oder  erst  später;  prinzipiell  wichtig  ist  die  Einsicht,  daß  alle 
höheren  Vorstellungsgebilde  nur  Mittel  zum  Zweck  der 
Erleichterung  des  Verkehrs  empfindender  „Wesen“  sind.  Die  Theorie 
der  Fiktionen  aber  lehrt  eben,  daß  die  Brauchbarkeit  solcher 
Fiktionen  kein  Beweis  ist  für  ihre  objektive  Wahrheit: 
die  logische  Theorie  der  Fiktionen  hat  den  Mechanismus  aiif- 
zudecken,  durch  den  jene  Gebilde  ihre  Dienste  leisten. 

Man  kann  es  daher  nur  als  verzeihliche  Schwäche 
bezeichnen,  wenn  die  Wissenschaft  meint,  es  in  ihren 
Begriffen  mit  dem  Wirklichen  selbst  zu  tun  haben: 
sie  hat  es  mit  dem  Wirklichen  nur  insofern  zu  tun,  als 
sie  die  unabänderlichen  Sukzessionen  und  Koexistenzen 
feststellt;  dagegen  die  dasselbe  umspielenden,  umfassen- 
den Begriffe  sind  fiktiver  Natur,  Zutaten  der  Menschen, 
bilden  bloß  die  Einfassung,  mit  der  der  Mensch  den 
Edelstein  der  Wirkliehkeit  umgibt,  um  diese  besser 
handhaben  zu  können.  Die  Wissenschaft  hat  also  zwei 
Aufgaben:  1.  die  wirklichen  Sukzessionen  und  Ko- 
existenzen festzustellen,  2.  die  Begriffe,  mit  denen 
wir  das  Wirkliche  umspinnen,  immer  knapper,  adäquater, 
unschädlicher  und  nützlicher  zu  gestalten.  So  ist 
die  Umspinnung  der  Wirklichkeit  mit  Begriffen,  wie  sie 
Aristoteles  und  das  Mittelalter  liebten,  ungemein 
schädlich,  weil  sie  das  Wirkliche  verdeckt  und  den 
Blick  von  der  Wirklichkeit  auf  die  schimmernde,  aber 
hohle  Umfassung  der  Begriffe  lenkt:  freilich  ohne  sie 
können  wir  mit  der  Welt  nichts  anfangen,  nicht  in  ihr 
handeln;  sie  sind  ein  notwendiges  Übel;  als  solches  haben 


Die  Materie  und  die  sinnliche  Vorstellungswelt. 


69 


denn  auch  große  Denker  die  Begriffe  und  das  diskursive 
Denken  selbst  betrachtet  — als  ein  notwendiges  Übel, 
ohne  welches  Hilfsmittel  aber  die  Wirklichkeit  nicht  zu 
erfassen  ist.  Die  Entblößung  des  Wirklichen  von  allen 
Begriffen,  von  allen  diskursiven  Handhaben,  führt  zu 
jenem  Zustand,  den  die  griechischen  Sophisten  und  Skep- 
tiker dai stellen:  man  enthält  sich  jedes  Urteils.  Indessen 
gingen  diese  darin  zu  weit,  daß  sie  die  materielle 
Richtigkeit  der  allgemeinen  Urteile  bezweifelten:  denn  die 
Feststellung  einer  unabänderlichen  (oder  wenigstens 
innerhalb  unseres  Betrachtungsfeldes  noch  nie  abgeän- 
derten) Sukzession  und  Koexistenz  ist  ein  sicheres  Wis- 
sen: nur  die  formelle  Fassung  im  Urteil  ist  falsch 
und  fiktiv:  demi  das  Urteil  trennt  immer  in  Subjekt 
und  Prädikat,  in  Substantiv  und  Verbum';  also 
in  Ding  und  Eigenschaft,  Ursache  und  Wirkung. 
Die  Aussprechung  jener  beobachteten  Sukzession  ist  uns 
also  unmöglich  ohne  die  Handhaben  des  diskursiven 
Denkens ; diese  selbst  aber  für  Ausdruck  des  Wirklichen 
zu  halten,  ist  ein  veralteter  Standpunkt. 

Als  eigentlich  Wirkliches  würden  wir  also  nur  gewisse  Emp- 
findungssnkzessionen  setzen,  aus  denen  sich  nach  bestimmten 
Gesetzen  Gebilde  erzeugen,  welche  wir  als  Fiktionen  betrachten, 
und  welche  sich  aus  jenen  Empfindungen  in  gewissen  Empfindungs- 
zentreu entwickeln,  und  Hilfsmittel  einer  reicheren  Empfindungs- 
verknüpfung sind. 

Es  ist  nun  aber  nicht  möglich,  ohne  die  Hilfsmittel 
des  diskursiven  Denkens  sich  anderen  verständlich  zu 
machen  oder  auch  nur  zu  denken,  zu  rechnen.  Ohne  die 
diskursiven  Hilfsmittel  sind  wir  wehrlos,  uns  bleibt  dann 
nur  übrig,  zu  schweigen  und  hinzustarren,  wie  es  gewisse 
Skeptiker  wollen:  wir  ergreifen  das  uns  dargebotene 
Mittel,  um  die  Wirklichkeit  zu  berechnen,  aber  wir  billi- 
gen die  subjektiven  Zu-  und  Ansätze  nachher  wieder 
in  Abrechnung,  wie  man  in  der  Rechnung  eine  fiktive 
Größe,  welche  man  eingeführt  hat,  wieder  fallen  läßt. 

Aber  eine  reinliche  Scheidung  ist  nur  möglich,  wemi 
wir  ein  für  allemal  die  dis  kursiven  Hilfsmittel 
als  subjektive  Handhaben  betrachten. 

Somit  werden  wir  allmählich  immer  tiefer  geführt  und 
veranlaßt,  ganz  allmählich  von  oben  herab  das  Ge- 


70  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

rüste,  das  der  iMenscli  um  die  Wirklichkeit 
her  umstellt,  abzubrechen;  lun  dies  zu  tun,  muß- 
ten wir  uns  immer  auf  die  vorhergehenden 
Sprossen  und  Etagen  dieses  Gerüstes  setzen: 
brachen  aber  immer  Avieder  diese  selbst  ab,  bis  wir  nun 
auf  die  Grundpfeiler  jenes  Gerüstes  gekommen  sind: 
Raum  und  Stoff.  Dieser  sukzessive  Abbruch  des 
Denkgerüstes  ist  charakteristisch  für  den  Aufbau  selbst 
und  seine  allmähliche  Aufführung  im  Laufe  der  Zeit  in 
der  historischen  Entwicklung  der  Menschheit. 

Die  logische  Funktion  dankt  sich  am  Ende  und  Ziele 
i hrer  Tätigkeit  selbst  ab:  das  Gerüste  wird  abge- 
schlagen, wenn  es  seinen  Zweck  erfüllt  hat. 

Die  Wichtigkeit  der  logischen  Funktion  schützt  sie 
nicht  von  der  Selbsterkenntnis  ihrer  Nichtigkeit:  denn 
das  ist  der  historisch  großartige  Trugschluß  der  Mensch- 
heit gewesen,  aus  der  Wichtigkeit  auf  die  Richtig- 
keit zu  schließen. 

Es  ist  dies  derselbe  Triigscliluß,  den  v/ir  schon  mehrfach  dar- 
gestellt haben:  es  darf  eben  aus  der  Zweckmäßigkeit  eines  psy- 
chischen, logischen  Gebildes  nicht  auf  seine  Richtigkeit  geschlossen 
werden:  auch  die  Differentiale  sind  zweckmäßige  Gebilde,  und 
doch  wird  niemand  behaupten  wollen,  es  gebe  Differentiale.  So  wie 
der  Mechanismus  aufgedeckt  wird,  durch  den  diese  Begriffe  so 
Zweckmäßiges  leisten,  verschwindet  der  Schein  ihrer  Wahrheit, 
den  sie  so  lange  haben,  als  dieser  Mechanismus  nicht  aufgedeckt 
wird. 

Die  logische  Funktion  begiimt  ihre  Arbeit  schon  bei 
der  Produktion  der  elementaren  Grundbegriffe:  die  Psy- 
chologie zeigt,  wie  die  Gebilde  von  Raum,  Stoff  usw. 
aus  elementaren  Empfindmigen  entstehen:  schon  hier 
beginnt  die  Arbeit  des  diskursiven  Denkens,  und  darum 
eben  sind  schon  diese  Produkte  der  Psyche  Fiktionen, 
welche  der  logische  Trieb  macht,  mn  sein  Ziel  zu  er- 
reichen. So  baut  der  logische  Trieb  auf,  um 
schließlich  seine  Produkte  selbst  zu  zerstö- 
ren. Das  braucht  aber  nicht  zum  Pessimismus  zu  führen: 
auch  der  Gießer  zerbricht  die  Form,  weim  der  Glocken- 
guß fertig  ist.  So  bricht  die  logische  Funktion  ihr  zer- 
brechliches Gerüste  selbst  ab,  wenn  sie  ihr  Ziel  erreicht 
hat:  Feststellung  der  unabänderlichen  Verhältnisse  und 
Zusammenhänge. 


Das  Atom  als  Fiktion. 


71 


Diese  Betrachtungsweise  allein  kann  uns  von  dem 
Druck  der  logischen  Widersprüche  befreien,  welche  in  den 
wissenschaftlichen  Grundbegriffen  und  Grundprozessen 
sich  immer  mehr  enthüllen:  nicht  diese  selbst  sind  die 
Hauptsache,  sondern  sie  sind  Mittel.  Das  diskursive 
Denken  schafft  sich  selbst  immer  feinere  Mittel,  um  mit 
diesen  die  Wirklichkeit  zu  bearbeiten,  zu  umspannen,  zu 
umfassen:  es  ist  ein  logischer  Fehler,  das  Mittel,  das 
Instrument  mit  dem  Gegenstände  selbst  zu  verwechseln, 
zu  dessen  Bearbeitung  allein  es  berufen  ist. 

Wenn  der  logische  Mechanismus  anfgedeckt  ist,  so  verschwindet  der 
Anspruch  auf  sogenannte  objektive  Wahrheit;  denn  dann  ist  ja  eben 
die  Frage  beantwortet,  wie  es  komme,  daß  wir  mit  fiktiven  Ge- 
bilden doch  das  Wirkliche  berechnen  können;  das  muß 
schließlich  auf  einigen  wenigen  mechanischen  Grundprozessen  des 
psychischen  Lebens  beruhen.  Wenn  man  nach  der  Aufdeckung  die- 
ses Mechanismus  noch  behauptet,  diese  Gebilde  seien  doch  real, 
so  gleicht  man  jenem  bekannten  Bauern,  welcher,  nachdem  man 
ihm  den  Mechanismus  der  Dampfmaschine  gezeigt  hatte,  nach 
dem  Pferde  fragte,  welches  in  der  Lokomotive  stecke. 

Nmi  ist  aber  allerdings  der  Mechanismus  der  Lokomotive  ohne 
den  Zweck,  den  er  erfüllt,  nicht  zu  begreifen : so  ist  auch  der  Mecha- 
nismus des  Denkens  nicht  zu  begreifen  ohne  den  Zweck,  den  er 
erfüllen  soll:  als  solchen  können  wir  aber  nur  eine  Erleichterung 
und  Beschleunigung  der  Vorstellung sbewegimg,  eine  rasche  und 
sichere  Verbindung  und  Vermittlimg  der  Empfindimgen  bezeichnen. 
Es  gilt  also  zu  zeigen,  wie  die  fiktiven  Methoden  und 
Gebilde  dies  ermöglichen:  darin  besteht  aber  eben  der  Me- 
chanismus des  Denkens,  der  scldießlich  einzig  und  allein  zum  Ziele 
haben  kann,  Empfindungsvermittlungen  zu  ermöglichen,  d.  h.  das 
Handeln  zu  erleichtern.  Es  ist  also  zu  zeigen,  wie  das  Handeln 
dadurch  erleichtert  werde;  dabei  ist  festzuhalten,  daß  der  ganze 
]\Iechanismus  des  Denkens  ein  gegliedertes  System 
von  sich  gegenseitig  unterstützenden  Hilfsmitteln 
ist,  so  daß  die  Einen  Fiktionen  zunächst  nur  das  Instrument  selbst 
vervollkommnen,  und  selbst  wdeder  Hilfsmittel  des  Instruments  sind. 


Kapitel  XV. 

Das  Atom  als  Fiktion. 

Unsere  Aufgabe,  die  letzten  Fundamente  des  logischen 
Denkgerüstes  aufzudecken,  ist  noch  nicht  ganz  erfüllt: 
Avir  müssen  unserer  Übersicht  noch  einige  solcher  fiktiver 
Denkbegritfe,  Denkmittel  hinzufügen,  zunächst  das  Atom. 


72  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufxählung  d.  Fiktionen. 

Dies  ist  eine  Modifikation  des  allgemeinen  Begriffes  der 
Materie  und  verhält  sich  zu  ihr  seihst  wie  die  Diffe- 
rentialfiktion zu  der  Fiktion  einer  Länge  der  Kurven 
überhaupt ; die  Materie  wird  als  aus  unendlichkleinen 
Teilen  bestehend  betrachtet.  Es  ist  ein  wahrer  Kampf 
ums  Atom  entstanden,  der  sich  eben  auch  wieder  darum 
dreht,  ob  es  Hypothese  oder  Fiktion  sei:  freilich 
legen  erst  wir  diesem  Kampf  diesen  Namen  bei:  die 
Streitenden  selbst  waren  sich  ihrer  Sache  meist  nicht 
klar.  Meistens  wiesen  die  Gegner  des  Atoms  seine  Wider- 
sprüche nach  und  verwarfen  es  darum  als  unbrauchbar 
für  die  Wissenschaft.  Die  unvorsichtigen  Vorsichtigen! 
Ohne  das  Atom  fällt  die  Wissenschaft;  aber  allerdings 
— wahres  Wissen  und  Erkennen  ist  m it  demselben  nicht 
möglich.  Es  ist  ein  widerspruchsvoller  Vorstellungs- 
knoten, der  aber  notwendig  ist  zur  Berechnung  der 
Wirklichkeit.  Man  hat  erst  neuerdings  eingesehen,  daß 
das  Atom  eine  Fiktion,  eine  fiktive  Rechenmarke  sei,  und 
u.  a.  hat  Lieb  mann  dies  klar  ausgesprochen. 

Diese  Erkenntnis  gewinnt  aber  erst  Wert  in  dem  Zu- 
sammenhang unserer  systematischen  Betrachtung,  Avelche 
noch  vieles  andere  seiner  AVürdi;  als  Hypothese  beraubt 
und  dessen  Fiktivität  und  Subjektivität  nachweiat.  Die 
Streitigkeiten  um  das  Atom  werden  ebenfalls  ein  belehren- 
des und  höchst  interessantes  Thema  unserer  weiteren 
Behandlung  abgeben:  in  diesem  Kampf  konzentriert  sich 
ja  die  ganze  moderne  Naturphilosophie.  Die  SLeitenden 
griffen  die  Sache  meist  falsch  an.  Die  Verteidiger  sol- 
cher Begriffe  wollten  immer  nachwoisen,  daß  die  ent- 
deckten Widersprüche  nur  scheinbare  seien,  und  daß 
darum  der  Begriff  objektivii  Gültigkeit  liabe  und 
also  auch  angewendet  werden  dürfe.  Die  Gegner  wiesen 
immer  richtig  die  Widersprüche  nach  und  wollten  darum 
dem  Begriff  das  Bürgerrecht  in  d(ir  Wissenschaft  ver- 
sagen, schütteten  aber  das  Kind  mit  dem  Bade  aus,  wäh- 
rend jene  es  — ungewaschen  annahmen.  Das  Besultat 
Avar  dabei  immer,  daß  der  Begriff  trotz  aller  .Anfeindung 
stehen  blieb,  aber  auch  seine  Widersprüche  stets  neuen 
Widerspruch  herausforder  len. 

Nachträglich  erst  pflegt  die  Einsicht  zu  kommen,  daß 
beide  Teile  Unrecht  und  Recht  hatten:  der  Begriff  ist 


Fiktionen  der  Mechanik  und  mathematischen  Physik.  73 

zwar  widersprucb s voll,  aber  doch  nötig:  denn  die 
meisten  Grundbegriffe  sind  dieser  Art.  Dabei  ist  be- 
merkenswert, daß  im  Laufe  der  Zeit  das  Gefühl  dieser 
Widersprüche  durch  den  Gebrauch  dieser  Begriffe  sich 
abstumpft : Wie  haben  sich  unsere  heutigen  Mathematiker 
und  Physiker  an  Differentiale  und  Atome  gewöhnt  imd 
keiner  merkt  mehr  die  Widersprüche,  mit  denen  diese 
Begriffe  behaftet  sind.  Während  man  die  Widersprüche 
in  den  bisher  gewöhnten  Begriffen  nicht  sieht,  sieht  man 
sie  bei  den  neuen  Gebilden:  so  erregte  einst  die  Ein- 
führung des  Unendlichen,  der  Differentiale  denselben 
Widerspruch,  den  jetzt  die  Einführung  des  Raumes  mit 
n-Dimensionen  selbst  von  hochgebildeten  Denkern  erfährt : 
so  ging  es  auch  dem  Irrationalen,  Imaginären  in 
der  Mathematik. 


Kapitel  XVI. 

Fiktionen  der  Mechanik  und  mathematischen  Physik. 

Genau  wie  die  Mathematik  ihren  großartigen  Auf- 
schwung in  der  Neuzeit  einzig  und  allein  der  Ein- 
führung passender  Fiktionen  und  darauf  ba- 
sierter ingeniöser  Methoden  verdankt,  so  haben 
auch  die  Mechanik  und  mathematische  Physik  ihre  Fort- 
schritte in  den  letzten  Jahrhunderten  neben  der  Be- 
obachtung großenteils  der  Einführung  von  Fik- 
tionen zu  verdanken.  Solche  fiktiven  Begriffe:  die 
starre  Linie,  der  Körper  Alpha  (als  der  unbeweg- 
liche Mittelpunkt  des  absoluten  Raumes),  der  Schwer- 
punkt, die  actio  in  distans,  die  Kräfte  überhaupt  usw. 
sind  geradezu  die  Grundlagen  der  modernen  Mechanik. 

Um  die  theoretische  Darstellung  dieser  physikalischen 
Grundbegriffe  hat  sich  am  meisten  Duhamel  verdient 
gemacht,  der  in  seinen  methodologischen  Werken  diese 
Seite  der  theoretischen  Mechanik,  freilich  noch  ziemlich 
mangelhaft,  behandelt.  Überhaupt  wenn  sich  die  Logiker 
nur  die  Mühe  geben  würden,  bei  den  logischen  Denk- 
bewegungen der  Physiker  in  die  Schule  zu  gehen  und  hier 
zuzusehen,  wie  die  logische  Arbeit  gemacht  wird,  könn- 
ten sie  sehen,  wie  willkürlich  in  diesen  Gebieten  fiktive 


74  Erster  Teil : Prinzipielle  Grimdlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

Begriffsgebilde  formieid  werden.  Die  theoretische  Me- 
chanik besteht  zum  größten  Teil  aus  solchen  rein  will- 
kürlichen Begriffen,  welche  aber  auch  von  den  Physikern 
dafür  nur  als  Rechnungsmittel,  Hilfsbegriffe, 
Angriffspunkte,  theoretische  Ansätze  --  kurz 
als  Fiktionen  behandelt  werden.  Überhaupt  hat  die  mo- 
derne Logik  viel  zu  wenig  von  der  Mathematik  und 
ihren  bewunderungswürdigen  Methoden  gelernt.  Die  Logik 
muß  mehr  von  den  Methoden  der  Mathematik  und  Me- 
chanik lernen,  um  hier  zu  beobachten,  wie  denn  eigent- 
lich die  logische  Funktion  verfährt,  um  das  Wirkliche 
zu  berechnen : in  diesen  Gebieten  wimmelt  es  von 
K u n s t g r i f f e n.  Übrigens  ist  die  ganze  Mathematik  selbst 
nur  ein  Kunstgriff:  über  das  Seiende  selbst  gibt  sie 
kaum  einen  Aufschluß : sie  ist  ni clit  Selbstzweck, 
sondern  hat  ihren  Hauptzweck  darin,  eine  Methode  und 
ein  Hilfsmittel  zu  sein.  Die  Mathematik  ist  die  eigent- 
lich genialste  Methode  selbst,  um  das  Wirkliche  zu  be- 
rechnen, und  sie  dient  zur  Ausbildung  des  Maßstabes, 
auf  den  wir  die  ganze  Welt  zurückführen:  des  Raumes 
und  der  Bewegung  im  Raum.  Daß  auch  der  Begriff  der 
Bewegung  eine  Fiktion  sei,  das  konnten  schon  die 
eleatischen  Widersprüche  lehren:  diese  sind  so  wenig 
gelöst,  daß  sie  vielmehr  so  schroff  wie  damals  dastehen. 
Die  Bewegung  ist  nur  ein  Begriffsgebilde,  eine  Vorstellung, 
mit  welcher  wir  die  objektiven  Veränderungen  (die  aber 
für  uns  zuletzt  nur  als  Empfindungsveränderungen  ge- 
geben sind)  in  ein  geordnetes  System  zu  bringen  ver- 
suchen. Daß  aber  dieses  System  der  räumlichen  Be- 
wegung samt  allen  seinen  Unterbegriffen  nur  ein  fik- 
tives Begriffsgebilde  sei,  folgt  sowohl  aus  den 
Widersprüchen  des  Bewegungsbegriffes  selbst,  als  aus 
den  Widersprüchen  des  Raumbegriffes,  auf  dem  jener 
basiert.  Das  ist  eben  ein  zusammenhängendes  Gev/ebe, 
ein  zusammengeflochteiies  Netz  von  subjektiven,  fiktiven 
Vorstellungen,  mit  denen  wir  das  Wirkliche  umspannen. 
Das  Vorhaben  gelingt  denn  auch  leidlich;  aber  damit  ist 
noch  nicht  gesagt,  daß  der  Inhalt  auch  die  Form  des 
Netzes  haben  muß,  das  wir  über  ihn  ausspannen. 

Auch  die  Begriffe  eines  absoluten,  unendlichen 
Raumes  beruhen  auf  Fiktionen,  ebenso  wie  die  einer 


Das  Ding  an  sich. 


75 


absoluten  Bewegung  — wie  überhaupt  die  Absolut- 
erklärung eines  Elementes  eine  Form  der  Fiktion 
ist,  welche  mit  der  Verunendlichung  ziisarnmenhängt. 


Kapitel  XVlf. 

Das  Ding  an  sich. 

Ehe  wir  uns  zum  Begriff  des  Absoluten  wenden, 
haben  wir  noch  einen  anderen  Begriff  zu  besprechen; 
das  Ding  an  sich.  Nach  allem  Vorhergegangenen  kann 
unsere  Stellung  zu  diesem  Begriffe  nicht  unklar  sein: 
das  Ding  an  sich  ist  keine  Hypothese,  sondern 
eine  Fiktion.  Mit  dieser  Formel  haben  wir  viele  bis- 
herigen Schwierigkeiten  auf  einmal  gelöst.  Kant  ist  der 
.Urheber  dieses  Begriffes,  der  ein  Produkt  der  logischen 
Funktion  in  ihrer  imaginativen  Tätigkeit  ist.  Der  erste 
Punkt,  der  dadurch  erledigt  wird,  ist  da.s  historische 
Verständnis  Kants  selbst.  Die  ganze  Zweideutigkeit,  welche 
Kant  bei  diesem  Begriffsgebilde  entwickelt,  staanrnt  ledig- 
lich von  der  Unentschlossenheit,  von  dem  Schwanken 
zwischen  Ding  an  sich  als  Hypothese  oder  Fiktion:  so 
nennt  Kant  in  der  ersten  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V.  einmal 
das  Ding  an  sich  eine  „bloße  Idee“  = Fiktion.  Kant  war 
von  Anfang  an  bei  der  Bildung  dieses  Begriffes  nicht  viel 
klarer  gewesen,  als  einst  Leibniz  bei  der  der  Differentiale. 
Zweitens  erhält  die  Bezeichnung  Grenz  begriff  eine 
wichtige  Beleuchtung : als  Fiktion  ist  der  Begriff  des 
Dinges  an  sich  Grenzbegriff  in  demselben  Simre,  in 
welchem  von  der  Methode  der  Grenzen  in  der 
Mathematik  gesprochen  wird:  die  Grenze  wird  durch 
eine  Fiktion  zu  etwas  Realem  gemacht,  als  Reales  be- 
handelt. Auch  wird  der  ganze  Kampf  um  das  Ding  an 
sich,  wie  er  von  Reinhold,  Schulze,  Maimon, 
Jacobi,  Fichte  u.  a.  in  der  erstmaligen  Blüte  der 
Kant j sehen  Philosophie  geführt  worden  ist,  und  wie  er 
neuerdings  in  der  zweiten  Periode  dieser  Philosophie 
von  neuem  zum  Ausbruch  gekommen  ist,  dadurch  mit 
einem  Male  viel  klarer:  es  handelt  sich  einfach  darum, 
ob  das  Ding  an  sich  eine  Fiktion  sei  oder  eine 


76  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 


Hypothese.  Derjenige,  der  dies  klar  eingesehen  hat, 
ist  Maimon.  Schulze  sah  die  Widersprüche  des  Be- 
griffs und  verwarf  ihn:  Maimon  sah  die  Widersprüche  und 
behielt  den  Begriff  als  Fiktion  hei.  Ohne  Zweifel 
müssen  wir  seinem  Beispiel  folgen.  Durch  Maimon  ist 
auch  der  Vergleich  des  Dinges  an  sich  mit  dem  Imagi- 
nären, also  mit  |/  — a aufgekommen,  und  zwar  ist  dieser 
Vergleich  sehr  genial:  j/"  — « ist  das  Symbol  einer  mathe- 
matischen Fiktion:  es  ist  die  unberechtigte  Aus- 
dehnung und  Übertragung  einer  mathemati- 
schen Operation  auf  einen  Fall,  wo  das  Material 
diese  Anwendung  verbietet  und  zu  einer  Sinnlosigkeit 
macht:  nichtsdestoweniger  führt  die  mathematische  Rech- 
nung häufig  genug  auf  diesen  Begriff,  mit  dem  dann 
einstweilen  gerechnet  wird,  als  ob  er  eine  Realität,  eine 
darstellbare  Zahl  bezeichnete,  und  der  aber,  wohlgemerkt, 
am  Ende  der  Rechnung  stets  als  wertlos  wieder 
herausfällt. 

Genau  derselbe  Fall  liegt  vor  beim  Ding  an  sich. 

Das  Ding  an  sich  entsteht  durch  eine  unberechtigte  An- 
wendung einer  logischen  Operation;  jene  widerrechtlich 
ausgedehnte  mathematische  Operation  in  der  Formel 
(/■  — a ist  die  Radizierung.  diese  logische  Operation  ist 
die  Anwendung  der  Kategorien  von  Ding  und  Eigen- 
schaft (und  von  Kausalität)  auf  ein  Etwas,  wo  seine 
Anwendung  sinnlos  wird,  nämlich  auf  das  eigentliche 
und  letzte  Wirkliche.  Wenn  eimnal  feststeht,  daß  alle 
Kategorien  nur  subjektiv  sind,  so  kann  auch  diese  Kate- 
gorie nicht  auf  das  eigentliche  Wirkliche  angewandt 
werden.  Indessen  spielt  bekanntlich  hauptsächlich  noch 
eine  andere  Kategorie  herein:  die  Kategorie  der  Ur- 
sächlichkeit; diese  wird  ebenfalls  unberechtigt  ange- 
wandt auf  ein  Etwas,  wo  seine  Anwendung  unbefugt  ist, 
auf  das  eigentlich  Wirkliche.  Ist  nämlich,  wie  Kant  das 
tut,  festgestellt,  daß  diese  Kategorie  subjektiv  ist,  so 
ist  es  ein  Widerspruch,  dem  eigentlich  Wirklichen 
diese  Kategorie  zuzuschreiben.  Diese  Anwen- 
dung fällt  also  unter  die  oben  sogenannten  unberechtigten 
Übertragungen  oder  Ausdehnungen,  wo  ein  ganz  anderer 
Fall  unter  ein  gewisses  Begriffsgebilde  gebracht  wird, 


Das  Ding  an  sich. 


77 


der  nicht  für  dasselbe  geeignet  ist.  Speziell  ist  die  Ana- 
logie jener  unberechtigten  Ausdehnung  der 
mathematischen  Operationen  hier  aufklärend  — 
es  ist  ja  auch  hier  eine  unberechtigte  Anwendung  auf  ein 
ungeeignetes  Gebiet,  auf  das  eigentlich  Wirkliche.  Nur 
innerhalb  des  Rahmens  unseres  diskursiven  Denkens 
haben  diese  Kategorien  Sinn  und  Berechtigung,  hier 
dienen  sie  zur  Einleitung  der  logischen  Operationen. 
Nur  in  unserer  Vorstellungswelt  gibt  es  Dinge,  gibt  es 
verursachende  Dinge;  in  der  wahren  Welt  sind  diese 
Begriffe  ein  leerer  Schall. 

Indessen  ist  dieser  Begriff  des  Dinges  an  sich  trotz 
seiner  Widerspruchsfülle  nicht  zu  entbehren  für  die 
Philosophie,  ebensowenig  als  das  Imaginäre  für  die 
Mathematik.  Wenn  man  überhaupt  vom  Wirklichen 
sprechen  will,  so  muß  man  es  mit  einer  Kategorie  be- 
zeichnen: sonst  ist  es  nicht  bloß  undenkbar,  sondern  auch 
gar  nicht  einmal  ausdrückbar. 

Unsere  ganze  Erörterung  läuft  aber  schließlich  darauf 
hinaus,  daß  mit  dem  Ding  an  sich  die  subjektive, 
fiktive  Methode  ihren  Abschluß  findet.  Um  näm- 
lich die  Vorstellungswelt  in  uns  selbst  erklären  zu  können, 
nahm  Kant  an,  die  wahre  Welt  bestehe  aus  Dingen  an 
sich,  welche  in  gegenseitiger  Einwirkung  begriffen  seien, 
um  aus  dieser  Einwirkung  die  Genesis  der  Empfindun- 
gen zu  erklären;  nun  aber  ist  zu  bemerken,  daß  eigentlich 
Kant  nur  sagen  durfte  und  zuerst  auch  nur  sagen  wollte : 
man  muß  (wir  sind  vermöge  unseres  diskursiven  Denkens 
dazu  gezwungen)  das  wirkliche  Sein  so  betrachten,  als 
ob  es  Dinge  an  sich  gebe,  welche  auf  uns  wirken,  und 
dann  die  Vorstellung  der  Welt  in  uns  hervorbringen.  Fak- 
tisch hatte  er  nach  seinem  eigenen  System  auch  nur 
hierzu  das  Recht:  und  dann  war  eben  das  Ding  an 
sich  eine  notwendige  Fiktion,  indem  wir  nur  so  die 
wahre  Wirklichkeit  uns  vorstellen,  überhaupt  denken  und 
davon  sprechen  konnten.  Kant  hat  aber  diesen  reinen 
Standpunkt  nicht  festgehalteii,  sondern  ihm  hat  sich  das 
Ding  an  sich  in  eine  Realität,  kurz  in  eine  Hypo- 
these verwandelt:  daher  sein  Schwanken  in  der  Er- 
örterung des  Begriffes. 


78  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  A.  Aufzählung  d.  Fiktionen. 

Kapitel  XVIIJ. 

Das  Absolute. 

Als  letzte  und  höchste  Fiktion  haben  wir  noch  eine 
Modifikation  zu  betrachten,  welche  mit  dem  Ding  an 
sich  vorgenomnien  worden  ist,  indem  es  zum  Abso- 
luten  oder  zur  absoluten  S u b s t a n z enveitert  wird, 
oder  zur  absoluten  Weltkraft  usw.  Insofern  Ding, 
Substanz,  Ursache,  Kraft  — selbst  nur  Vorstellungs- 
gebilde voller  Widersprüche  sind,  sind  sie  schon  behan- 
delt und  auf  gezählt:  allein  der  Zusatz  des  Absoluten 
verschärft  die  Fiktion.  Die  Widersprüche  im  Begriff  des 
Absoluten  sind  so  eklatant,  daß  sie  schon  häufig  dar- 
gestellt worden  sind;  besonders  der  englische  ]\letaphy- 
siker  Man  sei  hat  sich  durch  den  Nachweis  dieser  Wider- 
sprüche Verdienste  erworben. 

Das  Absolute  ist  eine  metaphysische  Wendung  des 
mathematischen  Unendlichen.  Diese  beiden  Begriffs 
gebilde  sind  gleichwertige  Fiktionen.  Insofern  das  Abso- 
lute ein  Ding  neben  oder  über  der  Welt  sein  soll,  verfällt 
es  den  Widersprüchen  des  Dinges  überhaupt;  es  als 
Kraft  zu  denken,  führt  auf  andere  Widersprüche ; ob  diese 
Fiktion  dagegen  eine  wertvolle  Begriffsbildung  sei,  ist 
noch  die  Frage;  indessen  steht  ihr  enormer  prakti- 
scher  Wert  außer -Frage.  Wir  kennen  nur  Relatives,  wir  . 
kennen  nur  unabänderliche  Beziehungen  und  Gesetze  der  | 
Phänomene : alles  andere  ist  subjektive  Zutat.  Die  Scheidung  ; 
der  Welt  in  Dinge  an  sich  = Objekte  und  Dinge  an 
^ s i c h = Subjekte  ist  die  Urfiktion,  von  der  alle  anderen 

schließlich  abhängen.  Auf  dem  Standpunkt  des  kritischen 
Positivismus  gibt  es  also  kein  Absolutes,  kein  Ding 
an  sich,  kein  Subjekt,  kein  Objekt;  es  bleiben 
also  einzig  und  allein  die  Empfindungen  übrig,  welche  da 
sind,  welche  gegeben  sind,  aus  denen  die  ganze  subjek- 
tive Welt  auf  gebaut  ist  in  ihrer  Scheidung  in  eine  Welt 
physischer  und  in  eine  Welt  psychischer  Komplexe:  der  i 
kritische  Positivismus  erklärt  jede  andere  und  weitere  j 
Behauptung  für  fiktiv,  subjektiv  und  unbegründet : für  ihn  i 
existieren  nur  die  beobachteten  Sukzessionen  und  Ko-  j 
existenzen  der  Phänomene;  an  diese  allein  hält  er  sich. 

Jede  Erklärung,  welche  weitergeht,  kann  nur  mit  den  i 


Das  Absolute.  Stellung  der  Fiktionen. 


79 


Hilfsmitteln  des  diskursiven  Denkens  sich  weiter  behelfen, 
also  mit  Fiktionen.  Die  einzige  fiktionsfreie  Behauptung 
in  der  Welt  ist  die  des  kritischen  Positivismus.  Jede 
nähere,  eingehendere  Behauptung  über  das  Seiende  als 
solches  ist  fiktiv.  Insbesondere  ist  jedes  weitere,  darauf 
gebaute  System  wertlos,  insofern  es  sich  nur  im  Kreise 
der  Hilfsmittel,  Hilfsbegriffe  und  Instrumente  des  diskur- 
siven Denkens  bewegen  kann. 


B.  Logische  Theorie  der  wissenschaftlichen 
Fiktionen. 

Kapitel  XIX. 

Einleitende  Vorbemerkungen 
über  die  Stellung  der  Fiktionen  und  Semifiktionen 
im  Ganzen  des  logischen  Systems. 

Wir  haben  nunmehr  die  Aufstellung  der  Semifiktionen 
und  eigentlichen  Fiktionen  vollendet  und  unsere  Bemer- 
kung bestätigt  gefunden,  daß  ein  stetiger  und  allmäh- 
licher Übergang  zwischen  jenen  beiden  logisch  immer- 
hin noch  streng  zu  trennenden  Fiktionen  besteht.  Als  eine 
Semifiktion  begegnete  uns  zuerst  die  künstliche  Ein- 
teilung und  die  abstraktive  Methode,  und  zu- 
letzt schlossen  wir  mit  den  eigentlichen  Fiktionen  des 
Atoms,  des  Unendlichen,  des  Dinges  an  sich. 
Den  Übergang  zwischen  beiden  machten  etwa  die  prak- 
tischen Fiktionen  (IX),  von  wo  an  die  reinen  Fiktionen 
begannen.  Bei  jenen  Semifiktionen  fanden  wir  das  oben 
angegebene  Prinzip  bestätigt,  daß  sie  Methoden  und  Be- 
griffe sind,  welche  auf  einer  einfachen  Abweichung 
von  der  Wirklichkeit  beruhen;  diese  Abweichung 
ist  indessen  hier  eine  mehr  materiale;  dagegen  die  Ab- 
weichung der  Fiktionen  im  engeren  Sinn  ist  dazu  noch  eine 
f Ol  male,  indem  in  ihnen  nicht  nur  dem  Wirklichkeits- 
inhalt widersprechende  Begriffe  gebildet  werden,  son- 
dern indem  bei  diesen  sogar  die  neugebildeten  Begriffe 
dem  formalen  Grundgesetz  der  Wirklichkeit,  dem  Ge- 
setz der  Identität  und  des  Widerspruchs,  widersprechen 
und  also  selbstwidersprechend  sind. 


80  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


Wenn  wir  den  großen  Umfang  dieser  Methoden  betrach- 
ten, so  mag  es  uns  wohl  wundern,  warum  diese  Metho- 
den bisher  nicht  in  der  Logik  behandelt  worden  seien.  — 
Die  Behandlung  derselben  in  der  bisherigen  Logik  be- 
stand meistens  entweder  in  einer  falschen  Sub- 
sumtion dieser  Erscheinungen  unter  ähnliche,  aber  nicht 
identische  Fälle,  oder  einfach  in  — Ignorierung.  Man 
behandelte  die  fiktiven  Annahmen  meistens  unter  der 
Kategorie  der  Hypothesen^  und  doch  geht  aus  unserer 
obigen  Unterscheidung  deutlich  hervor,  daß  beide  himmel- 
weit verschieden  sind  trotz  der  Ähnlichkeit  ihrer  Er- 
scheinung: Soweit  die  oben  aufgezählten  Fiktionen  mehr 
in  Begriffen  sich  darstellen,  welche  eingeschoben  wer- 
den, in  Annahmen,  welche  den  Hypothesen  äußerlich 
ähnlich  sind,  behandelte  man  die  Fiktionen  als  Hypo- 
thesen; soweit  sie  aber  mehr  Methoden  sind,  stellte 
man  sie,  wenn  sie  überhaupt  berücksichtigt  wurden, 
mit  diesen  oder  jenen  induktiven  oder  deduktiven  Metho- 
den zusammen.  Tatsächlich  aber  hat  man  sie  meistens 
übergangen;  dieses  Stillschweigen  rührte  ebensosehr  von 
der  Scheu  vor  den  Schwierigkeiten  her,  welche  hier  zu 
liegen  scheinen,  als  von  der  Unkenntnis  im  methodo- 
logischen Detail  der  Wissenschaften. 

Nach  dem  bisher  Gesagten  kann  es  nicht  wiinder- 
nehmen,  wenn  wir  die  Fiktion  im  weitesten  Sinn,  als 
fiktive  Tätigkeit  gefaßt,  der  Deduktion  und  In- 
duktion als  ein  gleichberechtigtes  drittes  Glied  im 
System  der  logischen  Wissenschaft  hinzufügen.  Es 
scheint  uns  unstatthaft,  diese  oben  auf  gezählten  Metho- 
den einfach  der  Induktion  zuzuzählen,  eben  weil  sie 
nicht  bloß  den  induktiven  Wissenschaften  angehören,  und 
außerdem  ihre  ganze  Einrichtung,  ihr  Verfahren  durchaus 
den  Kunstregeln  der  Induktion  widerspricht. 

Demnach  betrachten  wir  es  als  eine  Notwendigkeit,  die 
Fiktion  mindestens  als  selbständigen  Anhang  zu 
der  bisherigen  Logik  der  Induktion  hinzuzufügen,  glauben 
aber  doch,  daß  sie  den  Rang  eines  gleichberechtigten 
Teiles  beanspruchen  darf. 

Die  Induktion  zeigt  die  direkten  Wege,  auf  denen  man 
sich  dem  Ziele  nähert  und  die  Schwierigkeiten  über- 
windet, die  Fiktion  die  indirekten,  die  Umwege. 


Stellimg  der  Fiktioneu 


81 


Die  Induktion  ist  eine  Methodologie  der  beschreibenden 
Naturwissenschaften;  die  Fiktion  ist  eine  Methode  der 
exakten,  mathematischen  Wissenschaften,  sowie  der 
moral-politischen  Disziplinen:  wogegen  sie  im  Gebiet  der 
beschreibenden  sowie  der  historischen  Wissenschaften 
beinahe  nicht  zur  Verwendung  kommen  kann.  Es  han- 
delt sich  hier  nämlich  bei  den  zuletzt  aufgezählten  Wissen- 
schaften gar  nicht  um  ein  theoretisches  Begreifen  wie  bei 
den  obigen,  sondern  um  Feststellung  kausaler  Zu- 
sammenhänge, welche  hier  nur  durch  treue  Beob- 
achtung und  sachliche  Schilderung  zu  erreichen  sind.  Es 
ist  eben  auch  eine  Hauptaufgabe  der  Logik,  resp.  der 
Methodologie,  die  Verschiedenheit  der  Methoden  der 
verschiedenen  Wissenschaften  aufzuweisen  und  zu 
erklären. 

Die  Deduktion  hängt  allerdings  enge  mit  der  Fiktion 
zusammen,  aber  nicht  enger  als  die  Induktion:  und  die 
Fiktion  ist,  besonders  in  einigen  Beispielen,  mit  dem 
Axiom  ebenso  nahe  verwandt  als  mit  der  Hypothese, 
unterscheidet  sich  aber  doch  himmelweit  von  beiden.  Beide, 
Axiom  und  Hypothese,  wollen  Ausdruck  einer  Wirk- 
lichkeit sein.  Da.s  ist  die  Fiktion  nicht  und  will  es  nicht  sein. 

Dies  hängt  jedoch  mit  einem  Punkte  zusammen,  den 
wir  schon  mehrfach  berührten,  und  den  wir  hier  beson- 
ders betonen:  die  wahre,  echte,  streng  wissenschaftlich 
aufgestellte  Fiktion  ist  stets  von  dem  Bewußtsein 
begleitet,  daß  der  fingierte  Begriff,  die  fingierte  Annahme 
keine  reale  Gültigkeit  habe:  die  bedeutendsten  histori- 
schen Fiktionen,  z.  B.  Linnes  System,  Smiths  Theorie, 
teilweise  auch  die  Atomistik  und  Differentialrech- 
nung zeigen  das. 

Zu  bemerken  ist,  daß  das  Bewußtsein,  mit  dem  die 
wissenschaftlichen  Fiktionen  aufgestellt  werden,  sich  auch 
darauf  erstreckt,  daß  sie  entweder  nur  provisorische, 
zu  späterem  Ersatz  oder  Korrektur  bestimmte  Begriffe 
sind,  oder  daß  sie  nur  den  logischen  Verkehr  ver- 
mitteln sollen.  Das  erste  trifft  mehr  ^ei  den  Semifiktionen, 
das  letztere  mehr  bei  den  eigentlichen  Fiktionen  zu: 
die  ersteren  sind  historisch-,  diese  logisch- provi- 
sorisch. Jene  fallen  einmal  im  Laufe  der  Zeit  weg,  diese 
fallen  im  Laufe  der  Rechnung  aus. 

Vaihinger,  Philosophie 


6 


82  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  H.  Theorie  der  Fiktionen. 

Wenn  wir  mit  Fehler  eine  Abweichung  von  der 
Wirklichkeit,  mit  Irrtum  einen  widersprechenden 
Begriff  bezeichnen,  so  können  wir  die  Semifiktionen  „be- 
wußte Fehler“,  die  echten  Fiktionen  „bewußte  Irr- 
tum er“  oder  „bewußte  Widersprüche“  nennen. 
Jene  dienen  mehr  nur  zu  praktischen  Zwecken,  diese  mehr 
zu  theoretischen,  jene  mehr  zum  „Berechnen“,  diese  mehr 
zum  „Begreifen“,  jene  führen  sich  auf  methodologische, 
diese  auf  erkenntnistheoretische  Motive  zurück;  jene  sind 
mehr  indirekte  Methoden,  diese  mehr  inkorrekte  Begriffe ; 
jene  sind  mehr  kunstreich,  diese  mehr  künstlich.  Jene 
setzen  ein  Gedachtes  an  Stelle  des  Gegebenen, 
diese  durchsetzten  das  letztere  mit  Undenkbarem. 
Jene  nehmen  Unwirkliches,  diese  Unmögliches  an.  Jene, 
indem  sie  von  der  Wirklichkeit  abweichen,  weichen 
den  Schwierigkeiten  aus.  Diese  schaffen  dagegen  neue 
Schwierigkeiten;  diese  schalten  also  auch  viel  freier 
mit  dem  Gegebenen  als  jene;  jene  verfälschen  nur  die 
gegebene  Wirklichkeit,  um  die  wahre  Wirklichkeit  zu 
finden,  diese  machen  sie  unbegreiflich,  um  sie  — be- 
greiflich zu  machen.  Jene  sind  nur  Umwege,  bewegen 
sich  aber  auf  demselben  Terrain,  diese  verlassen  ganz 
den  Boden  der  Wirklichkeit  und  bewegen  sich  in'  der  I^nft. 
J ene  verha Iten  sich  konträr,  diese  kontradiktorisch 
zum  Gegebenen.  Jene  substituieren  dem  Wirklichen  ein 
Verändertes,  diese  schieben  unmögliche  Glieder  ein;  jene 
sind  also  Substitutionen,  diese  Interkalati  onen. 
Die  Semifiktionen  sind  meist  einfacher  als  die  Wirk- 
lichkeit sich  darstellt,  die  echten  Fiktionen  kompli- 
zierter. Die  Fehler,  welche  durch  jene  gemacht  werden, 
müssen  korrigiert  werden,  damit  der  Gewinn  sich  rein 
herausstelle;  hier  werden  Irrtümer  nur  vermieden,  wenn 
die  Begriffe  wieder  aus  der  Rechnung  wegfallen.  Wenn 
durch  jene  Methoden  F ehler  gegen  den  objektiven 
Tatbestand  der  Wirklichkeit  begangen  werden,  so  wer- 
den hier  eigentlich  formale  Denkfehler  begangen,  lo- 
gische Fehler.  Jene  wandeln  auf  Umwegen  und  Fuß- 
wegen, diese  aber  auf  verbotenen  Wegen.  Jene  modi- 
fizieren das  Gegebene,  diese  infizieren  es  gewisser- 
maßen mit  Elementen,  die  nicht  zu  ihm  gehören  und  doch 
dazu  dienen,  es  zu  erfassen. 


Abgreuzuüg  der  wisseaschaftlicheii  Fiktion. 


83 


Kapitel  XX. 

Abgrenzung  der  wissenschaftlichen  Fiktion 
von  anderen  Fiktionen,  besonders  von  der  ästhetischen. 

Nachdem  wir  so  innerhalb  der  Fiktionen  selbst  die 
Unterschiede  normiert  haben,  müssen  wir  auch  die  Gren- 
zen der  wissenschaftlichen  Fiktion  demgegenüber 
abstecken,  was  man  sonst  noch  mit  dem  Ausdrucke 
„Fiktion“  zu  bezeichnen  pflegt. 

Fictio  heißt  zunächst  die  Tätigkeit  des  fingere ^ also  des 
Bildens,  Formens,  Gestaltens,  Bearbeitens, 
Dar  stelle  ns,  künstlerischen  Formiere  ns;  das 
Sich- Vor  stellen,  Denken,  Ein  bilden^  Anneh- 
men, Entwerfen,  Ersinnen,  Erfinden.  Zweitens 
bezeichnet  es  das  Produkt  dieser  Tätigkeiten,  die 
fingierte  Annahme,  die  Erdichtung,  Dichtung,  den  erdich- 
teten Fall.  Das  freigestaltende  Moment  ist  dabei 
das  hervortretendste  Merkmal. 

Ich  schlage  vor,  künftighin  alle  wissenschaftlichen  Fiktionen  — 
Fiktionen  zu  nennen,  dagegen  alle  anderen,  so  die  mythologischen, 
ästhetischen  usw.  Figmente.  Also  z.  B.  Pegasus  ist  ein  Figment, 
Atom  ist  eine  Fiktion.  Das  wird  jedenfalls  zur  leichteren  Unter- 
scheidung beitragen.  Die  Gegner  der  Fiktion,  verkennen  sie  also 
insofern,  als  sie  sie  für  ein  bloßes  Figment  halten;  ^^Fictio^^  hat 
schon  juristisch  den  Nebenbegriff  praktischer  Zweckmäßigkeit. 

.Insofern  die  Mythologie  als  gemeinsame  Mutter  von 
Religion,  Poesie,  Kunst  und  Wissenschaft  zu  betrachten 
ist,  tritt  in  ihr  zuerst  die  freigestaltende  Tätigkeit  der  Ein- 
bildungskraft hervor,  der  Imagination,  der  Phantasie.  Tn 
ihr  zuerst  entstehen  Produkte  der  Phantasie,  denen  kein 
Wirkliches  entspricht.  Indessen  ist  die  psychologische 
Genesis  aller  Fiktionen  aus  allen  Gebieten  dieselbe; 
Steinthal  hat  das  hinreichend  hervorgehoben.  Als 
solche  mythologischen  Fiktionen  bezeichnet  man  nicht 
nur  allgemein  alle  Göttergestalten,  sondern  speziell  auch 
solche  Gebilde,  welche  aus  empirischen  Elementen  frei 
zusammengesetzt  sind.  Die  beliebtesten  Beispiele  sind 
hier  der  Pegasus,  die  Sphinx,  der^Zentaur,  der 
Greif  — auch  hier  bemerken  wir  die  freigestaltende 
Tätigkeit  der  Seele  wirksam  in  willkürlicher  Verbindung 
und  Veränderung  gegebener  Wirklichkeitselemente.  So 
sehr  diese  und  andere  Fiktionen,  also  Engel,  Teufel, 


84  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  d,  Fiktionen. 

Nixen,  Geister  usw.  für  die  logische  Theorie  der 
Existenzialsälze  interessant  sein  mögen,  so  sind  sie 
doch  für  unser  Thema  hier  unwichtiger.  Höchstens 
insofern  als  das  Urteil : „Die  Materie  besteht  aus  Atomen“ 
oder  „die  krumme  Linie  besteht  aus  Infinitesimalen“ 
eben  nicht  anders  vers landen  werden  darf,  denn  als  ein 
fiktives  Urteil,  in  welchem  keine  Existenz 
ausgesagt  werden  soll.  Wird  dies  aber  doch  hinein- 
gelegt (d.  h.  wird  das  Urteil  nicht  so  ausgelegt:  die 
Materie  ist  so  zu  betrachten,  als  ob  sie  aus  Atomen 
bestünde);  so  verwandelt  sich  eben  die  richtige  Fik- 
tion in  ein  unrichtiges  Urteil,  also  in  einen  Irr- 
tum. Die  erste  Bedeutung  von  Fiktion  = mythologisches 
Wesen  ist  also  hiermit  von  der  wissenschaftlichen  Fiktion 
abgegrenzt;  ebenso  alle  spezielleren  religiösen  Fiktionen. 
Indessen  sahen  wir  doch  oben,  wie  bestimmte  theolo- 
gische Fiktionen  für  die  wissenschaftliche  Betrachtung 
der  Fiktion  von  Wert  sein  können.  Es  ist  eben  auch  hier 
ein  allmählicher  Übergang  von  Dichtung  und  Wissenschaft. 

An  die  mythologischen  und  religiösen  Fiktionen 
schließen  sich  enge  die  ästhetischen  Fiktionen  an, 
die  zum  Teil  einfach  poetische  Verwertungen  jener  sind, 
zum  Teil  aber  neugebildet  werden.  Die  ästhetische  Fik- 
tion begreift  nicht  bloß  alle  Gleichnisse,  Bilder,  Ver- 
gleichungen in  sich,  sondern  auch  diejenigen  Vorstel- 
lungsformationen, welche  noch  viel  freier  schalten  mit 
der  Wirklichkeit.  Hierzu  sind  nicht  bloß  alle  Personi- 
fikationen zu  rechnen,  sondern  auch  Allegorien  und  kurz 
alle  idealisierenden  Vorstellungsformen.  Die  ästhetische 
Fiktion,  resp.  eine  Theorie  derselben  schließt  sich  zum 
Teil  sehr  enge  an  die  wissenschaftliche  Fiktion  an;  und 
das  ist  ganz  natürlich,  wenn  man  bedenkt,  daß  in  der 
Bildung  beider  dieselben  elementaren,  psychischen 
Grundprozesse  mitwirken.  Die  ästhetische  Fik- 
tion dient  dem  Zwecke,  gewisse  erhebende  oder  sonst 
wichtige  Empfindungen  in  uns  zu  wecken.  Auch  ist  die 
ästhetische  Fiktion  wie  die  wissenschaftliche  nicht  Selbst- 
zweck, sondern  Mittel  zur  Erreichung  höherer  Zwecke. 
Diese  Parallele  läßt  sich  noch  weiter  aüsführen,  und 
sie  ist  äußerst  belehrend.  Ähnlich  wie  gegen  die  Einfüh- 
rung wissenschaftlicher  Fiktionen  ein  erbitterter  Kampf 


Abgrenzung  der  wissenschaftlichen  Fiktion.  85 

sowohl  irn  allgemeinen  als  jedesmal  bei  dem  speziellen 
Begriff  sich  erhoben  hat,  so  wogte  auch  um  die  ästhe- 
tische Fiktion  — wie  dies  dem  Kenner  der  Geschichte 
der  ästhetischen  Theorie  wohl  bekannt  ist  — ein  hart- 
näckiger Kampf.  Es  ist  der  noch  jetzt  naohzuckende 
Kampf  um  den  Grad,  in  dem  die  Einbildungs- 
kraft abweichen  darf  von  der  Natur,  inwiefern 
sie  sich  nachahmend  verhalten  soll,  und  wieweit -sie  frei 
gestaltend  verfahren  darf.  Und  wie  in  der  Wissenschaft, 
so  ist  auch  in  der  Poesie,  von  der  wir  hier  speziell 
sprechen,  mit  den  Fiktionen  ein  großer  Unfug  getrieben 
worden,  der  häufig  eine  Reaktion  zur  Folge  hatte,  welche 
aus  ganz  ähnlichen  Gründen  erfolgte,  wie  die  Re- 
aktion gegen  den  Mißbrauch  der  wissenschaftlichen  Fik- 
tionen. Der  eigentliche  Maßstab,  inwieweit  solche 
Fiktionen  in  beiden  Gebieten  zuzulassen  seien,  und  den 
dort  der  gute  Geschmack,  hier  der  logische  Takt 
stets  innegehalten  hat,  ist  einfach  der  praktischeWert 
solcher  Fiktionen. 

Eine  weitere  Art  von  Fiktionen  sind  die  Fiktionen  der  kon- 
ventionellen Umgangsformen.  Die  meisten  Phrasen  des 
Umganges  sind  Fiktionen,  v.  Hartmann  in  seinem  Aufsatz; 
„Über  die  Verlogenheit  des  modernen  Lebens“  hat  zwar  wohl  ge- 
zeigt, daß  die  meisten  Wendungen  im  Umgang  sowie  auch  die 
Phrasen  in  der  Politik  usw.  „Lügen“  seien,  er  hat  aber  vergessen, 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  das  nicht  bloß  erlaubte, 
sondern  notwendige  Fiktionen  sind,  ohne  vrelche  der  feinere 
Verkehr  unmöglich  wird,  tmd  die  es  daher  auch  immer  schon  ge- 
geben hat.  Diese  Art  kann  man  die  höfliche  Fiktion  nennen. 

Also  auch  hier  ist  dasselbe  Prinzip,  daß  gewisse  Rede-  und 
Vorstellungsformen,  welche  an  sich  rein  erfunden  und  unwirklich 
sind,  den  Verkehr  erleichtern.  Die  höflichen  Fiktionen  nennt 
man  wohl  auch  konventionelle  Fiktionen.  Wemi  ich  sage: 
„Ihr  Diener“,  so  heißt  das  nicht:  ich  bin  Ihr  Diener,  sondern: 
Betrachten  Sie  mich  so,  als  ob  ich  es  wäi’e.  Das  Ais  ob  ist 
also  auch  im  praktischen  Leben  unentbehrlich : ohne  solche  Fik- 
tionen ist  kein  feineres  Leben  möglich. 

Dies  führt  weiter  zu  der  etwa  „offizielle  Fiktionen“  zu 
nennenden  Form:  so  kann  es  z.  B.  im  Interesse  eines  Staates 
liegen,  eine  offizielle  Fiktion  zu  machen;  auch  solche  Formen 
tadelt  E.  v Hartmann  ganz  ungerechtfertigt;  nur  wenn  sie  ausarten, 
ist  jener  Tadel  am  Platz;  hier  muß  der  moralische  Takt  ent- 
scheiden, wie  sonst  der  ästhetische  Geschmack  und  der  lo- 
gische Takt  über  die  Anwendung  von  Fiktionen  entscheidet. 

So  greift  die  Fiktion  tief  ins  praktische  Leben  hinein.  Auch 
hier  ist  häufig  der  Fall,  daß  ursprüngliche  Hypothesen  zu  Fik- 


88  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 

tionen  werden.  Solche  Fälle  können  enorm  prnktibch  werden:  z.  B. 
die  Eidfrage:  bei  der  gegenwärtigen  Eidformel  macht  jeder,  der 
auf  sie  schwört,  ohne  an  Gott  zu  glauben,  eine  erlaubte  Fik- 
tion. Die  Wendung:  Ich  schwöre  bei  Gott,  dem  Allmächtigen  — 
heißt  dann:  Ich  schwöre,  als  ob  es  ein  Gott  hörte.  Solche  Fik- 
tionen  sind  nicht  nur  erlaubt,  sondern  ge  bo  ten  in  gewissen  Fällen 
und  ein  Sträuben  dagegen  ist  lächerlich. 

Allerdings  birgt  diese  unsere  Theorie  der  praktischen  Fik- 
tionen — sie  ist  nur  eine  Konsequenz  der  kritischen  Weltan- 
schauung — viele  Gefahren  in  sich,  welche  z.  B.  E.  v.  Hartmann 
richtig  aufzeigte.  Allein  Faktum  ist,  das  solche  Fiktionen  notwen- 
dig sind:  sie  sind  eine  Folge  der  menschlichen  Unvollkommenheit, 
genau  wie  auch  die  diskursiven  Hilfsmittel  durchaus  kein  Vorzug 
sind  (wie  z.  B.  Nicolai  richtig  hervorhob).  Ob  sie  aber  bloß  Folgen 
der  Unvollkommenheit  seien,  ist  noch  eine  Frage.  Man  sieht 
hieraus,  wie  unsere  Theorie  auch  für  die  praktische  Philosophie 
wichtig  wird.  Unser  ganzes  höheres  Leben  beruht  auf  Fiktionen: 
wir  haben  schon  oben  gezeigt,  daß  unseres  Erachtens  eine  reine 
Ethik  nur  auf  Grund  der  Anerkennung  ihrer  fiktiven  Grundlage 
aufgebaut  werden  kann.  Wie  nahe  dadurch  Täuschung  und  „Wahr- 
heit“ gerückt  werden,  liegt  auf  der  Hand.  Wir  werden  noch  unten 
darauf  hinweisen,  daß  „Wahrheit“  nur  der  zweckmäßigste  Irrtum 
sei.  Es  ist  ein  Irrtum,  zu  meinen,  daß  eine  absolute  Wahrheit  zu 
finden  sei,  oder  ein  absoluter  Maßstab  von  Wissen  und  Handeln; 
das  höhere  Leben  beruht  auf  edelenTäuschungeii.  So  zeigt 
sich,  daß  unsere  Theorie  also  auch  eine  ganz  andere  praktische 
Weltanschauung  mit  sich  führt,  als  die  gewöhnliche. 


Kapitel  XXL 

Der  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese. 

Daß  die  Fiktion  meist  als  Hypothese  behandelt  wurde 
(während  sie  doch  methodologisch  ganz  davon  ver- 
schieden ist),  dieses  Faktum  haben  wir  schon  erwähnt: 
es  findet  seine  Erklärung  darin,  daß  Fiktion  und  Hypo- 
these sich  äußerlich  sehr  ähnlich  sehen,  daß  beide  fak- 
tisch nicht  streng  immer  zu  trermen  sind,  und  endlich 
dariri,  daß  die  logische  Theorie  überhaupt  immer  erst 
einige  Zeit  nach  der  Ausbildung  einer  wissenschaftlichen 
Praxis  zu  kommen  imstande  und  im  Rechte  ist. 

Die  Hypothese  geht  stets  auf  die  Wirklichkeit^) : 
d.  h.  das  in  ihr  enthaltene  Vorstellungsgebilde  macht 

h Bei  mehreren  gleichmöglichen  Hypothesen  wählt  man  darum  die 
wahrscheinhehere  aus ; dagegen  bei  mehreren  gleichmöglichen  Fiktionen 
wählt  man  die  zweckmäßigste  aus  — darin  zeigt  sich  der  Unter- 
schied beider  Gebilde  sehr  deutlich. 


Der  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese. 


87 


den  Anspruch  oder  hat  die  Hoffnung,  sich  mit  einer  einst 
zu  gebenden  Wahrnehmung  zu  decken:  sie  unterwirft 
sich  der  Probe  auf  ihre  Wirklichkeit  mid  verlangt 
schließlich  Verifikation,  d.  h.  sie  will  als  wahr,  als 
wirklich,  als  realer  Ausdruck  eines  Realen  nachge- 
wiesen werden.  Ausnahmslos  will  die  Hypothese  ein 
Wirkliches  statuieren;  sind  wir  auch  über  das  fak- 
tische Vorkommen  des  hypothetisch  Angenommenen 
noch  nicht  sicher  und  gewiß,  so  hoffen  wir  doch,  daß  dies 
Angenommene  sich  eines  Tages  erweisen  werde.  Also 
wenn  wir  die  Hypothese  aufstellen,  daß  der  Mensch 
aus  niederen  Säugetieren  hervorgegangen  sei,  so  wollen 
wir  damit  strikte  das  wirkliche  Vorhanden- 
gewesensein der  unmittelbaren  und  mittelbaren  Vor- 
fahren des  Menschen  behaupten,  wir  wollen  sagen,  daß 
wir  glauben,  hätten  wir  damals  gelebt  — eine  praktisch 
unmögliche,  aber  logisch  notwendige  Fiktion  — so  wären 
diese  Formen  auch  in  unsere  Wahrnehmung  getreten, 
und  daß  Avir  hoffen,  die  Reste  dieser  nun  verschwun- 
denen Mittelglieder  aufzufinden.  Wir  werden  zur  Auf- 
stellung dieser  Hypothese  genötigt  durch  die  Konsequenz 
des  Kausalgesetzes.  Nach  diesem  bis  jetzt  als  unab- 
änderlich beobachteten  Gesetz  ist  jedes  Phänomen  aus 
anderen  zu  erklären,  außer  es  sei  ein  Elementarphänomen. 
Da  nun  der  menschliche  Organismus  alle  Spuren  davon 
trägt,  .daß  er  kein  Eiementarphänomen  sei,  so  müssen 
andere  Phänomene  seine  Entstehung  verursacht  haben. 
Danach  schließen  wir  auf  das  uns  nicht  bekannte  Glied  — 
the  missing  link  - dieses  notwendigen  Kausal  Verhält- 
nisses nach  Analogie  der  mis  sonst  bekannten  Zusairnneii- 
hänge:  Avas  Avir  erschließen  und  hypothetisch  annehmen, 
ist  dies  Vorhandengewesensein  von  Mittelformen,  aus 
denen  die  jetzigen  Menschen  unmittelbar  entstanden  sind 
nach  unabänderlichen  Gesetzen  der  Sukzession.  Dies 
ist  eine  Hypothese. 

Nun  können  Avir  gleich  hieran  die  Fiktion  Verdeut- 
lichen. Wenn  Goethe  das  Vorstellungsgebilde  eines 
Urtieres  einführt,  nach  dessen  Analogie  alle  Tiere  zu 
behandeln  und  zu  erklären,  als  dessen  Modifikationen 
alle  bekannten  Tierarten  zu  betrachten  seien,  so  ist  die 
Erdichtung  eines  solchen  Urtieres  eine  schematische 


88  Erster  Teil:  Prinzipielle  Gnindlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


Fiktion.  Denn  Goethe  will  damit  wohl  nicht  das  fak- 
tische Vorhandensein  eines  Urtieres  behaupten,  er  will 
nicht  sagen,  daß  ein  solches  jemals  in  die  Wahrnehmung 
fallen  könnte  oder  irgendwo  existieren  könnte  oder 
existiert  hätte:  sondern  er  will  sagen,  daß  alle  Tiere  so 
zu  betrachten  seien,  als  ob  sie  Abkömmlinge  eines  Ur- 
tieres, als  ob  sie  Modifikationen  eines  solchen  seien. 
Das  Fiktive  an  dieser  Fiktion  ist  die  Betrachtung, 
als  ob  es  ein  solches  Tier  geben  könnte:  das 
Hypothetische  daran  — es  ist  eine  Semifiktion  — ist 
die  Behauptmig,  daß  alle  tierischen  Formen  reduzierbar 
seien  auf  einen  Typus  : dies  ist  eine  auf  Beobachtung  be- 
ruhende Behauptung,  deren  Richtigkeit  induktiv  zu 
erweisen  ist:  daß  nämlich  alle  tierischen  Formen  im 
ganzen  und  einzelnen  als  Modifikationen  eines  solchen 
idealen  Typus- zu  betrachten  seien. 

Welchen  Wert  diese  Go  et  besehe  Fiktion  habe,  liegt 
auf  der  Hand : sie  gibt  Anlaß  zu  einer  ganz  neuen  Klassi- 
fikation der  tierischen  Formen  und  bereitet  außerdem  heu- 
ristisch die  Wahrheit  vor.  Nun  hat  sich  im-  Laufe  der 
Zeit  diese  Goethe  sehe  Fiktion  als  eine  heuristische 
bewährt,  ist  aber  jetzt  weggefallen,  weil  die  wahre  Be- 
trachtung in  Gestalt  des  Darwinismus  an  ihre  Stelle 
getreten  ist,  nämlich,  daß  alle  tierischen  Formen  von- 
einander wirklich  abstammen,  und  daß  ein  Urtier  höch- 
stens als  Monere  gedacht  werden  könne.  Die  Goethe- 
sche  Fiktion  hat  also  heuristisch  die  Darwinsche  Hypo- 
these vorbereitet.  Während  der  Darwinismus  das  wirk- 
licheVorhandensein  solcher  Urtiere  behauptet,  leug- 
net sie  gerade  Goethe. 

Goethe  will  seine  Idee  nur  als  Fiktion  betrachtet 
wissen.  Nun  ist  aber  das  nicht  ein  Irrtum'  gewesen,  wie 
man  etwa  meinen  könnte,  sondern  das  Goethesche 
Urtier  war  eine  brauchbare  Fiktion,  indem  es  mit  Ein- 
schluß jener  Moneren  für  alle  Formen  eine  Urform, 
einen  Urtypus  aufstellt,  als - dessen  Modifikationen  alle 
zu  betrachten  sind.  Ob  jedoch  diese  Fiktion  noch  brauch- 
bar sei,  ist  eine  andere  Frage.  Die  heutigen  Urtiere 
(Moneren,  Bathybien)  sind  keineswegs  das  Urtier 
Goethes,  der  darunter  weder  so  formlose  Wesen  ver- 
stand, wie  jene  Urtiere  sind,  noch  ein  wirkliches  Vor- 


Der  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese. 


89 


korruTien  des  Urtieres  behauptete,  das  für  ihn  nur  als 
Singular,  also  als  Typus  bestand  (nicht  Urtiere,  son- 
dern das  Urtier,  sagte  Goethe).  Demnach  geht  die 
Fiktion  keineswegs  darauf  aus,  etwas  Wirkliches  zu 
behaupten,  sondern  etwas,  nach  dem  sich  die  Wirklich- 
keit berechnen  und  begreifen  läßt,  was  in  dem 
eben  angegebenen  Beispiel  wirklich  der  Fall  ist.  Zu- 
gleich ist  dieses  Beispiel  auch  Zeuge  davon,  wie  leicht 
Fiktion  und  Hypothese  zu  verwechseln  sind, 
imd  wie  notwendig  und  wohltätig  hier  eine  scharfe, 
logische  Distinktion  ist. 

Die  Bestimmung  der  Hypothese  ist  freilich  auch  nur 
eine  provisorische  — aber  das  Ziel,  dem  sie  zu- 
steuert, ist  ihre  theoretische  Durchführung  und 
die  Bestätigung  durch  die  Tatsachen  der  Er- 
fahrung. Auch  die  Hypothese  soll  also  aufgehoben 
werden,  aber  dadurch,  daß  die  hypothetische  Vor- 
stellung als  vollberechtigt  unter  den  Kreis  des 
als  wirklich  Angenommenen  tritt.  Die  provisorische  Be- 
stimmung der  Fiktion  dagegen  ist  eine  ganz  andere: 
die  Fiktion,  soweit  wir  sie  als  provisorisches  Hilfs- 
gebilde bezeichnet  haben,  soll  im  Laufe  der  Zeit  weg- 
fallen und  der  wirklichen  Bestimmung  Platz  machen; 
soweit  sie  aber  echte  Fiktion  ist,  soll  sie  wenigstens 
logisch  wieder  ausfallen,  sobald  sie  ihre  Dienste  ge- 
tan hat. 

Nun  ist  aber  in  dem  Gesagten  auch  angegeben,  inwie- 
fern in  einzelnen  Fällen  ein  Zweifel  darüber  bestehen 
kann,  ob  eine  bestimmte  Annahme  Fiktion  oder  Hypo- 
these sei:  wenn  die  Hypothese  so  allgemein  ist,  daß 
sie  sich  schließlich  unmöglich  mit  der  gegebenen  Wirk- 
lichkeit decken  kann,  und  wenn  man  dann  eine  Modi- 
fikation dieser  Hypothese  zugleich  mit  der  Verifikation 
ihres  allgemeinen  Teiles  erwartet.  Also  z.  B.  die  Smith- 
sche  Annahme  kann  man  noch  etwa  eine  Hypothese 
nennen,  insofern  ja  die  betreffende  Annahme  wirk- 
lich zum  Teil  Faktisches  ausdrückt,  und  man  die 
Modifikation  dieser  allgemeinen  Annahme  durch  andere 
hinzutretende  Bedingungen  erwartet:  nichtsdestoweniger 
ist  es  in  solchen  Fällen  immer  besser,  um  allen  Irrtum 
zu  vermeiden,  eine  solche  Annahme  Fiktion  zu  nennen. 


90  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


Andererseits  möchte  es  sich  doch  auch  manchmal  emp- 
fehlen, eine  bestimmte  Annahme  nicht  sofort  unter 
die  Fiktionen  zu  versetzen,  wenn  man  noch  zweifelhaft 
sein  kann,  ob  nicht  die  Annahme  doch  vielleicht  einem 
Wirklichen  entspräche.  Man  muß  sich  durch  die  Bezeich- 
nung Fiktion  nicht  den  Weg  zur  Verifikation  versperren, 
oder  gar  noch  weniger  darf  man  den  naheliegenden 
Fehler  begehen,  aus  Faidheit  einfach  jede  Annahme  zur 
Fiktion  zu  stempeln,  um  sich  der  mühsamen  Arbeit 
der  Verifikation  zu  entziehen.  Es  kann  im  einzelnen 
Falle  sehr  fraglich  sein,  ob  eine  bestimmte  Amiahme 
Fiktion  oder  Hypothese  sei,  und  man  kann  über  eine 
bestimmte  Annahme  die  Hypothese  aufs  teilen, 
daß  sie  nur  eine  Fiktion  sei.  Die  Möglichkeit  dieser 
Verflechtung  ist  aber  der  beste  Beweis,  daß  Fiktion  und 
Hypothese  zu  unterscheiden  sind.  Wenn  es  also  zweifel- 
haft ist,  ob  man  eine  bestimmte  Annahme  als  Fiktion 
oder  Hypothese  betrachten  soll,  so  muß  hierüber  erst 
immer  eine  sorgfältige  spezielle  Untersuchung 
entscheiden. 

Der  eigentliche  Unterschied  zwischen  beiden  also  ist, 
daß  die  Fiktion  bloßes  Hilfsgebilde  ist,  bloßer 
Umweg,  bloßes  Gerüst,  welches  wieder  abgeschlagen 
werden  soll,  die  Hypothese  dagegen  einer  definitiven 
Fixierung  entgegensieht.  Jene  ist  künstlich,  diese 
natürlich.  Oft  kann  etwas,  was  ds  Hypothese  unhaltbar 
ist,  als  Fiktion  recht  gute  Dienste  leisten,  wovon  wir 
oben  viele  Beispiele  hatten.  Freilich  kann  auch 
andererseits  eine  Fiktion  im  Laiiife  der  Zeit 
entbehrlich  werden,  und  das  Denken  wirft  seine 
Krücken  immer  gerne  weg;  indessen  werden  die  haupt- 
sächlichsten der  echten  Fiktionen  doch  niemals  aus  dem 
Denken  herausgestoßen  werden,  da  ohne  sie  eben 
diskursives  Denken  gar  nicht  möglich  ist. 

Die  Hypothese  hat  schließlich  nur  theoretischen  Zweck, 
um  das  Gegebene  in  Zusammenhang  zu  bringen,  um  die 
Lücken  dieses  Zusammenhanges,  welche  unsere  Erfah- 
rung uns  reichlich  darbietet,  zu  schließen,  sowie  um  die 
letzten  und  eigentlich  primären  Unabänderlichkeiten  fest- 
zustellen : dagegen  hat  jede  Fiktion  streng  genommen 
nur  einen  praktischen  Zweck  in  der  Wissenschaft,  denn 


Der  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese. 


91 


ein  eigentliches  Wissen  schafft  sie  nicht.  Die  Hypo- 
these will  faktisch  beobachtete  Widersprüche  wegschaffen, 
die  Fiktion  schafft  logische  Widersprüche  herbei.  Dem- 
nach ist  die  Tendenz  und  darum  auch  natürlich  die  Me- 
thode der  Anwendung  bei  beiden  eine  ganz  andere.  Die 
Hypothese  will  entdecken,  die  Fiktion  erfinden. 
Darum  heißt  jene  oft  auch  decouverte;  dagegen  nennt 
man  allgemein  (z.  B.  d’Alembert)  die  Differentialrechnung 
eine  „Invention“.  So  entdeckt  man  Naturgesetz  e, 
aber  man  erfindet  Maschinen:  insofern  die  Fik- 
tionen wissenschaftliche  Denkinstrumente  sind,  ohne 
welche  eine  höhere  Ausbildung  des  Denkens  immögiich 
ist,  werden  sie  erfunden.  Bekanntlich  sind  indessen 
Entdeckung  und  Erfindung  nicht  immer  in  jedem 
Fall  scharf  zu  unterscheiden,  so  auch  nicht  Hypothese 
und  Fiktion.  Das  Atom  ist  keine  naturwissenschaftliche 
Entdeckung,  sondern  eine  Erfindung. 

Wir  haben  oben  davon  gesprochen,  daß  jede  Hypo- 
these durch  Verifizierung  bestätigt  werden  muß. 
Aber  soll  denn  nicht  auch  bei  der  Fiktion  etwas  Ähn- 
liches stattfinden? 

Der  Verifizierung  der  Hypothese  entspricht  die 
Justifizierung  der  Fiktion.  Muß  jene  durch  Erfahrung 
bestätigt  werden,  so  muß  diese  gerechtfertigt 
werden  durch  die  Dienste,  welche  sie  der  Erfahrungs- 
wissenschaft schließlich  leistet.  Wenn  ein  fiktives  Vor- 
stellnhgsgebilde  aufgestellt  wird,  so  muß  die  Berech- 
tigung und  Entschuldigung  hierfür  davon  ab- 
geleitet werden,  daß  dieses  fiktive  Gebilde  dem  dis- 
kursiven Denken  Dienste  leistet  und  sich  als  ein  nütz- 
liches Hilfsmittel  desselben  erweist.  Diese  Rechtferti- 
gung ist  immer  also  Sache  eines  speziellen  Nachweises, 
wie  die  Verifikation.  Fiktionen,  welche  sich  nicht 
justifizieren,  d.  h.  als  nützlich  und  notwen- 
dig rechtfertigen  lassen,  sind  ebenso  zu  elimi-^ 
nieren,  wie  Hypothesen,  denen  die  Verifikation  fehlt. 

Wie  die  Hypothesenbildung  ein  ebenso  berechtigtes  als 
unentbehrliches  Mittel  der  wissenschaftlichen  Forschung 
ist,  so  ist  es  auch  die  Fiktion.  Was  A.  Lange  von  den 
Hypothesen  sagt,  gilt  mutatis  mutandis  auch  von  der 
Fiktion:  „Der  Verständige  ist  nicht  der,  welcher  die 


- 92  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 

Hypothesen  vermeidet,  sondern  der,  welcher  die  wahr- 
scheinlichsten stellt,  und  den  Grad  ihrer  Wahrscheinlich- 
keit am  besten  abzu schätzen  weiß.“  Setzen  wir  hier 
statt:  Hypothesen  Fiktionen  und  statt:  Wahrscheinlich- 
keit Zweckmäßigkeit,  so  gilt  dies  ganz  von  den 
Fiktionen.  Auch  dasjenige,  was  man  den  Verächtern 
der  Hypothesen  mit  R.echt  einzuwenden  pflegt,  daß  näm- 
lich selbst  die  gewöhnlichsten  Annahmen  der  Menschen 
auf  Hypothesen  beruhen,  welche  nur  einen  hohen  Grad 
von  Wahrscheinlichkeit  (und  oft  noch  nicht  einmal  diesj 
erreicht  haben,  kann  und  muß  man  den  Gegnern  der 
Fiktionen,  z.  B.  Dühring,  einwenden : daß  sie  nämlich 
sogar  nicht  den  gewöhnlichsten  Satz  aussprechen  können, 
ohne  Fiktionen  zu  machen.  Solche  sind  ja  schon  die  Kate- 
gorien und  Allgemeinbegriffe,  ohne  welche  kein  Satz 
entstehen  kann.  Diese  sind  nur  im  Laufe  der  Zeit  so 
gang  und  gäbe  geworden,  daß  man  ihnen  die  Fiktivität 
gar  m*cht  mehr  anmerkt.  Faktisch  sind  es  Fiktionen, 
welche  tagtäglich  aufs  neue  durch  die  zweckmäßigen 
Dienste,  welche  sie  dem  Menschen  leisten,  justifiziert 
werden. 

Es  ist  natürlich,  daß  die  Fiktion  eine  ganz  andere 
Methodologie  haben  muß  als  die  Hypothese.  Die  Metho- 
dologie dieser  besteht  wesentlich  darin,  daß  die  An- 
nahme nicht  bloß  denk  möglich,  sondern  auch  fak- 
tisch möglich  sei,  sowie  daß  alle  Erfahrungstatsachen 
damit  stimmen : eine  einzige  damit  unvereinbare  Tatsache 
kann  die  Hypothese  stürzen.  Von  solchen  Dingen  ist  nun 
bei  der  Fiktion  nicht  die  Rede:  der  Widerspruch  der 
Erfahrung  und  selbst  der  Einspruch  der  Logik  kümmern 
sie  nicht  oder  wenigstens  nur  in  ganz  anderer  Weise  als 
die  Hypothese.  Das  Prinzip  der  methodischen 
Regeln  der  Hypothese  ist  die  Wahrscheinlichkeit, 
das  der  Fiktionsregeln  die  Zweckmäßigkeit  der  Begriffs- 
gebilde. Aus  diesem  allgemeinen  Prinzip  lassen  sie  sich 
ableiten ; aber  sie  werden  besser  induktiv  festgestellt,  aus 
der  Beobachtung  der  einzelnen  Fiktionen  und  des  Ver- 
fahrens, welches  bei  ihrer  Anwendung  zum  Ziele  führt. 
Die  Zweckmäßigkeit  bestimmt  nicht  nur  die  An- 
nahme oder  Verwerfung  einer  einzelnen  Fiktion,  sondern 
auch  die  iViiswahl  luiter  mehreren.  Ist  einmal  eine  Fik- 


Der  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese* 


03 


tion  dann  angenommen,  so  ist  die  Hauptforderung,  sich 
zu  hüten,  aus  der  Fiktion  eine  Hypothese  oder  gar 
ein  Dogma  zu  machen,  und  das  aus  der  Fiktion  Ab- 
geleitete an  Stelle  der  Wirklichkeit  zu  setzen,  ohne  zuvor 
die  nötige  Korrektur  gemacht  zu  haben.  Eine  viel 
wichtigere  Forderung  aber  ist  noch,  sich  durch  die  Wider- 
sprüche der  Fiktion  mit  der  Erfahrungswirkliclikeit  und 
durch  die  Widersprüche  der  Fiktion  in  sich  selbst  nicht 
beirren  und  stören  zu  lassen  und  nicht  aus  diesen  Wider- 
sprüchen sogenannte  Weiträtsel  herauszuklauben;  also 
nicht  an  den  Fiktionen,  als  ob  sie  der  Kern  wären,  hängen 
zu  bleiben,  sondern  sie  als  Fiktionen  zu  durchschauen, 
und  darum  auch  mit  dieser  Erkenntnis  sich  zu  begnügen, 
ohne  sich  durch  die  aus  ihr  ergebenden  Scheinfragen  und 
Scheinprobleme  locken  und  verwirren  zu  lassen. 

Grübeleien  über  jene  Widersprüche  führen  mitten  in 
die  tiefsten  Irrgänge  des  Denkens  hinein,  und  man  muß 
sich  hüten,  in  diesen  Umwegen  des  Denkens,  in  diesem 
Irrgarten  sich  zu  verlieren.  Das  sind  also  ganz  andere 
Regeln  als  bei  der  Hypotliese:  Lotze  sagt  darum  richtig 
(Logik,  S.  399),  „daß  jede  Hypothese  nicht  bloß  Denk- 
figur  oder  Veranschaulichungsmittel  sein  wolle,  son- 
dern Angabe  einer  Tatsache;  wer  eine  Hypothese 
aufstellt,  glaubt  die  Reihe  der  wirklichen,  beobachtbaren 
Tatsachen  durch  glückliches  Erraten  nicht  minder  wirk- 
licher, aber  unbeobachtbarer  verlängert  zu  haben“.  „Die 
betreffende  Tatsache  muß  als  eine  bestehende  Wirk- 
lichkeit vorgestellt  werden.“  Fiktionen  dagegen,  sagt 
er  S.  400,  „sind  Annahmen,  die  man  mit  dem 
vollständigen  Bewußtsein  ihrer  Unmöglichkeit 
macht,  sei  es,  daß  sie  innerlich  widersprechend  sind,  oder 
aus  äußeren  Gründen  nicht  als  Bestandteile  der  Wirklich- 
keit gelten  können“.  Lotze  gibt  hiermit  sehr  richtig  nicht 
nur  den  Unterschied  der  Fiktion  von  der  Hypothese  an, 
sondern  auch  der  innere  Unterschied  der  beiden  Arten 
der  Fiktionen  wird  wenigstens  angedentet. 


94  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  H.  Theorie  der  Fiktionen. 


Kapitel  XXII. 

Die  sprachliche  Form  der  Fiktion.  Analyse  des  „als  ob“. 

Wir  müssen  nun  auch  im  Zusammenhang  das  be- 
sprechen, v/as  uns  bisher  schon  hin  und  wieder  als 
bemerkenswert  auf  stieß  — die  sprachliche  Form 
u n d A u s d r u ck s w e i s e der  Fiktion.  Auch  aus  dieser 
wird  sich  der  tiefe  Unterschied  ergeben,  der  zwischen 
Fiktion  und  Flypothese  prinzipiell  besteht:  schon  die 
verschiedene  und  ganz  auffallende  sprachliche  Ausdrucks- 
weise hätte  von  der  Vermischung  mit  den  Hypothesen  ab- 
halten sollen.  Überhaupt  ist  ja  die  Grammatik  ein 
Feld,  auf  dem  die  Logik  ihre  Materie  zu  sammeln  hat; 
denn  wenn  Denken  und  Sprechen  auch  nicht  eins  sind, 
so  ist  doch  die  -Sprache  ein  Mittel,  mit  dem  das  Denken 
sich  hilft;  und  die  Untersuchung  der  feineren  Ausbildung 
dieses  Denkmittels  ist  also  eine  höchst  wichtige  Aufgabe 
und  zugleich  ein  fruchtbares  Feld  für  die  logische  Theorie. 
Wenn  auch  keine  Identität  von  Sprechen  und  Denken,  so 
besteht  doch  ein  Zusammenhang  zwischen  beiden.  Darmn 
hat  Aristoteles  ganz  richtig  seine  Logik  an  die  Grammatik 
angeknüpft.  Unter  den  Neueren  hat  nur  Lambert  hier 
originelle  Ideen  gehabt:  indem  er  die  logische  Bedeutung, 
den  logischen  Wert  der  einzelnen  Partikeln  eingehend 
untersucht.  Die  Verbindungen  der  Sätze  durch  Partikeln 
sind  ja  doch  eigentlich  die  logischen  Scharniere,  durch 
welche  die  einzelnen  Glieder  Zusammenhängen;  in  den 
Partikeln  ist  oft  eine  ganz  logische  Gedankenreihe  zu- 
sammengepreßt. Die  logische  Analyse  eines  gegebenen 
Gedankenzusammenhanges  hat  darum  insbesondere  die 
Verbindungspartikeln  ins  Auge  zu  fassen. 

Wir  haben  die  Ausdruoksformen  der  Fiktion  schon 
mehrfach  kennengelernt:  z.  B.  jede  krumme  Linie  ist 
zu  betrachten  (läßt  sich  betrachten,  muß  betrachtet 
werden),  als  ob  sie  aus  unendlich  vielen,  unendlich 
kleinen  geraden  Linien  bestünde.  Hier  haben  wir  also 
eine  seltsame  Kombination.  Wir  legen  zunächst  nicht 
den  Wert  darauf,  daß  der  erste  Satz  sowohl  problema- 
tisch, als  assertorisch,  als  apodiktisch  ausge- 
sprochen werden  kann:  wir  konzentrieren  unsere  Auf- 


Sprachliche  Form  der  Fiktion.  Analyse  des  „als  ob“. 


95 


merksamkeit  auf  die  seltsame  Partikelkomplikation,  „als 
ob“  oder  „wie  wenn“. 

Unsere  Behauptung,  daß  alle  Fiktionen  schließlich  auf 
die  komparative  Apperzeption  zurückzuführen 
seien,  wird  unterstützt  durch  ihre  sprachliche  Form. 
Denn  was  liegt  in  der  Partikelkomplikation:  als  ob,  wie 
wenn  usw.?  Offenbar  erstens  eine  Vergleichung;  das 
liegt  ja  auf  der  Hand;  als,  wie  sind  vergleichende 
Partikeln.  Es  wird  also,  urii  den  speziellen  Fall  zu 
wählen,  die  krumme  Linie  betrachtet  einmal  wie  eine 
Reihe  von  Infinitesimalen;  hier  ist  also  die  erste  ver- 
gleichende Apperzeption:  die  krumme  Linie  wird 
apperzipiert  von  dem  Vorstellungsgebilde  des  Infinitesi- 
malen. Allein  diese  Vergleichung  wird  dann  doch 
noch  modifiziert  durch  das  Wenu,  das  Ob.  Es  ist  eben 
keine  einfache  Vergleichung,  kein  bloßer  Tropus, 
aber  auch  keine  reale  Analogie;  die  Vergleichung  liegt 
also  zwischen  dem  Tropus  und  der  realen  Analogie  mitten 
inne,  also  zwischen  der  rhetorischen  Vergleichung  und 
der  wirklichen  Gleichheit  und  Gleichsetzung.  Es  ist  ja 
doch  eine  andere  Vergleichung,  als  wenn  z.  B.  die  ver- 
gleichende Anatomie  den  Organismus  des  Menschen 
mit  dem  des  Gorilla  vergleicht,  oder  wenn  die  ver- 
gleichende Sprachwissenschaft  den  Organismus  der  ger- 
manischen Sprachen  etwa  mit  dem  der  romanischen 
vergleicht:  das  sind  ja  reale  Analogien,  Vergleichungen 
auf  Grund  gemeinsamer  Abstammimg,  gemeinsamer  Bil- 
dungsgesetze. Es  ist  aber  doch  auch  wieder  eine  andere 
Vergleichung  als  ein  bloßer  Tropus,  wenn  man  z.  B.  die 
krumme  Linie  mit  den  krummen  Wegen  eines  Verbrechers 
oder  umgekehrt  vergleicht.  Dies  ist  ein, Tropus;  eine  reale 
Analogie  aber  wäre  es,  wenn  man  die  vier  Kegel- 
schnitte unter  sich  vergleicht.  Wenn  ich  aber 
die  krumme  Linie  als  eine  gerade  betrachte?  Ist 
das  ein  Tropus?  Sicher  ist  es  mehrl  Ist  es  eine  reale 
Analogie?  Sicherlich  ist  es  weniger!  Es  ist  eine  Fik- 
tion. Die  V ergleichung  ist  nur  indirekt möglichdurch 
den  Mittelbegriff  des  Inf inite  s i m als.  Wäre  es 
eine  Analogie,  wäre  es  ein  Tropus,  so  genügte  das  ein- 
fache Wie.  Da  es  aber  keines  von  beiden  ist,  so  bekommt 
das  Wie  den  Zusatz  des  Wenu,  das  Als  den  des  Ob.  Was 


yfi  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung,  b.  Theorie  der  Fiktionen, 


liegt  denn  nun  in  diesem  Zusatz  enthalten?  Im  Wenn 
liegt  die  Annahme  einer  Bedingung,  und  zwar  hier 
eines  unmöglichen  Falles.  In  dieser  Partikelkomplikation 
liegt  eben  der  ganze  Gedankeiigang  einer  Fiktion.  Analy- 
sieren wir  also  weiter:  Legen  wir  nun  einmal  das  Wenn 
zugrunde,  dann  hieße  der  Satz : Wenn  es  Infinitesimale 
gäbe,  so  wäre  die  krumme  Linie  als  aus  ihnen  zusammen- 
gesetzt zu  betrachten;  oder:  Wenn  es  Atome  gäbe,  so 
wäre  die  Materie  als  aus  ihnen  zusammengesetzt  zu  be- 
trachten. Oder  noch  ein  anderes  Beispiel:  Wenn  der 
Egoismus  die  einzige  Triebfeder  des  menschlichen  Han- 
delns w^äre,  so  müßten  sich  die  sozialen  Verhältnisse 
einzig  und  allein  aus  ihm  deduzieren  lassen. 

In  dem  Konditionalsatz  würd  hier  ein  Unwirk- 
liches oder  Unmögliches  gesetzt:  nichtsdestoweniger  las- 
sen sich  aus  diesem  Unwirklichen  oder  Unmöglichen 
diese  oder  jene  Folgerungen  ableiten.  Trotz  der  Unwirk- 
lichkeit oder  Unmöglichkeit  wird  die  Annahme  aber  doch 
formal  aufrecht  erhalten;  sie  wird  als  ein  Apperzeptions- 
gebilde betrachtet,  dem  sich  etwas  subsumieren,  aus 
dem  sich  etwas  deduzieren  läßt. 

Was  liegt  nun  in  dem  Wie  wenn?  in  dem  Als  ob?  Es 
muß  doch  wohl  außer  der  Unwirklichkeit  und  Un- 
möglichkeit der  gemachten  Annalime,  welche  der 
Konditionalsatz  enthält,  noch  etwas  darin  stecken; 
die  Partikel  enthält  offenbar  noch  den  Entschluß,  trotz 
dieser  Schwierigkeiten  die  Annahme  formal 
aufrecht  zu  erhalten.  Zwischen  dem  Wie  und  dem 
Wenn,  dem  Als  und  dem  Ob  liegt  also  ein  ganzer  sub- 
intelligierter  Satz.  Was  heißt  nun  also:  Die  Materie 
muß  betrachtet  werden,  wie  wenn  sie  aus  Atomen  be- 
stünde, als  ob  sie  aus  Atomen  bestünde?  — Das  kann 
nichts  anderes  heißen  als:  die  empirisch  uns  gegebene 
Materie  muß  so  betrachtet  werden,  wie  sie  zu  behan- 
deln wäre,  wenn  sie  aus  Atomen  bestehen 
würde.  Oder:  die  krumme  Linie  muß  so  behandelt 
werden,  wie  sie  zu  behandeln  wäre,  wenn  sie  aus 
Infinitesimalen  bestünde.  Oder:  die  sozialen  Ver- 
hältnisse müssen  so  betrachtet  werden,  wie  sie  zu  be- 
trachten wären,  wenn  der  Egoismus  die  einzige  Triebfeder 
der  menschlichen  Handlungen  wäre.  Damit  ist  also 


i 


sprachliche  Form  der  Fiktion.  Analyse  des  „als  ol)“.  97 

die  Notwendigkeit  (oder  Möglichkeit  oder  Wirklichkeit) 
einer  Subsiimtiou  unter  eine  unmögliche  oder  unwirk- 
liche Annahme  klar  ausgesprochen. 

Dasselbe  Resultat  ergibt  natürlich  auch  die  andere 
Form:  als  ob.  Ob  heißt  im  Mittelhochdeutschen  wenn. 
Also : die  Materie  ist  so  zu  betrachten,  als  sie  zu  be- 
trachten wäre,  „ob“  sie  usw. 

Demnach  wird  in  dieser  Formel  ausgesprochen,  daß 
das  gegebene  Wirkliche,  daß  ein  Einzelnes  verglichen 
werde  mit  einem  Anderen,  dessen  Unmöglich- 
keit oder  Unwirklichkeit  zugleich  ausge- 
sprochen wird.  Auf  die  Art  des  Konditionalsatzes 
kommt  es  nun  an,  was  für  eine  Fiktion  hier  speziell 
jedesmal  stattfinde.  Z.  B.  in  der  juristischen  Fiktion 
lautet  die  Formel  so:  Dieser  Erbei)  ist  so  zu  behandeln, 
wie  er  zu  behandeln  wäre,  wenn  er  vor  seinem  Vater, 
dem  Erblasser  gestorben  wäre,  d.  h.  er  ist  zu  enterben. 
Oder  ausgehend  von  wenn:  Wenn  die  betreffende  Person 
vor  ihrem  Vater  gestorben  wäi’e,  so  würde  sie  behandelt 
wie  alle  solche:  sie  würde  nichts  erben.  Die  betreffende 
Person  ist  gleich  einer  solchen,  ganz  wie  eine  solche 
zu  behandeln,  als  solche  zu  behandeln.  Es  wird  also  hier 
zunächst  eine  Vergleichung  ausgesprochen,  d.  h.  die 
Aufforderung,  eine  vergleichende  oder  subsumierende 
Apperzeption  zu  vollziehen;  ein  solcher  Satz  sagt 
zunächst  nichts  anderes  aus,  als  z.  B.  der  Satz:  der 
Mensch  ist  wie  ein  Gorilla  zu  betrachten,  und  warum? 
weil  er  eben  ihm  ähnlich  ist.  Ebenso  in  allen  jenen 
Fällen:  es  wird  die  Aufforderung  zu  einer  vergleichen- 
den Apperzeption  ausgesprochen;  allein  zugleich  mit 
dieser  Aufforderung  wird  nun  in  diesem  Falle  ausge- 
sprochen, daß  diese  Vergleichung  auf  einer  unmög- 
lichen Bedingung  beruht;  anstatt  sie  aber  nun 
zu  unterlassen,  wird  sie  aus  anderen  Grün- 
den doch  vollzogen. 

Nun  erhellt  auch  zugleich  die  sprachliche  Ähnlichkeit 
der  Fiktion  mit  dem  Irrtum  und  der  Hypothese. 

Bekanntlich  ist  die  grammatische  Formel  für  den 
Irrtum  genau  dieselbe.  Darum  eben  wird  die  Fiktion  mü 

1)  Nach  römischem  Recht  mrd  ein  tmwürdiger  Sohn  oder  Erbe  so 
behandelt,  selbst  wenn  das  Testament  gar  nichts  davon  sagt. 

Vaihingrer,  Philosophie.  7 


98  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


dem  Irrtum  so  oft  verwechselt.  Man  sagt  z.  B. ; Des- 
cartes  betrachtete  die  Vorstellungen  Gottes  und  des  Ab- 
soluten, als  ob  sie  angeboren  seien:  allein  dies  ist  ein 
Irrtum  usw.  Hier  ist  also  in  derselben  Formel 
der  Irrtum  markiert,  der  ja  eben  psychologisch  auch 
ganz  dieselbe  Formation  hat  wie  die  Fiktion:  die  Fiktion 
ist  ja  nur  ein  bewußter,  praktischer,  frucht- 
barer Irrtum.  Hier  wird  dann  aber  freilich  etwas 
anderes  subintelligiert.  Plier  wird  nicht  ausgespro- 
chen, daß  die  Vergleichung  doch  aufrecht  zu  erhalten  sei, 
sondern  sie  wird  als  unbrauchbar  zurückgewiesen. 

Man  sieht,  wie  viele  feine  Wendungen  des  Gedankens 
in  dieser  Partikelkomplexion  gemacht  werden,  und  wie 
sie  zu  verschiedenen  Zwecken  dienen  kann. 

Aus  der  oben  gegebenen  Analyse  geht  aber  auch 
wiederum  die  Verwandtschaft  mit  der  Hypothese  her- 
vor. Die  Form  der  Fiktion  der  Atome  heißt  also:  die 
Materie  muß  so  betrachtet  werden,  wie  sie  betrachtet 
werden  würde,  wenn  es  Atome  gäbe,  aus  denen  sie 
zusammengesetzt  gedacht  wird.  Die  Form  der  Hypo- 
these in  bezug  auf  dieselbe  Annahme  aber  hiebe:  Nur 
unter  der  Voraussetzung,  daß  und  wenn  es 
Atome  gibt,  ist  die  empirische  Erscheinung 
der  materiellen  Phänomene  erklärbar.  In  die- 
ser weitläufigeren  Ausdrucksweise  sieht  man  nun,  wie 
w e i t b e i d e V o r s t e 1 1 u n g s f o r m e n s i c li  doch  auch 
sprachlich  unterscheiden. 

Trotz  dieser  gelegentlichen  Zweideutigkeit  der  Sprache 
ist  der  grammatische  Unterschied  zwischen  Fiktion  und 
Hypothese  sehr  bemerkenswert;  Linne  sagte  nicht:  die 
Pflanzenwelt  ist  objektiv  eingeteilt  nach  meinen  Arten ; 
L e i b n i z sagte  nicht : die  krumme  Linie  besteht  aus 
Infinitesimalen,  und  unsere  modernen  Naturforscher 
sagen  auch  nicht,  soweit  sie  wenigstens  einigermaßen 
philosophisch  geschult  sind:  Die  Materie  ist  aus  Atomen 
zusammengesetzt.  Auch  Kant  hat  niemals  direkt  ge- 
sagt: Die  wahre  Welt  besteht  aus  einer  Mehrheit  freier 
intelligibler  Wesen  — sondern  alle  haben  jenes  „Als  ob“ 
eingeschoben,  mochte  dies  nun  wörtlich  gebraucht  sein, 
oder  mit  einer  Umschreibung,  wie  z.  B.  Leibniz  sagt, 
das  Infinitesimale  sei  ein  modus  dicendi,  Kant  dagegen 


sprachliche  Fonii  der  Filttion.  Analyse  des  „als  ob“. 


99 


von  einer  Idee  spricht;  unsere  Naturforscher  sprechen 
von  Hilfsbegriffen,  Hilfsvorstellungen  usw.  In 
all  diesen  Ausdrücken,  die  sich  durch  Sammlung  noch 
vermehren  lassen,  liegt  eben  das  „Als  ob“  auf  irgend- 
eine Weise  versteckt,  und  alle  sind  nur  andere  Formen 
der  Fiktion  und  ihrer  Ausdrücke.  S p r a c h 1 i c h ist  cs  also 
nicht  leicht  möglich,  Fiktion  und  Hypothese  zu  ver- 
wechseln; und  wenn  jemals  hier  statt  „dies  muß  oder 
kann  betrachtet  werden,  als  ob“  — steht,  so  ist 
dies  eben  entweder  nur  eine  kompendiari sehe  Aus- 
druck sw  eise  oder  schlechthin  ein  Irrtum.  Meistens 
bedienen  sich  aber  alle  Wissenschaften  des  genaueren 
Ausdruckes.  Kein  Mathematiker  sagt:  Jede  Fläche  ist  aus 
Dreiecken  zusammengesetzt,  sondern  bei  seinen  trigono- 
metrischen Grundlinien  sagt  er:  Durch  Ziehung 
von  Hilfslinien  kann  jede  Fläche  als  aus  meh- 
reren, vielen  Dreiecken  bestehend  vorgestelit 
und  behandelt  werden.  Auch  der  vorsichtige  Psycho- 
loge oder  Jurist  sagt  nicht,  der  Mensch  ist  frei,  sondern  er 
sagt:  Der  Mensch  muß,  wenigstens  im  Rechtsleben  und 
in  der  moralischen  Beurteilung,  so  behandelt  und 
betrachtet  werden,  als  ob  er  frei  Aväre. 

Beim  fiktiven  Urteil,  wie  wir  dieses  zusammengesetzte 
Urteil  nennen  können,  wird  also  die  Möglichkeit  oder 
Notwendigkeit  einer  Vergleichung,  eines  Ur- 
teils ausgesprochen,  mit  der  gleichzeitigen  Bemer- 
kung, daß  dieses  Urteil  aber  nur  subjektive  Gül-, 
tigkeit,  keine  objektive  Bedeutung  besitze;  es 
ist  leicht  zu  sehen,  daß  in  den  oben  mitgeteilten  sprach- 
lichen Ausdrucksweisen  wirklich  das  ausgedrückt  ist: 
1.  die  Leugnung  objektiver  Gültigkeit,  d.  h.  die  Behaup- 
tung der  Unwirklichkeit  oder  Unmöglichkeit  des 
im  Konditionalsatze  Gesagten;  2.  eben  die  subjek- 
tive Gültigkeit,  die  Behauptung,  daß  dieses  Urteil 
doch  subjektiv,  für  den  menschlichen  Betrach- 
ter zulässig  oder  gar  notwendig  sei. 

Daraus  geht  denn  auch  hervor,  daß  das  Avissensciiait- 
liche  fiktive  Urteil  (im  Unterschied  von  der  ästhetischen 
Fiktion)  erst  auf  einer  hohen  Stufe  der  menschlichen 
Geistesentwicklung  auftreten  konnte.  Das  fiktive  Urteil  hat 
sich  im  Avesentlichen  erst  in  der  modernen  Zeit  ent- 


100  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Tliet>rie  der  Fiktionen. 

wickelt,  zugleich  einerseits  mit  dem  Fortschritt  der  Mathe- 
matik und  Mechanik  und  Jurisprudenz,  andererseits  zu- 
gleich mit  der  Einsicht  in  den  Tatbestand,  daß  nämlich 
objektives  Geschehen  oder  Sein  und  subjek- 
tive Betrachtungsweise  zwar  häufig  am  Ende  Zusammen- 
treffen im  Resultate,  aber  doch  nicht  identisch  sind, 
während  das  Altertum  trotz  seiner  Skepsis  in  erkenntnis- 
theoretischer  Naivität  befangen  ^var.  Eine  solch  ver- 
wickelte Urteilskomplikation  ist  also  erst  in  einer  fort- 
geschrittenen Periode  des  Menschengeistes 
möglich. 


Kapitel  XXIII. 

Sammlung  anderer  Ausdrücke  für  „Fiktion“. 

Nachdem  wir  die  verschiedenen  spraclilichen  Aus- 
drucksweisen für  die  Fiktionen  kennengelernt  haben,  wird 
es  auch  zweckdienlich  sein,  die  verschiedenen  Be- 
zeichnungen zusammenzustellen,  unter  denen  bisher 
die  Fiktion  behandelt  worden  ist,  und  mit  denen  sie  mehr 
oder  minder  richtig  und  treffend  getauft  worden  ist.  Es 
ist  eine  recht  ansehnliche  Anzahl  solcher  Bezeichnungen, 
unter  denen  uns  mehrere  schon  begegnet  sind.  Häufig 
nennt  man  sie,  mit  einfacher  Übersetzung  des  lateinischen 
Terminus,  Erdichtungen,  Einbildungen,  Hirnge- 
spinnste,  Phantasien,  phantastische  Begriffe, 
Imagination,  imaginäre  Begriffe.  Man  spricht 
auch  von  Quasidingen  oder  auch  von  Quasibegrif- 
fen. So  hat  man  schon  Kants  Ding  an  sich  ein  Quasiding 
genannt  = ein  fingiertes,  fiktives  Ding.  Indessen  versteht 
man  darunter  bald  einen  irrtümlichen  Begriff  oder  eine 
irrtümliche  Bezeichnung,  bald  eine  wissenschaftlich  wert- 
volle Fiktion.  Im  letzteren  Sinne  gebraucht  besonders  die 
Jurisprudenz  gelegentlich  die  Zusammensetzung  m\i  quasi; 
so  spricht  man  von  einem  Quasikontrakt.  Solche 
Kontrakte  beziehen  sich  auf  Rechtsverhältnisse,  die  zwar 
wegen  einer  gewissen  Ähnlichkeit  nach  Analogie  von  Ver- 
trägen beurteilt  werden,  aber  doch  im  Grunde  auf 
keinem  wirklichen  Vertrag  beruhen,  z.  B.  Vormundschaf- 
ten oder  Geschäftsführungen  ohne  eigentlichen  Auftrag. 


Sammlung  anderer  Ausdrücke  für  Fiktion. 


101 


Man  spricht  in  der  Jurisprudenz  auch  von  Quasi- Affi- 
nität, Quasi-Delictum^  Quasi -Possession.  An- 
dere Bezeichnungen  sind  von  dem  Merkmal  der  Hilfe 
hergeholt,  die  sie  dem  Denken  leisten:  Hilfs- 
begriffe, Hilfsworte,  Hilf s Operationen,  Not- 
behelfe, Hilfsmittel;  speziell:  Hilfslinien, 
Hilfseinteilungen,  Hilfsmethoden,  Hilfsvor- 
stellungen, Hilfssätze;  andere  Benennungen  sind 
hergenommen  von  dem  Merkmal  des  kunstreichen,  inge- 
niösen Verfahrens  : Handhaben,  Kunstgriffe,  Kniffe 
(besonders  in  der  Mathematik),  künstliche  Begriffe, 
Kunstbegriffe,  künstliche  Methoden, ‘erkün- 
stelte Begriffe,  Kriegslisten,  listige  Umgeh- 
ung,Umwege, Schleichwege, Laufgräben, Fuß- 
wege usw.  Andere  Bezeichnungen  stammen  von  der 
Funktion  derselben:  so  Vermittlungen,  Mittelbe- 
griffe, Brücken,  Stützen,  Leitern,  Krücken, 
Surrogate,Substitutionen,Suppositionen,  Ge- 
rüste usw.  Außerdem  noch  eine  Reihe  anderer  Bezeich- 
nungen: Chimären,  Mißbegriffe  (Dühring),  Aus- 
hilfsbegriffe,Auxiliär- Begriffeund- Methoden, 
Durchgangspunkte  für  das  Denken,  Mittel  (zu  theo- 
retischen oder  praktischen  Zwecken),  willkürliche  Be- 
griffe, Spielbegriffe  (so  v.  Kirchmann),  Lügen- 
begriffe, zweifelhafte  Begriffe,  unberechtigte 
Methoden,  Schemata,  provisorische  Begriffe, 
heuristische  Begriffe,  vikariierende,  substi- 
tutive Begriffe,  Vorläufigkeiten  (Dühring),  tech- 
nische Begriffe  und  Methoden,  regulative  Be- 
griffe, Regeln,  Hilfshypothesen  usw.  Ferner: 


Scheinbegriffe  (Lambert) 
Denkfiguren  (Lotze) 

Modus  d i c e n d i (Leibniz) 
„bloße  Idee“  (Kant) 
Interimsbegriff  j /r  • u ^ 
Rechenmarke  } (Liebmann) 

Grenzbegriffe 
tbeoretiscbe  Begriffe 
Umwege 
Seitenwege 

Anbaltspimkte  der  Forschung  ] 
Provisoriscbe  Annabmen  j- 

Mittel  zur  Orientierung] 


(Lange) 


102  Erster  Teil:  Prinzipielle  Gmndlegung.  P.  Theorie  der  Piktioiien. 


Diese  annähernd  vollständige  Sammlung  von  Bezeich- 
nungen für  die  Fiktionen  beweist,  wie  wichtig  sie  doch 
stets  gegolten  haben,  und  wie  bisher  eine  eigentlich 
zentrale  Benennung  gefehlt  hat,  welche  hiermit  mit  dem 
Worte:  Fiktion  einzuführen  gesucht  wird. 


Kapitel  XXIV. 

Die  Hauptmerkmale  der  Fiktionen. 

Ehe  wir  einen  vorläufigen  Versuch  einer  logischen 
Theorie  der  Fiktionen  selbst  geben  wollen,  sind  noch  die 
allgemeinen  Merkmale  jeder  Fiktion  festzustellen; 
aus  diesen  Merkmalen  wird  sich  die  logische  Theorie  teil- 
w’eise  ableiten  lassen.  Die  meisten  Merkmale  sind  schon 
gelegentlich  zur  Sprache  gekommen. 

In  den  Semifiktionen  ist  stets  eine  willkürliche 
Abweichung  von  der  Wirklichkeit,  also  ein  Wi- 
derspruch mit  derselben  auffallend,  der  bei  den 
echten  Fiktionen  sich  zum  Selbst  Widerspruche 
steigert.  Der  Widerspruch  mit  der  Wirklichkeit  zeigt  sich 
soAvohl  in  der  Fassung  der  bezüglichen  Begriffe  oder  Ur- 
teile selbst,  also  in  den  Prämissen,  die  mit  anderwärts 
bekannten  Tatsachen,  Gesetzen  und  Erscheinungen  dis- 
harmonieren, als  auch  in  den  aus  diesen  Begriffen  und 
Urteilen  abgeleiteten  weiteren  Konsequenzen;  diese 
stehen  mit  der  unmittelbaren  Wirklichkeit  stets  im  Wider- 
spruch, der  zwar  häufig  latent  ist,  aber  bei  tiefergehender 
Analyse  zutage  kommen  muß.  Bei  den  echten  Fiktionen 
zeigt  sich  der  Selbstwiderspruch  besonders  in  Antino- 
mien, welche  aus  denselben  entstehen  (vgl.  Kants 
Antinomien  über  das  Unendliche;  Kant  wies  eben  daraus 
nach,  daß  der  unendliche  Raum  subjektiv,  in  unserer 
Sprache  also  fiktiv  sei).  Wo  also  in  der  Geschichte  der 
Wissenschaften  gegen  hervorragende  Leistungen  der  Vor- 
wurf, daß  sie  sich  selbst  widersprechen,  erhoben  worden 
ist,  darf  man  stets  hoffen,  in  der  Hälfte  der  Fälle  auf 
wertvolle  Fiktionen  zu  stoßen:  so  bei  Leibniz 
und  NeAvton,  bei  der  Atomistik  usw.  Wo  aber  mehr 
der  Widers  p r u c h m i t der  E r f a h r u n g betont  ist. 


Die  Hauptmerkmale  der  Fiktionen, 


103 


hat  man  es  in  vielen  Fällen  eben  mit  iSemifiktionen  zu 
tun,  z.  B.  bei  Linne,  bei  Adam  Smith  u.  a. 

Ein  zweites  Hauptmerkmal  ist,  daß  diese  Begriffe,  sei 
es  historisch,  wegfallen,  sei  es  logisch,  wieder  aus- 
fallen.  Jenes  gilt  für  die  Semifiktionen,  dies  für  die 
echten;  natürlich:  ist  ein  Widerspruch  gegen  die  Wirklich- 
keit da,  so  kann  die  Fiktion  eben  nur  Wert  haben,  wenn 
sie  provisorisch  gebraucht  ist,  bis  die  Erfahrungen 
bereichert  sind,  oder  bis  die  Denkmethoden  so  geschärft 
sind,  daß  jene  provisorischen  Methoden  durch  definitive 
ersetzt  werden  können.  Ebenso  folgt  der  Ausfall  der 
echten  Fiktionen  im  Laufe  der  Denkrechuiiiig  not- 
wendig aus  dem  Merkmal  des  AViderspruchs  — denn 
schließlich  wollen  wir  zu  widerspruchslosen  Resul- 
taten gelangen:  widerspruchsvolle  Begriffe  können  also 
schließlich  nur  zur  Elimination  da  sein;  außerdem 
ergibt  ja  auch  die  Tatsache,  daß  trotz  dieser  widerspruchs- 
vollen Begriffe  richtige  Resultate  im  Rechnen  und 
Denken  erreicht  werden,  daß  jene  Fiktionen  auf  irgendeine 
Weise  beseitigt  und  die  in  ihnen  begangenen  Wider- 
sprüche rückgängig  gemacht  werden  müssen. 

Das  dritte  Hauptmerkmal  einer  normalen  Fiktion  ist 
dasausdrücklichausgesprocheneBewußtsein, 
daß  die  Fiktion  eben  eine  Fiktion  sei,  also  das  Bewußt- 
sein der  Fiktivität,  ohne  den  Anspruch  auf  Faktizi- 
tät. Ich  sage  indessen:  einer  „normalen“;  dies  Merk- 
mal trifft  nur  zu  bei  solchen  Fiktionen,  wie  sie  sein  sollen. 
Wir  sahen  aber  schon,  daß  in  der  historischen  Entwick- 
lung der  Wissenschaften  dieser  Fall  relativ  selten  ist,  so 
daß  bei  den  ersten  Urhebern  einer  Fiktion  immer  ein 
Schwanken  zwischen  Fiktion  und  Hypothese  stattfindet; 
das  erklärt  sich  einfach  daraus,  daß  der  natürliche  Mensch 
das  Gesagte  unmittelbar  für  natürlich  und  wirklich  nimmt; 
und  anfänglich  nimmt  er  nicht  nur  die  Begriffe  des 
Denkens  für  Repräsentanten  der  Wirklichkeit, 
für  wirklich  an,  sondern  ursprünglich  hält  er  auch  die 
Methoden  und  Wege  des  Denkens  für  identisch  mit 
den  Wegen  und  Gesetzen  des  Seins  --  ein  Irrtum,  den 
große  Philosophen  dann  kanonisiert  haben.  Im  Laufe 
der  Zeit  aber  merkt  man  zuerst,  daß  die  subjektiven 
Methoden  doch  ganz  verschieden  sind  vom  objek- 


104  Erster  Teil : Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


tiven  Geschehen.  Aus  diesen  Gründen  schwanken 
also  häufig  die  ersten  Urheber  solcher  Fiktionen.  Bei 
Linne  und  bei  vielen  Mathematikern  ist  das  Be- 
wußtsein der  Fiktivität  solcher  Begriffe  und  Methoden 
sehr  lebhaft.  Schwanken  dagegen  war  bei  Newton  und 
Leibniz.  Bei  einer  großen  Anzahl  von  Fiktionen  aber 
tritt  der  oben  geschilderte  Fall  ein,  daß  sie  zuerst  als 
Hypothesen  aufgestellt  werden,  und  daß  sich  erst  allmäh- 
lich das  Bewußtsein  ihrer  fiktiven  Bedeutung  herausbildet. 

Ein  weiteres  wesentliches  Merkmal  der  Fiktionen,  d.  h. 
der  wissenschaftlichen,  ist,  daß  sie  Mittel  zu  be- 
stimmten Zwecken  sind;  also  ihre  Zweckmäßigkeit. 
Wo  eine  solche  nicht  zu  sehen  ist,  da  ist  die  Fiktion  eben 
unwissenschaftlich.  Wenn  also  Hurne  die  Kategorien 
Fiktionen  nennt,  so  hat  er  damit  zwar  faktisch  das 
Richtige  erkannt,  allein  sein  Begriff  der  Fiktion  war  ein 
ganz  anderer  als  der  unsrige.  Sein  Begriff  der  y^fiction 
of  thought“  ist,  daß  diese  Gebilde  bloß  subjektive  Einbil- 
dungen seien;  unser  Begriff  (entlehnt  aus  dem'  Ge- 
brauch der  Mathematik  und  Rechtswissenschaft)  schließt 
ein,  daß  sie  zweckmäßige  Einbildungen  seien. 
Hierin  liegt  eigentlich  der  Schwerpunkt  unserer  Auf- 
fassung, durch  den  sie  sich  von  den  bisherigen  Auf- 
fassungen wesentlich  unterscheidet.  Das  Wesentliche 
an  der  Fiktion  nach  unserer  Auffassung  ist  nicht  etwa, 
daß  sie  eine  bewußte  Abweichung  von  der  Wirklichkeit, 
eine  bloße  Einbildung  sei,  — sondern  wir  betonen  die 
Zweckmäßigkeit  dieser  Abweichung.  Die  Zweck- 
mäßigkeit bildet  auch  den  Übergang  von  dem  reinen 
Subjektivismus  eines  Kant  zu  dem  modernen  Positivis- 
mus. Wenn  man  lediglich  sagt:  Die  ganze  Welt  ist 
unsere  Vorstellung,  alle  Formen  sind  subjektiv,  — 
so  wird  dadurch  ein  haltloser  Subjektivismus  erzeugt. 
Sagt  man  aber:  Die  Vorstellungsformen  und  Fik- 
tionen sind  zweckmäßige  psychische  Gebilde, 
so  werden  diese  selbst  enge  mit  den  „kosmischen  Agentien 
und  Konstituentien“  (Laas)  verbunden,  indem  ja  diese 
selbst  jene  zweckmäßigen  Formen  in  den  organischen 
Wesen  hervoiireiben. 

Diese  vier  Hauptmerkmale  genügen  vollständig,  um 
die  Fiktionen  von  den  Hypothesen  zu  unterscheiden.  Mit 


Versuch  einer  allgemeinen  Theorie  d.  fiktiven  Vorstellungsgebilde.  105 

diesem  „Steckbrief“  wird  man  sofort  jedes  Fiktion  erkennen 
und  rekognoszieren  können,  und  wenn  man  das  weite  Ge- 
biet der  Wissenschaft  durchstreift,  wird  man  voraussicht- 
lich noch  manche  Fiktion  entdecken,  welche  wir  nicht  auf- 
gezählt haben. 


Kapitel  XXV. 

Versuch  einer  allgemeinen  Theorie  der  fiktiven 
Vorstellungsgebilde. 

Das  Denken  macht  Umwege:  dieser  Satz  enthält 
das  eigentliche  Geheimnis  aller  Fiktionen;  und 
es  handelt  sich  für  die  logische  Betrachtung  vor  allem 
darum,  diese  Umwege  streng  zu  trennen  von  den  eigent- 
lichen Ausgangs-  und  Zielpunkten  des  Denkens, 
während  die  Fiktionen  eben  nur  Durchgangspunkte 
des  Denkens,  keineswegs  des  Seins,  sind.  Wir  haben 
schon  mehrfach  darauf  hingewiesen,  daß  zwischen  den 
beiden  Punkten  der  Empfindung  und  Bewegung  (die  aber 
auch  schließlich  auf  Empfindung  zu  reduzieren  ist)  die 
ganze  Vorstellungswelt,  das  ganze  subjektive 
Begriffsgebäude  des  Menschen  mitten  drinnen 
liegt. 

Die  eigentlich  letzte  logische  Erkenntnis  in  bezug  auf 
die  Fiktionen  ist  und  bleibt  die  Betrachtung  derselben 
als  Durchgangspunkte  des  Denkens.  Wir  haben  aber 
auch  das  ganze  Denken  selbst  mit  all  seinen 
Hilfsapparaten,  Instrumenten  und  Denkmitteln,  also  das 
ganze  theoretische  Tun  des  Menschen  für  einen 
bloßen  Durchgangspunkt  erklärt,  dessen  endliches 
Ziel  die  Praxis  ist,  sei  es  nun  das  ordinäre  Handeln 
oder  ideal  gefaßt  die  ethische  Handlungsweise.  Wir  mo- 
difizieren also  hier  den  Grundgedanken  der  Ficht  eschen 
Philosophie  zu  unserem  vorliegenden  Zwecke.  Die  Be- 
griffe sind  als  Durchgangspunkte  gleichsam  die  Schar- 
niere, durch  welche  die  Verbindung  der  Empfin- 
dungen hergestellt  wird;  die  ganze  Begrifi'swelt  ist 
ein  System  solcher  Scharniere,  solcher  mechanischen 
Vorrichtungen,  um  die  Empfindungen  passend  in 
Verbindung  zu  setzen.  Man  muß  nur  energisch  mit  dem 


106  Erster  Teil:  Prinzipielle  (Irundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


Vergleich  der  psychischen  Vorgänge  mit  mechanischen 
Vorgängen  Ernst  machen,  nicht  nur  mit  mechanischen 
Vorgängen  in  dem  Sinn  rein  physikalischer  Phänomene, 
sondern  auch  in  dem  Sinn,  in  welchem  die  Mechanik 
die  mechanischen  Vorrichtungen  zur  x\usnützung  und 
Kraftsteigerung,  also  z.  ß.  Hebel,  Rolle,  Schraube, 
schiefe  Ebene  usw.  betrachtet.  In  der  Mechanik  des 
Geistes  finden  ähnliche  Vorgänge  statt.  Die  psychischen 
Vorgänge  sind  nicht  bloß  in  dem  Sinne  mechanisch, 
daß  sie  mit  gesetzlicher  Notwendigkeit  erfolgen, 
daß  die  Verbindungen,  Verschmelzungen  und  Apperzep- 
tionen mechanisch  vor  sich  gehen,  sondern  sie  folgen 
auch  in  dem  Sinne  den  Gesetzen  ihrer  eigenen,  spezi- 
fischen Mechanik,  als  durch  solche  mechanischen  Vor- 
richtungen, wie  sie  auch  die  physische  Mechanik  kennt, 
die  elementaren,  von  der  Natur  dargebotenen  Kräfte  ver- 
arbeitet und  verwertet  werden.  Die  Psyche  ist  also 
nicht  allein  in  dem  Sinne  eine  Maschine,  als  in  ihr 
alles  nach  psychomechanischen  und  psycho  che- 
mischen Gesetzen  vor  sich  geht,  sondern  auch  in  dem 
Sinn,  daß  durch  diese  mechanischen  Vorgänge  die  natür- 
lichen Kräfte  gesteigert  werden.  Eine  M a s c h i n e 
ist  eine  solche  Vorrichtung  des  praktischen  Mechanikers, 
durch  welche  eine  verlangte  Bewegung  mit  dem 
geringsten  Kraf taufwande  ausgeführt  wird. 
Dies  Erfordernis  erfüllt  die  menschliche  Psyche, 
unter  dem  Gesichtspunkt  einer  psychischen  Ma- 
schine betrachtet,  in  hohem  Grade;  darum  eben  ist  sie 
zweckmäßig.  Die  verlangte  Leistung  der  menschlichen 
Psyche  ist  die  Bewegung  im  weitesten  Sinne  des  Wortes: 
zunächst  die  rein  äußerliche  Bewegung,  zunächst  in  erster 
Linie  die  Reflexbewegung,  sodann  die  willkürlichen 
Bewegungen  zum  Zwecke  der  Erhaltung  des  Organismus. 
Die  ganze  psychische  Maschine  nun  ist  zu  betrachten  als 
eine  in  denOrganismushineingesetztekraft  er  spar  ende 
Maschine,  als  eine  Vorrichtung,  Avelche  den  Organis- 
' mus  befähigt,  seine  Bewegungen  möglichst  zweck- 
mäßig, d.  h.  rasch,  elegant  und  mit  geringstem 
Kraftaufwand  zu  vollziehen. 

Wie  nun  aber  eine  Gesamtmaschine  wiederum  aus 
einzelnen  Teilmechanismen  zusammengesetzt  ist. 


Versuch  einer  allgemeinen  Theorie  d.  fiktiven  Vorstellungsgebilde,  107 

welche  innerhalb  dieser  Maschine  dieselbe  Aufgabe  haben, 
wie  die  ganze  Maschine  im  Zusammenhang  eines  Kom- 
plexes von  Erscheinungen,  so  ist  dies  ähnlich  auch  der 
Fall  in  der  Psyche.  Die  einzelnen  Handlungen  der 
Psyche  sind  wieder  ebenfalls  unter  demselben  Gesichts- 
punkt zu  betrachten,  als  kraftsparende  Mechanis- 
men, welche  die  abverlangte  Leistung  möglichst 
r ja  sch  und  zweckmäßig  vollziehen.  Und  auch 
dies  ist  endlich  zu  berücksichtigen,  daß  wie  der  Mensch 
seine  Maschinen  immer  mehr  vervollkommnet,  so  daß 
sie  die  ab  verlangte  Leistung  immer  rascher,  besser,  zweck- 
mäßiger und  immer  mit  größerer  Kraftersparnis  voll- 
ziehen — man  denke  nur  an  die  Geschichte  der  Ent- 
wicklung der  Dampfmaschine  — , daß  so  auch  die  Psyche 
ihre  Mechanismen  immer  mehr  vervollkommnet. 

Also  die  Psyche  ist  eine  stets  sich  selbst  vervoll- 
kommnende Maschine,  welche  den  Zweck  erfüllt, 
möglichst  sicher  und  rasch  und  mit  geringstem  Kraft- 
aufwand die  lebenerhaltenden  Bewegungen  des 
Organismus  a u s z u f ü h r e n : Bewegungen  im  weite- 
sten Sinn,  als  schließliche  Zielpunkte  aller  Handlungen, 
ln  Empfindungen  wurzelt  all  unser  geistiges  Leben 
und  in  Bewegungen  gipfelt  es;  was  dazwischen  ist,  ist 
reiner  Durchgangspunkt.  Die  allmähliche  Vervoll- 
kommnung der  Denkmaschine  ist  z.  B.  klar  ausgedrückt 
in  dem  Gesetz  der  Verdichtung  der  Ideen,  durch 
welchen  psychomecha irischen  Vorgang  die  Rasch- 
heit und  Sicherheit  und  Leistungsfähigkeit  der  Vorstel- 
lungen wesentlich  erhöht  wird.  Dieser  Vorgang  läßt  sich 
vergleichen  z.  B.  mit  der  Leistungsfähigkeit  eines  zu- 
sammengepreßten Dampfes,  dessen  Leistung  um  so  größer 
ist,  je  größer  die  sogenannte  „Tension“,  Spannung  des- 
selben, ist.  Die  Kondensation  ist  in  der  psychischen 
Vlaschine  von  derselben  Wichtigkeit  wie  in  den  Maschinen 
der  körperlichen  Mechanik.  Auf  einen  Kondensa- 
tionsvorgang ist  die  ganze  B egrif f sbildung  zu- 
rückzuführen, durch  welche  Verdichtung  eben  die  Lei- 
stungsfähigkeit wesentlich  erhöht  wird.  Man  darf 
hierbei  nur  nicht  vergessen,  daß  nicht  die  Maschine  selbst 
die  Hauptsache  ist,  sondern  ihre  Leistung.  So  auch 
l)ei  der  Psyche  und  ihren  einzelnen  Maschinen : die  letzte 


108  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


Tendenz  ist  die  Erreichung  zv/eckmäßiger  Bewegungen 
oder  idealer  ausgedrückt:  ethischer  Handlungen. 
Die  Begriffe  als  Selbstzweck  hinzustellen,  ist  ein 
Irrtum,  eine  theoretische  Leidenschaft,  und  schließlich 
dient  eben  alles  Theoretische  nur  als  Mittel  dem 
Praktischen.  Sobald  man  mit  dieser  von  Kant  und 
Fichte  gefundenen  Einsicht  einmal  wirklich  Ernst  macht, 
erhellen  sich  auf  einmal  eine  ganze  Reihe  von  Dunkel- 
heiten und  Problemen. 

Unsere  bisher  ausgeführte  Betrachtungsweise,  so  fremd- 
artig und  vielleicht  gezwungen  sie  erscheinen  mag,  über- 
trägt übrigens  bloß  eine  Anschauungsweise  in  das  Psy- 
chische, welche  den  Physiologen  schon  seit  geraumer 
Zeit  in  bezug  auf  die  organischen  Leistungen  des 
Gehirns  geläufig  ist,  insbesondere  seit  der  durch  das 
Gesetz  der  Erhaltung  der  Kraft  ermöglichten  tiefe- 
ren und  richtigeren  Einsicht  in  die  Vorgänge  des  Organis- 
mus. Und  außerdem  führt  unsere  Betrachtungsweise  nur 
dasjenige  speziell  aus  und  macht  Ernst  mit  einem  Ge- 
danken, der  sich  schon  bei  Kant,  Herbart,  Fichte, 
Schopenhauer  findet. 

Wir  können  die  ordinäre  Ansicht  nicht  beibehalten,  daß 
das  Denken  Selbstzweck  sei;  das  Denken  dient 
einemanderen,  und  alle  seine  einzelnen  V errichtungen 
sind  unter  dem  Gesichtspunkt  mechanischer  Denk- 
mittel zu  betrachten.  Die  Auflösung  der  ganzen  Vor- 
stellungswelt in  solche  Denkmittel  ist  die  eigentliche  Auf- 
gabe der  Erkenntnistheorie,  und  die  Methodologie 
dieser  Mittel  diejenige  der  Logik:  alle  logischen 
Methoden  und  darunter  auch  die  fiktiven  sind  nur 
Hilfsmittel  und  Hilfsverrichtungen  an  dieser  Maschine, 
deren  Bau  und  Leistungen  wir  in  unserer  bisherigen  Aus- 
führung als  mechanisch  nachzuweisen  versucht  haben. 

Die  eigentliche  Aufgabe  der  Methodologie  ist,  dieHand- 
habung  dieser  Denkmaschine  und  Denk  mittel 
zu  lehren.  Wir  haben  schon  früher  gesagt,  daß  eine 
solche  Methodologie  zunächst  sich  mit  äußerlich,  empi- 
risch zusammengerafften  Regeln  der  Routine  begnügen 
könne,  daß  aber  eine  wissenschaftliche  Methodologie  sich 
schließlich  auf  eine  theoretische  Analyse  derdenk- 
mechanischen  Vorgänge  stützen  müsse.  Eine  solche 


Vf'.isacli  eiiicj  allgemeinen  Theorie  d.  fiktiven  Voistelliingsgebilde,  109 


Analyse  der  denkmeclianisclien  Verrichtungen  wird  denn 
auch  schließlich  das  ganze  komplizierte  Verfahren  des 
Denkens  auf  einfache  Grundprinzipien  zurück- 
lühren,  die  ebenso  einfach  mid  ebenso  folgenreich  sind, 
als  z.  B.  das  Prinzip  des  Hebels.  Als  die  elemen- 
taren Hilfsmittel  des  Denkens  zur  Erleichterung  der  Denk- 
bewegung, der  Bewegung  größerer  Vorstellungsmassen 
zum  Zweck  einer  mechanischen  Denkleistung  haben  wir 
im  allgemeinen  die  Fiktionen  erkannt,  welche  eine 
ähnliche  Rolle  spielen  im  Denkmechanismus,  wie  jene 
elementaren  Hilfsmittel  der  Mechanik  in  der  physikali- 
schen Maschinentheorie.  Die  verschiedenen  Arten  der 
Fiktion  entsprechen  jenen  verschiedenen  Hilfsmitteln  der 
Bewegung.  Und  die  kompliziertesten  Hilfsmittel  dieser  Be- 
wegung, also  z.  B.  der  Begriff  des  Unendlichen,  müs- 
sen reduziert  werden  auf  solche  einfachen  mechani- 
,schen  Prinzipien  des  Denkens. 

Als  die  elementaren  psychomechanischen  Prinzipien 
fallen  uns  bei  der  psychologischen  Analyse  besonders 
zwei  auf : einmal  die  Bildung  fester  Kernpunkte  durch  die 
Kategorien  und  sodann  fester  Mittelpunkte  durch  iVll- 
ge meinbegriffe.  Durch  die  Reduktion  aller  Phäno- 
mene und  ihrer  Verhältnisse  auf  einige  wenige,  immer 
mehr  verminderte,  primitive  Analogien,  die  Kate- 
gorien, wird  der  Denkbewegung  eine  bestimmte,  fixierte 
Richtung  gegeben.  Dadurch  werden  gleichsam  psy- 
chische Hebel  geschaffen,  durch  welche  die  freie  Be- 
wegung der  Vorstellungsmassen  erst  möglich  wird.  Die 
Begriffsbildung  schafft  gleichsam  Rollen,  durch 
welche  die  einzelnen  Empfindungskomplexe  verbunden 
werden  und  eine  Gegeneinanderbewegung  derselben  mög- 
lich ist.  Das  Hauptinteresse  bei  all  diesen  Vorgängen 
liegt  in  der  Frage,  warum  denn  durch  diese  Vorrichtun- 
gen des  Denkens  eine  Erleichterung  der  Denkbewegung 
geschaffen  werde,  und  wie  es  komme,  daß  trotz  dieser 
fiktiven  Mittelglieder  die  Denkbewegung  doch  das  Ziel 
ihrer  logischen  Arbeitsleistung  erreiche?  Wenn  ganze 
Komplexe  von  gleichem  geschaffen  werden,  Gleich- 
heitszentren, wie  dies  in  den  als  Analogien  zu 
betrachtenden  Kategorien  und  in  den  Begriffen 
geschieht,  so  wird  dadurch  die  psychische  Bewegimg  der 


110  Erster  Teil:  lOinzipielle  Gnmdloguiig.  0.  Theorie  der  Fiktionen. 


V'orstellnngeii  naturgemäß  vermehrt,  erleichtert,  erhöht. 
Rin  Gleichheitszentrum  hat  eine  viel  stärkere  Attrak- 
tionskraft  als  ein  einzelnes  Moment.  Vermittels 
dieser  Gleichheits  Zentren  isl  nun  die  Vergleichung  der 
einzelnen  Phänomene  erleichtert,  und  sie  wird  be- 
schleunigt: sobald  z.  B.  eine  einzelne  Erscheinung  herein- 
tritt, braucht  sie  nicht  erst  von  jeder  einzelnen  ähn- 
lichen Empfindung  attrahiert  zu  werden,  sondern  das 
mächtige  Gleichheits  Zentrum  zieht  sie  mit  starker 
Gewalt  an,  daß  sie  mit  rascher  Bewegung  sich  ihm 
nähert:  Dadurch  nun  ist  aber  auch  eine  enorm  rasche 
Vergleichung  mit  d en  von  demselben  Gleichheits- 
zentrum umfaßten  und  dasselbe  konstituierenden  Emp- 
findungskomplexen möglich.  Nun  erhellt  sofort,  daß  das 
G 1 e i c h h e i t s z e n t r u m selbst  nur  dem  Zwecke  dienen 
soll,  die  Vergleichung  der  einzelnen  Empfin- 
dungen zu  erleichtern  mid  zu  beschleunigen.  Somit 
dient  das  Gleichheitszentrum  nur  der  Vermittlung 
und  Beschleunigung  der  psychischen  Bewegung 
und  hat  seinen  Zweck  erfüllt,  wenn  dieses  geschehen  ist. 
Daraus  ergibt  sich  denn  mit  Notwendigkeit,  daß  das 
Gleichheitszentrum  schließlich  nur  als  Durchgangs- 
punkt  der  Bewegung  dienen  kann,  und  daß  also  das 
eigentliche  Interesse  nur  in  der  Gegeneinanderbe- 
wegung der  einzelnen  Empfindungen  selbst  besteht. 
Diese  Bewegung  wird  durch  jene  besagten  Gleichheits- 
zentren erleichtert. 

Die  mechanischen  Elementar  Vorgänge  in  der 
Psyche  beim  Denken  und  Begreifen  ergeben  zugleich 
auch  die  x\ntwort  auf  die  Frage,  warum  denn  trotz  dieser 
fiktiven,  subjektiven  Begriffe  doch  das  Wirkliche  wieder 
erreicht  werde?  Nun,  jene  fiktiven  Begriffe  und  die  daran 
sich  anschließenden,  oft  ungeheuer  ausgedehnten  fiktiven 
Methoden  sind  schließlich  doch  nur  die  Durchgangs- 
punkte zur  Vermittlung  der  psychischen  Be- 
wegung, welche  sich  vollzieht  zwar  vermittels  jener, 
aber  doch  so,  daß  sie  schließlich  wieder  abgeworfen 
werden.  Hat  das  Gleichheitszentrum  seinen  Dienst  ge- 
tan, die  Bewegung  der  einzelnen  Empfindungskomplexe 
und  Vorstellungen  ermöglicht,  so  hat  es  eben  auch  alles 


Versuch  einer  allgemeinen  Theorie  d.  fiktiven  VorsLelhmgsgebiido.  111 


getan,  was  es  kann,  und  es  fällt  aus  der  Rechnung  heraus. 
Hat  es  vermittelt,  so  ist  seine  Leistung  zu  Ende. 

In -diesem  elementaren  Mechanismus:  Bildung  eines 
Gleichheitszentrums  — liegt  nun  das  Geheimnis 
aller  Fiktionen,  mögen  sie  so  einfach  sein,  wie  die  künst- 
liche Klassifikation,  und  so  kompliziert,  wie  der 
Begriff  des  Unendlichen. 

Für  uns  sind  alle  höheren  Begriffe  solche  feine  Denk- 
mittel, Maschinenteile  im  großen  genialen  Mechanis- 
mus des  Denkens,  und  auch  unsere  Aufgabe  ist  es,  hier 
auf  die  elementaren  mechanischen  Gesetze  des 
S eelen  1 eh en s z ur ück zugehen. 

Jene  D u r c h g a n g s p u n k t e stellen  nun  A b w e i c h u n - 
gen  von  der  Wirklichkeit  dar,  welche  rein  theore- 
tisch ohne  R.ücksicht  auf  die  Wirklichkeit  der  Erschei- 
nungen weitergeführt,  notwendig  zu  jenen  Wider- 
sprüchen mit  der  Wirklichkeit  und  zu  jenen  Selbstwider- 
sprüchen führen  müssen,  welche  wir  oben  als  Merk- 
m'ale  der  Fiktionen  angegeben  haben.  Das  erste 
Merkmal,  daß  sie  nämlich  historisch  weg-  und  logisch 
ausfallen,  folgt  mit  Notwendigkeit  aus  dem  Charakter  der 
Fiktionen  als  Durchgangspunkte  des  Denkens. 

Streng  festzuhalten  hierbei  ist  das  Prinzip  des  Me- 
clianismus  des  Denkens,  das  Prinzip,  daß  alle  Vor- 
stellungen und  Vorstellmigskomplexe  höherer  xVrt,  soweit 
sie  nicht  mit  der  Wirklichkeit  unmittelbar  sich  decken, 
nur  den  Vorstellungsmechanismus  selbst  unter- 
stützen und  beschleunigen  und  erleichternsol- 
len. Dagegen  muß  man  sich  immer  davor  hüten,  solchen 
Vorstellungskomplexen  und  Denkmitteln  Wirklichkeit 
zuzuschreiben  : denn  wirklich  ist  nur  das  Empfundene, 
das  in  der  Wahrnehmung  uns  Entgegentretende,  sei  es 
innerer  oder  äußerer  Natur.  Sowie  man  solche  Fiktionen 
für  wirklich  nimmt,  folgen  daraus  alle  jene  Antinomien 
und  Widersprüche,  welche  von  Anfang  an  bis  heute  die 
Geschichte  der  Philosophie  durchziehen. 

Auch  alle  übrigen  gemeinsamen  methodologischen 
Grundsätze  für  die  Fiktion  fließen  mit  Notwendigkeit  aus 
diesen  Verhältnissen:  so  der  Rat  und  die  Notwendigkeit, 
das  logische,  subjektive  Baugerüste  des  Denkens  wieder 
abzubrechen,  wenn  der  eigentliche  Zweck  erreicht  ist, 


112  Kister  Teil:  Pi iuzipielle  (iruiidleguiig.  H.  'J'lienrio  der  Kiklioneii. 

abzubrechen  historisch  oder  logisch,  damit  die  fal- 
schen eingebildeten  Vorstellungen  nicht  den  Blick  für  die 
Wirklichkeit  trüben. 

Die  oben  ausgeführte  Theorie  der  Gleichheits- 
zentren läßt  sich  nun  von  den  elementaren  fiktiven 
Prozessen  der  Bildung  der  allgemeinen  Begriffe  und 
allgemeinen  Begriffsformen  weiterhin  ausdehnen 
auf  die  spezielleren  Fiktionen:  in  allen  Fällen  werden 
eben  Vorstellungsgruppen  geschaffen,  welche  die 
Verbindung,  Vergleichung  und  Ausgleichung 
der  Vorstellungen  vermitteln.  Es  ist  schließlich  eben  immer 
nur  die  Variation  desselben  Grundvorgangs,  daß  Vor- 
stellungsgebilde formiert  werden,  welche  in  den 
Gang  des  Denkens  eingeschoben  werden,  um  ihn  zu 
vermitteln  und  zu  erleichtern.  Und  insofern  alles 
Denken  schließlich  auf  eine  Gleich  Setzung  hinausläuft, 
so  vermitteln  eben  die  Fiktionen  diese  Gleichsetzung 
und  Vergleichung,  wo  sie  direkt  unmöglich  ist. 

Welche  ungeheure  Wichtigkeit  die  Fiktionen  haben,  ist 
aus  dem  bisherigen  ersichtlich.  Sie  sind,  sagt  Lotze  mit 
Recht,  von  außerordentlicher  „Wichtigkeit  für  den 
erfindenden  Gedankengang“,  ln  der  Tat  sind  sie  ein 
Teil  jener  ars  invetiiendi^  welche  die  Logik  früher  als  An- 
hang zu  haben  pflegte.  > 

Außer  der  allgemeinen  Vorsichtsmaßregel,  nicht  die  Fik- 
tionen mit  der  Wirklichkeit  zu  verwechseln,  läßt  sich 
aber  nun  noch  darauf  hinweisen,  daß  jede  Fiktion  sich 
ju stif  izi er en  lassen  müsse,  d.  h.  sie  muß  durch  das 
gerechtfertigt  werden,  was  sie  für  den  Fortschritt  der 
Wissenschaft  leistet.  Es  muß  in  jedem  einzelnen  Falle 
nachgewiesen  werden,  daß  die  betreffende  Form,  das  be- 
treffende Gebilde  nicht  überflüssig  sei,  daß  es  Dienste 
leiste,  und  wie  weit  seine  Kompetenz  reiche.  Es  muß 
immer  auf  den  Spalt  zwischen  Wirklichkeit  und  Fik- 
tion hingewiesen  und  davor  gewarnt  werden,  nicht  die 
Fiktion  selbst  oder  Konsequenzen  aus  ihr  unmittelbar 
mit  der  Wirklichkeit  zu  verwechseln.  Nach  all  diesen 
Vorsichtsmaßregeln  kann  eine  Fiktion  als  ein  „legiti- 
mierter Irrtum“  gelten,  d.  h.  als  ein  fiktives  Vorstel- 
lungsgebilde, welches  das  Recht  seines  Bestehens  durch 
den  Erfolg  nachzuweisen  hat.  Dagegen  ist  es  falsch,  von 


Versuch  einer  allgemeinen  Theorie  d.  fiktiven  Vorstellungsgebilde.  11?> 

dem  Erfolg  einer  solchen  logischen  Tathandlung  auf 
ihre  logische  Reinheit  oder  auf  ihre  reale  Gültig- 
keit zu  schließen:  es  sind  und  bleiben  Um-  und 
Schleichwege  des  Denkens,  die  darum,  weil  sie  zum 
Ziele  führen,  noch  nicht  als  real  gültig,  als  logisch 
widerspruchslos  gelten  dürfen.  Das  ist  aber  aller- 
dings der  schon  mehrfach  gerügte  fundamentale  Irr- 
tum, aus  dem  logischen  Erfolg  nun  auch  auf  die 
logische  Reinheit  zu  schließen.  Man  sagte,  weil  die 
Differentialrechnung  auf  richtige  Resultate  führe,  so 
müsse  es  auch  reale  Differentiale  geben,  und  die 
Vorstellung  derselben  dürfe  nicht  widerspruchs- 
voll sein.  Dieser  Schluß  ist,  wie  bemerkt,  falsch. 
Auch  diejenigen  Fiktionen,  welche  subjektiv  ganz  abso- 
lut nötig  sind,  also  die  Kategorien,  um  überhaupt  dis- 
kursiv zu  denken,  sind  darum  noch  nicht  objektiv: 
subjektive  Nötigmig,  z.  B.  zu  allem  Beobachteten  Dinge 
hinzuzudenken,  ist  noch  kein  Kriterium  objektiver 
Gültigkeit. 

Ein  Hauptwert  ist  nun  auf  die  erkenntnis theore- 
tische Bedeutung  der  Fiktionen  zu  legen,  die  wir  ja 
genugsam  betont  haben,  und  hier  ist  wieder  der  Haupt- 
wert darauf  zu  legen,  daß  diese  erkenntnistheoretischen 
Fiktionen,  d.  h.  bes.  die  Kategorien,  für  das  Denken  ganz 
unentbehrlich  sind;  denn  sonst  ist  das  Denken  eben 
gar  nicht  diskursiv.  Die  erkenntnistheoretischen  Fiktionen 
der  Kategorien  sind  aber  besonders  darum  von  Wert,  weil 
die  unberechtigte  Übertragung  derselben  auf  das 
Weltganze  zu  allen  jenen  philosophisch  wichtigen  Be- 
griffen der  Weltsubstanz,  der  Weltkraft,  Welt- 
ursache führt,  welche  ein  notwendiger  logischer 
Schein  sind.  Das  Vorhandensein  eines  unumgänglichen 
logischen  Scheins  wurde  schon  vor  Kant  &hauptet: 
erst  Kant  hat  denselben  ganz  aufgedeckt. 

Im  Zusammenhang  der  Phänomene  kann  man  von  Dingen  imd 
Eigenschaften,  von  Ursachen  und  Wirkungen  allein  sprechen;  hinter 
diesen  Phänomen  und  jenseits  derselben  hat  diese  Vorstellungs- 
weise keine  Berechtigung  mehr;  ihre  Anwendung  auf  dieses 
Gebiet  erzeugt  die  Illusionen  wirklicher  Dinge  an  sich,  wirklicher 
Ursachen  an  sich.  Selbst  Kant  hat  diesen  Schein  nicht  ganz  ver- 
mieden. Faktisch  haben  wir  schlechterdings  nur  Empfindungen  und 
die  unabänderliche  Koexistenz  und  Sukzession  von  Phänomenen : 
Vai  h ingor,  PhiMosopliie  8 


114  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  R.  Theorie  der  Fiktionen. 


diese  „Dinge“  und  „Ursachen“  zu  heißen,  ist  erlaubt,  so  lange 
man  sich  bewußt  ist,  diese  Ausdrucks-  und  Vorstellungsweise  nur 
zur  Erleichterung  zu  wählen.  Sobald  man  aber  wirkliche,  transzen- 
dente Dinge  an  sich  annimmt,  so  verfällt  man  dem  logischen  Schein, 
den  Kant  selbst  nicht  ganz  vermeiden  konnte.  Diese  Dinge  an 
sich  sind  zwar  subjektiv  notwendige  Vorstellungsweisen,  um  über- 
haupt die  Welt  diskursiv  vorstellen  zu  können,  aber  sie  sind  auch 
nichts  weiter,  wie  Maimon  zuerst  richtig  erkannte. 

Ein  Hauptresultat  unserer  Untersuchung  ist  eben,  daß 
der  Widerspruch  das  treibende  Motiv  des  Denkens 
ist,  daß  ohne  ihn  das  Denken  sein  Ziel  gar  nicht  erreichen 
kann,  daß  er  dem  diskursiven  Denken  immanent  ist,  und 
ein  konstituierendes  Element  desselben  ist. 

Auch  daß  die  Grenze  zwischen  Wahrheit  und  Irr- 
tum keine  starre  ist,  ist  uns  mehrfach  nahegelegt  worden, 
und  schließlich  hat  sich  gezeigt,  daß  das,  was  wir  ge- 
wöhnlich Wahrheit  nennen,  nämlich  eine,  wie  man 
sagt,  mit  der  Außenwelt  zusammenstimmende  Vor- 
stellungswelt, daß  diese  Wahrheit  nur  der  zweckmäßigste 
Irrtum  ist. 

Natürlich  ist  hier  unter  dem  Inhalt  der  Wahrheit  nicht  die 
Feststellung  der  unabänderlichen  Sukzessionen  gemeint,  sondern  die 
Formen  des  Denkens. 

Diese  Vorstellungswelt  ist  ja,  wie  v/ir  annahmen  und 
fanden,  subjektiA^  ihren  Formen  nach;  real  ist  nur  das 
beobachtete  Unabänderliche;  also  ist  die  ganze 
Fassung,  welche  wir  dem  Wahrgenommenen  geben,  nur 
'subjektiv;  Subjektives  ist  fiktiv;  Fiktives  ist 
f'.alsch;  Falsches  ist  Irrtum.  Das  Bestreben  der 
Wissenschaft  geht  darauf  aus,  Avie  Avir  sahen,  die  Vor- 
stellungswelt zu  einem  immer  brauchbareren  Instrument 
der  Berechnung  und  des  Handelns  zu  machen;  also  ist 
diese  Vorstellungswelt,  welche  aus  diesem  Bestreben 
resultiert,  und  Avelche  man  geAvmhnlich  Wahrheit  nennt, 
nur  der  zweckmäßigste  Irrtum,  d.  h.  diejenige  Vor- 
slellungsAveise,  Avelche  am  raschesten,  elegantesten, 
sichersten  und  am  Avenigsten  mit  irrationalen  Elementen 
versetzt,  Handeln  und  Berechnen  am  meisten  er- 
niöglicht.  Die  Grenzen  zwischen  Wahrheit  und  Irrtum 
sind  also  ebenso  Amrschiebbar,  Avie  alle  solchen  Grenzen, 
z.  B.  zwischen  Kalt  und  Warm.  Kalt  ist  ein  solcher 
Grad  der  Temperatur,  der  für  uns  unzweckmäßig  ist. 


Die  Methode  der  Korrektur. 


115 


warm  ist  der  zweckmäßigste  Temperaturgrad;  zwischen 
beiden  ist  objektiv  aber  nur  ein  Gradunterschied;  und 
subjektiv  sind  die  Unterschiede  je  nach  der  Disposition 
und  je  nach  dem  Gegenstand,  um  den  es  sich  handelt,  ver- 
schiebhar.  So  ist  Wahrheit  eben  auch  nur  der 
zweckmäßigste  Grad  des  Irrtums  imd  Irrtum  der 
unzweckmäßigste  Grad  der  Vorstellung,  der  Fiktion. 
Unsere  Vorstellungswelt  heißen  wir  dann  wahr,  wenn 
sie  uns  erlaubt,  am  besten  die  Objektivität  zu  berechnen 
und  in  ihr  zu  handeln;  denn  die  sogenannte  Übereinstim- 
mung mit  der  Wiiklichkeit  ist  doch  endlich  als  Kriterium 
aufzugeben. 


Kapitel  XXVL 

Die  Methode  der  Korrektur 
willkfiriich  gemachter  Differenzen  resp.  die  Methode 
der  entgegengesetzten  Fehler. 

Nachdem  wir  im  Vorhergehenden  die  logische  Theorie 
der  Fiktionen  auf  eine  psychologische  Analyse  ge- 
stützt und  die  Bedeutung  der  Fiktionen  und  ihrer Methodo- 
! logie  für  verschiedene  Fragen  zu  skizzieren  gesuchthaben, 

I bleibt  noch  übrig,  den  logischen  Mechanismus  des 
Denkens,  der  sich  an  die  Fiktionen  anknüpft,  vom  spe- 
zifisch logischen  Gesichtspunkt  aus  zu  betrachten. 
Die  bisherige  Betrachtung  war  eine  mehr  psychologische, 
die  folgende  muß  mehr  logisch  sein. 

Wir  bemerkten  mehrfach,  daß  in  den  Fiktionen  das 
Denken  absichtlich  Fehler  be_gehe,  um  vermittels 
dieser  Fehler  selbst  das  Werden  zu  erfassen.  Alle  Ab- 
weichungen von  der  Wirklichkeit  sind  Fehler;  und  vollends 
alle  Selbstwidersprüche  sind  logische  Fehler  ersten  Gra- 
des. Wir  fügten  mehrfach  hinzu,  daß  diese  Fehler  wie- 
der rückgängig  gemacht  werden  müßten,  weil  sonst 
die  Fiktionen  wertlos  seien  und  schaden  würden.  Also 
wenn  Adam  Smith  vermittels  seiner  Fiktion  des  Egois- 
mus die  Handlungen  der  Menschen  berechnet,  so  beging 
er  einen  Fehler,  weil  faktisch  der  Egoismus  nicht  der 
einzige  Quell  der  Handlungen  ist.  Bei  der  Anwendung 


116  Erster  Teil:  Pnnzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


der  aus  jener  Fiktion  gezogenen  Gesetze  auf  die  kon- 
krete Wirklichkeit  müßte  also  die  Differenz  wieder  aus- 
geglichen werden. 

Allgemein  ausgedrückt  ergibt  sich  folgendes:  Wenn 
das  Denken  in  den  Fiktionen  der  Wirklichkeit  wider- 
spricht, und  wenn  es  sogar  sich  selbst  widerspricht, 
und  wenn  nun  aber  doch  trotz  dieser  bedenklichen  Hand- 
lungsweise das  Denken  sein  Ziel  erreicht,  nämlich  die 
^Virklichkeit  zu  treffen,  so  muß  — dies  ist  eine  not- 
wendige Konsequenz  — jene  Abweichung  wieder 
korrigiert,  so  muß  dieser  Widerspruch  wieder 
gutgemacht  worden  sein. 

Insofern  also  eine  Korrektur  ein  treten  muß  (hei  den 
Semifiktionen),  kann  man  das  Verfahren  der  logischen 
Funktion  hierlDei  die  Methode  der  Korrektur  ge- 
machter Differenzen  heißen:  insofern  aber  ein 
Widerspruch  mit  sich  selbst  ein  logischer  Fehler  ist, 
und  insofern  dieser  Fehler  wieder  gut  gemacht  werden 
muß,  was  nur  durch  einen  äquivalenten  Fehler 
entgegengesetzter  Natur  geschehen  kann,  so  kann  man 
dieses  Verfahren  die  Methode  entgegengesetzter 
Fehler  nennen. 

Durch  diese  seltsam  scheinende  Bezeichnungsart  wird 
ein  Kenner  der  Mathematik  wohl  sofort  an  gewisse 
mathematische  Methoden  erinnert  werden,  welche 
ganz  ähnlich  verfahren;  denn  alle  Denkmethoden  sind 
in  der  Mathematik  am  reinsten  ausgeprägt. 

Die  Art  der  Korrektur,  welche  einzutreten  hat,  kann 
von  der  einfachen  Bemerkung,  man  solle  das  fiktiv  ge- 
wonnene Resultat  nicht  mit  der  Wirklichkeit  verwechseln, 
steigen  bis  zu  der  Notwendigkeit,  geradezu  hinwiederum 
einen  entgegengesetzten  logischen  Fehler  zu  machen. 

.Tene  erste  leichte  Korrektur  findet  meist  bei  der  Semi- 
fiktion statt.  Die  ganze  Korrektur,  welche  bei  den  künst- 
lichen Einteilungen  stattfindet,  beschränkt  sich  auf  die 
einfache  Bemerkung,  man  solle  dieses  künstliche  System 
nicht  für  die  Wirklichkeit  nehmen,  sondern  für  ein  vor- 
läufiges System  zu  heuristischen  und  praktischen 
Zwecken.  Freilich  immer  macht  sich  das  nicht  so  harm- 
los: es  gibt  Fälle,  wo  der  erste  Fehler,  den  das  Denken 
bei  der  künstlichen  Einteilung  macht,  durch  einen  ent- 


Die  Methode  der  Korrektur. 


117 


gegengesetzten  wieder  gutgemacht  werden  muß:  bei  der 
künstlichen  Einteilung  besteht  dies  in  einer  notwen- 
digen Abweichung  von  dem  künstlichen 
Systeme  selbst:  also  aus  diesen  künstlichen  Systemen 
entstehen  nicht  nur  Fehler,  sondern  diese  müssen  auch 
durch  entgegengesetzte  Fehler  teilweise  aufgehoben  wer- 
den. Dies  ist  bei  der  künstlichen  Einteilung  sehr  ein- 
fach. Der  in  der  künstlichen  Klassifikation  und  ihrer  Be- 
gründung begangenen  willkürlichen  Abweichung  von  der 
Wirklichkeit  — indem  ganz  beliebig  ein  Merkmal  zum 
fundamentuni  divisionis  gemacht  Avurde  — muß  auf  der 
anderen  Seite  eine  Korrektur  entsj) rechen,  um 
die  Klassifikation  überhaupt  für  die  Anwendung  brauch- 
bar zu  machen,  um  unmögliche  Glieder  zu  entfernen  und 
alle  wirklichen  in  sie  hineinzubringen. 

Daß  dieselbe  Korrektur  bei  den  abst  r aktiv- lieg  lek- 
tiveii  Fiktionen  stattfinden  müsse,  liegt  auf  der  Hand: 
die  vernachlässigten  Elemente  müssen  nachher  wieder 
zu  ihrem  Rechte  kommen,  wenn  nicht  Irrtümer  entstehen 
sollen.  Genau  dasselbe  ist  bei  der  schematischen 
Fiktion  der  Fall,  sowie  bei  der  paradigmatischen, 
der  M topischen  und  typischen  — alle  diese  Be- 
griffsgebilde  erhalten  Wert  für  die  Erkenntnis  der  Wirk- 
lichkeit erst  dann,  wenn  an  Stelle  der  idealen  Bilder  die 
wirklichen  Werte  eingesetzt  werden.  Hier  liegen  also  die 
Verhältnisse  ganz  einfach:  die  Korrektur,  ihre  Notwendig- 
keit, Möglichkeit  und  Wirklichkeit,  liegt  auf  der  Hand. 
Bei  den  juristischen  Fiktionen  dagegen  scheint  eine 
solche  Korrektur  gar  nicht  nötig  zu  sein;  und  sie  ist  es 
auch  nicht.  Denn  hier  handelt  es  sich  gar  nicht  um 
exakte  Berechnung  eines  Wirklichen,  sondern  um  Sub- 
sumtion unter  ein  willkürliches  Gesetz,  ein  Menschenwerk, 
kein  Naturgesetz,  kein  Naturverhältnis.  Ähnlich  wie  bei 
den  obigen  Fällen  steht  die  Sache  bei  den  heuristi- 
schen Fiktionen:  es  gilt  vor  allem,  die  fiktive  Ursache 
die  causa  ficta  nicht  als  eine  wirkliche  anzusetzen. 

Anders  liegt  die  Sache  bei  den  übrigen  Fiktionen: 
während  bei  den  bisherigen,  welche  auf  Abweichungen 
von  der  Wirklichkeit  beruhen,  einfach  die  Korrektur 
dieser  Abweichung  genügt,  muß  ein  anderes  Verfahren  da 
eintreten,  wo  die  fiktive  Subsumtion  nicht  unmittelbar, 


118  Erster  Teil:  Prinzipielle  (iriiiiLllegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


sondern  durch  die  Vermittlung  eines  fiktiven  Vorstei* 
lungsgebildes  stattfindet.  Bei  jenen  obengenannten 
sind  nur  fiktive  Vorstellungsformen  und  -methoden  im 
Spiel;  hier  haben  wir  fiktive  Vorstellungs g eb il de. 

Naturgemäß  kann  bei  diesen  nur  eine  Methode  der 
Korrektur  staltfinden:  sie  müssen  in  dem  Schlußresultat 
einfach  he  raus  fallen.  Der  Fehler  muß  rückgän- 
gig gemacht  werden,  indem  das  fiktiv  einge- 
f ü h r t e G e b i 1 d e einfach  w i e d e r h i n a u s g e w o r f e n 
wird.  Beruht  aber  die  Einführung  auf  einem  logischen 
Fehler,  so  kann  das  Hinauswerfen  auch  nur  durch  einen 
logischen  Fehler  stattfinden.  Darum  nannten  wir  dies 
die  Methode  der  entgegengesetzten  Fehler.  Der 
Name  paßt  jedoch  streng  genommen  zunächst  nur  auf  jene 
exakten  mathematischen  Beispiele,  welche  wir  früher 
arifzählten;  er  paßt  aber  auch  auf  alle  logischen  Denk- 
reihen, wenn  man  nur  dieselben  nach  dem  Gesetz  des 
W.iderspr uch s durchgeht. 

Bei  den  praktischen  Fiktionen  ist  der  Ausfall 
dieser  Vermittlungsglieder  ganz  einfach:  wenn  der 
Zweck  erreicht  ist,  so  fallen  sie  weg;  freilich  aus 
der  Psyche  fallen  sie  nicht  hinaus,  nur  aus 
her  Denkrechnung.  So  z.  B.  bei  der  Fiktion  der 
Freiheit:  der  Strafrichter  benützt  diese  Fik- 
tion einfach,  um  ein  Strafurteil  zustande  zu 
bringen.  Der  Zweck  ist  das  Strafurteil,  das  durch 
die  Fiktion,  der  Mensch,  also  in  specie  der  Verbrecher, 
sei  frei,  erreicht  wird:  ob  der  ]\Iensch  faktisch  frei  ist, 
ist  gleichgültig.  Der  Mittelbegriff  der  Freiheit  fällt  her- 
aus, wie  in  jedem  Schluß  der  Mittelbegriff  herausfällt. 
Der  Richter  schließt:  Jeder  Mensch  ist  frei  und  darum, 
wenn  er  gegen  das  Gesetz  sich  vergangen,  strafbar.  Aist 
em  Mensch,  ein  freier  Mensch  und  hat  sich  vergangen; 
also  ist  er  strafbar.  Zuerst  wird  A unter  den  Begriff  des 
freien  Menschen  subsumiert,  sodann  dadurch  unter 
die  Strafbarkeit.  Der  Begriff  der  Freiheit  fällt  aber  damit 
heraus;  er  hat^nur  dazu  gedient,  das  Urteil  möglich 
zu  machen.  Ob  aber  der  Mensch  überhaupt  frei  sei,  diese 
Prämisse  wird  vom  Richter  nicht  untersucht: 
faktisch  ist  diese  Prämisse  nur  eine  Fiktion, 
welche  zur  Ableitung  des  Schlußsatzes  dient;  denn  ohne 


Die  Methode  der  Korrektur. 


119 


Bestrafung  der  Menschen,  der  Verbrecher,  ist  keine  Staats- 
ordnung möglich:  zu  diesem  praktischen  Zweck 
ist  die  theoretische  Fiktion  der  Freiheit  er- 
funden. 

Ähnlich  ist  es  mit  der  Fiktion  des  Staatsver- 
trags: auch  diese  dient  nur  dazu,  das  staatliche 
.Sitraf recht  (also  nicht,  wie  bei  der  Freiheit,  das'  mora- 
lische Recht  zur  Strafe)  zu  begründen:  es  wird  fin- 
giert, jeder  Bewohner  des  Landes  habe  stillschweigend 
einen  Vertrag  gemacht  mit  der  Gesamtheit,  die  Gesetze 
halten  zu  wollen.  Vertragsbruch  selbst  aber  ist  nach 
diesen  Gesetzen  strafbar : hat  nun  A diese  Gesetze  über- 
treten, so  hat  er  den  Vertrag  gebrochen,  und  damit  verfällt 
er  eben  nach  dem  Gesetz  der  Strafe.  Diese  ganze  Fiktion 
dient  also  nur  theoretisch  zur  Begründung  des 
staatlichen  Strafrechtes;  denn  es  ist  ein  öffent- 
liches Geheimnis  der  Staatslehre,  daß  das  Strafrecht 
auf  andere  Weise  absolut  nicht  zu  begründen 
ist:  woher  die  Gesamtheit  (oder  ein  einzelner  an 
ihrer  Stelle)  ein  Recht  haben  soll,  andere  zu  strafen,  ist 
absolut  nicht  ersichtlich. 

Da  man  also  die  Strafe  nicht  auf  bloßes!  Machtverhältnis 
reduzieren  will  — daß  einfach  der  Mächtigere,  die  Ge- 
samtheit, die  einzelnen  strafen  dürfe,  worin  aber  keine 
juridische  oder  moralische  Begründung  liegt  — so  ver- 
sucht man  durch  jene  Fiktion  vom  Staats  vertrag  das 
Strafrecht  zu  begründen,  theoretisch.  Auf  diese  Weise 
suchte  man  früher  und  teilweise  auch  jetzt  noch  sowohl 
das  Recht  des  Monarchen,  der  Krone,  als  auch  das 
R. evolutionsrecht  des  Volkes  theoretisch  zu  begrün- 
den: denn  es  läßt  sich  ja  doch  absolut  nicht  behaupten, 
daß  der  Staat  irgendwoher  ein  Recht  zur  Straie  habe, 
der  Regent  znm  Regieren,  das  Volk  zur  Revolution.  Auf 
solche  Weise  bildet  also  der  Vertrag  den  Mittel- 
begriff, um  die  genannten  Rechte  theoretisch  abzu- 
leiten. 

Im  Schlußsatz  selbst  aber  fällt  der  Mittelbegriff  aus ; er 
fällt  somit  aus  der  vollendeten  Denkrechnung  heraus. 

Ehe  wir  diesen  Gedanken  weiter  verfolgen,  müssen  wir 
darauf  aufmerksam  machen,  daß  je  nach  den  verschiede- 
nen Fiktionen  selbst  die  notwendigen  Korrekturen  auch 


120  Erster  Teil  - Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 

ganz  verscilieden  aiisfallen:  es  gibt  hier  eine  ungemeine 
Slannigfaltigkeit  von  Formen.  Da,  wo  unberechtigte  Über- 
tragungen usw.  stattfinden,  z.  B.  wo  der  Kreis  als  Ellipse 
definiert  wird,  bildet  das  fiktive  Vorstellungsgebilde  selbst 
nicht  den  ersten,  sondern  den  zweiten  Fehler;  näm- 
lich wenn  ich  sage : def  Kreis  ist  eine  Ellipse,  so  ist  dies 
ein  offenbarer  Fehler;  indem  ich  aber  sage:  deren  Brenn- 
punkte die  Distanz  = 0 haben,  bekommt  der  Satz  einen 
Sinn.  Aber  wodurch?  Noch  einmal  durch  einen 
Fehlerl  Denn  Distanz  = 0 ist  ein  logischer  Non- 
sens. Eine  Distanz  ^ 0 ist  ja  eben  keine  Distanz; 
der  Nichtfall  wird  also  einfach  als  Fall  in  negativem 
Sinne  betrachtet.  Hier  sind  also  zwei  Fehler:  der  erste 
ist  die  Behauptung,  der  Kreis  sei  eine  Ellipse;  dieser  wird 
gut  gemacht  durch  den  zweiten  Fehler  der  Behauptung 
einer  Distanz  = 0,  was  logisch  aber  doch  genau  ge- 
nommen derselbe  \Viderspruch  ist,  wie  die  Behauptung, 
der  Kreis  sei  eine  Ellipse.  Auch  hier  bildet  die  Vorstel- 
lung Distanz  = 0 den  Mittelbegriff,  der  nachher 
wieder  herausfällt;  der  Schluß  ist  folgender:  Jedes  Ge- 
bilde, welches  u.  a.  zwei  Brennpunkte  von  einer  gewissen 
Distanz  hat,  ist  eine  Ellipse.  Nun  hat  der  Kreis  zwei 
Brennpunkte  mit  der  Distanz  = 0 — also  ist  er  eine 
Ellipse.  Man  sieht,  wie  hier  der  fiktive  Mittelbegriff 
im  Resultat  herausfällt:  das  Resultat  selbst  war  der 
Zweck,  um  den  es  sich  handelte:  um  eine  VeralR 
gerne  in  erung  des  Begriffes  Ellipse  zu  erreichen, 
oder  um  den  Kreis  unter  ein  ganz  konträres  Gebilde  zu 
subsumieren.  Daraus  erhellt  dann  freilich  auch  die  Sub- 
jektivität aller  unserer  klassifikatorischen  Bezeichnun- 
gen; so  kann  ich  schließlich  alle  konträren  Begriffe 
untereinander  subsumieren,  was  doch  gerade  der  ordi- 
nären Logik  widerspricht. 

Eine  Reihe  von  Korrekturen  bezieht  sich  darauf,  daß 
eine  anfangs  mit  dem  wirklichen  Tatbestand  vorgenom- 
mene Veränderung  nach  Vollendung  der  Rechnung' wieder 
zurück  genommen  wird.  Dies  ist  besonders  in  der 
Mathematik  der  Fall.  Nehmen  wir  ein  Beispiel:  Es  ist  die 
Aufgabe  gegeben,  eine  Linie  a solle  in  zwei  Teile  x und 
a — X geteilt  werden,  so  daß  (a — x)  ein  Größtes  sei. 
Diese  historisch  gestellte  Aufgabe  schien  lange  unlösbar. 


Die  Methode  der  Korrektur. 


121 


bis  Ferrnat  sie  durch  folgenden  Kunstgriff  löste: 
Fermat  setzte  statt  x den  Teil  x-f-e,  also  einen  ganz  will- 
kürlichen Teil,  der  größer  ist,  als  der  verlangte.  Da- 
durch verwandelt  sich  jener  Ausdruck 


in  folgenden: 


x^  (a  — x) 

(x  -f-  e)^*(a  — X — e). 


Diesen  Ausdruck  vergleicht  er  mit  jenem,  als  wenn  beide 
gleich  groß  wären,  ob  sie  es  gleich  nicht  sind.  {Denn  der 
Wert  des  emen  und  anderen  sind  offenbar  verschieden; 
z.  B.  62(9  — 6)  gibt  108;  dagegen  (6-f  1)2(9  — 6 — 1) 
gibt  98.)  Diese  Vergleichung  nennt  er  eine  adaeqaalitas 
(Diophanti  naQoaöTrjg).  Fermat  setzt  also  folgende  Glei- 
chungen : 


(I)  x^(a  — x)  = x^a  — x^ 

(II)  (x  e)^(a  — X — e)  = (x^  -f-  2 e X -|-  e ®)  (a  — x — e)  = 

ax^  -|- 2aex  -|- ae^  — x=^  — 2ex^-  e^x  — ex^  — 2e^x — e^ 

Fermat  setzt  nun,  wie  bemerkt  (I)  — (II);  daraus  folgt: 

(III)  x'^a  — = Six^  2 aex  -{-  — x^  — 2 e x^  — e^x 

— e x^  — 2 e^x  — e® 

2 aex -|- ae- = 3 ex^  4”  3 e'^x -|- e^ 

2 ax  ae  = 3 x^4"  ^ xe  -j- 

Wie  nun  aber  weiter?? 

Hier  macht  nun  Fermat  einfach  den  oben  begangenen 
Fehler  dadurch  wieder  rückgängig,  daß  er  sagt:  Jenes 
x-}-e  war  eine  bloße  Fiktion  zur  Einfädelur^  der 
Rechnung.  Faktisch  soll  ja  doch  I = II  sein;  das  ist  aber 
nur  möglich,  wenn  e = 0 ist^);  also  fallen  alle  Glieder 
mit  e heraus.  Das  gibt 


9 Man  nehme  an,  der  Unterschied  zwischen  x und  x -}-  e,  also 
eben  die  Größe  sei  sehr  klein,  so  wäre  die  Gleichsetzung  beinahe 
richtig.  Man  nehme  an,  der  Unterschied  sei  so  minimal  wie  möglich, 
so  wird  die  Gleichsetzung  immer  richtiger.  Nimmt  man  aber  e = un- 
endlich klein,  so  wird  die  Differenz  unendlich  klein ; setzt  man  endlich 
e = 0,  so  wird  die  Differenz  auch  =0.  Die  Größe  e wird  also,  ob- 
gleich sie  Nichts  ist,  als  ein  Etwas  fingiert;  ein  Irreales  wird  ein  ge- 
schoben und  als  real  angenommen.  Dies  ist  auch  ein  Vorspiel  der 
Differentialrechnung. 


122  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


2 ax  = 3 
2a  = 3x 
2 a 


Beispiel:  Die  Linie  a habe  die  Länge  12;  so  ist  x = 8, 
a — x = 4;  nur  in  diesem  Fall  ist  x2(a  — x)  ein  Größtes; 
d.  h.  8^(4)  = 256.  Jede  andere  Teilung  gibt  ein  kleineres 
Resultat:  z.  B.  7 2 (5)  = 245;  02 (6)  = 216;  52(7)  = 175 usw. 

In  diesem  merkwürdigen  Beispiel  bat  man  ein  typi- 
sches Bild  alles  fiktiven,  alles  diskursiven 
Denkens.  Der  Gedankengang  Fermats  war  folgender: 
Die  fingierte  Größe  x-|-e  ist  nicht  gleich  mit  der 
Größe  X,  wenn  e real  ist;  sie  ist  aber  gleich,  wenn 
6 = 0 ist.  Die  ganze  Rechnungsweise  beruht  auf  einer 
quaternio  terminorum^  indem  e zuerst=real,  danii=0  ge- 
nommen wTrd.  Eine  Gleichsetzung  der  beiden  Größen 
x2(a  — x)  und  (x-(-e)2(a  — x — e)  ist  gar  nicht  möglich; 
darum  nennt  sie  Fermat  eine  adaequalitas^  eine  approxi- 
mative Gleichheit,  keine  vollständige.  Gleichwohl  rechnet 
er,  als  ob  die  Gleichheit  vollständig  wäre,  obwohl 
nach  dem  strengen  Codex  der  Mathematik  und  Logik 
X nimmermehr  = x -f-  e ist. 

Und  doch  wird  durch  diese  Rechnungsweise  das  Re- 
sultat erreicht!  Durch  die  eingeschobene  Fiktion  x-j-e 
und  ihre  Gleichsetzung  mit  x 1 

Was  tat  also  Fermat?  Den  zuerst  begangenen 
Fehler  nahm  er  im  Verlauf  wieder  zurück,  in- 
dem er  die  Hilfsgröße  e einfach  herausfallen  läßt.  Jetzt 
ist  die  Gleichheit  der  Schlußgleichung  keine  erdichtete 
mehr,  wie  die  erste,  sondern  sie  ist  eine  faktische.  Durch 
die  Erdichtung,  durch  die  Methode  der  entgegengesetzten 
Operationen  ist  also  hier  ein  äußerst  wichtiges  Resultat 
erreicht. 

Genau  dieselbe  MeÜiode,  wenn  auch  einfacher,  befolgt 
das  mathematische  Denken  bei  der  Auflösung  der  Glei- 
chungen zweiten  Grades.  Wir  haben  die  Gleichung : 

x2-|-px  = q. 

Mit  dieser  Gleichung  kann  das  Denken  nichts  anfangeii. 
Es  kann  nur  durch  die  Methode  der  entgegengesetz- 
ten Operationen  vorwärts  kommen.  Und  wie  fängt  das 


Die  Methode  der  Korrektur. 


123 


Denken  das  hier  an?  Es  führt  die  Hiifsgröße 
und  sagt  zunächst 


x"  4- px -f  = q. 


ein, 


Das  wäre  aber  ein  Fehler:  die  entgegengesetzte 
Operation  wird  hier  sofort  vorgenonimen,  indem  auch  auf 
die  entgegengesetzte  Seite  dasselbe  Zeichen  gesetzt  wird ; 
also : 


X’  -l-px  + 


Nun  ist  die  Gleichung  auflösbar;  denn: 


X -|-- 


P. 

2 


==  + 


Wie  gelangte  das  mathematische  Denken  zu  diesem 

Resultat?  Durch  Einführung  der  Hilfsgröße  ’ 

welche  auf  den  beiden  entgegengesetztenSeiten 
der  Gleichung  hinzugefügt  wurde;  indem  ich 

auf  der  rechten  Seite  auch  liinzusetze,  hebe  ich  den 


auf  der  linken  Seite  begangenen  Fehler  wieder  auf.  Es 
ist  eine  allgemeine  mathematische  Regel,  daß  ich  die  eine 
Seite  der  Gleichung  nicht  quantitativ  verändern  darf,  ohne 
einen  Fehler  zu  begehen,  ohne  die  Gleichung  zu  zerstören. 
Ich  begehe  diesen  Fehler,  mache  ihn  aber  sofort  durch 
den  entgegengesetzten  unschädlich. 

Formell  ist  dieses  Verfahren  mit  dem  oben  darge- 
stellten von  Fermat  beinahe  identisch.  In  der  mathemati- 
schen Terminologie  heißt  man  dies  Kunstgriffe  oder 
Kniffe.  Der  zweite  ist  ein  deutliches  Bild  der  Semi- 
fiktion:  hier  wird  die  AVirklichkeit  verändert;  nur 
erfordert  hier  eben  die  Eigenart  des  Gegenstandes  die 


124  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


sofortige  Remedur,  die  Sanierung,  während  sie  in 
den  übrigen  Semifiktionen  erst  nachher  eintritt. 

Auch  bei  dem  ersten  mathematischen  Beispiel  tritt  die 
Remedur  resp.  Sanierung  erst  nachher  ein:  indessen  ist 
jenes  erste  Beispiel  zugleich  ein  Bild  der  echten  Fik- 
tionen: denn  hier  wird  ein  Widerspruch  begangen:  ent- 
weder ist  (a  — x)  = (x -f- (a  — x — e),  d.  h.  also  x-\-e 
= x,  dann  ist  e = 0 (mit  0 zu  rechnen,  darin  besteht  aber 
eben  der  Kunstgriff;  0 ist  ja  keine  Zahl);  oder  x ist 
nicht  =x-|-e,  dann  ist  die  Gleichsetzung  falsch;  das  ist 
sie  aber  auch  im  ersten  Falle;  denn  x-(-0  hat  keinen  Sinn 
mehr;  es  ist  eben  =x,  und  was  soll  ein  0^?  Somit  kom- 
men wir  hier  aus  dem  Widerspruch  gar  nicht  heraus; 
die  Feinheit  der  Mathematik  besteht  nun  aber  darin, 
doch  mit  solchen  sinnlosen  Symbolen  wie  0 zu 
rechnen,  als  ob  sie  wirkliche  Zahlen  wären. 

Ich  behaupte  nun,  daß  alle  fiktiven  Denkhandlungen  mit 
der  obigen  mathematischen  formell  ganz  identisch  sind. 
Die  Identität  der  ersten  Form : bloßeVeränderung  der 
Wirklichkeit  (ohne  Selbstwiderspruch),  liegt  auf  der  Hand. 
Wie  im  zweiten  Beispiel  das  Gleichungsglied  x^-j-px 


durch  den  willkür 


i c h e n Zusatz  (natürlich  g 


anz 


willkürlich  darf  er  nicht  sein,  sondern  in  irgendeiner  Be- 
ziehung damit  muß  er  stehen)  verändert  wird,  so  ver- 
ändert die  Psyche  in  den  obigen  fiktiven  Methoden : künst- 
liche Einteilung,  abstraktive  resp.  neglektive  Fiktion  usw. 
die  Wirklichkeit,  die  gegebene  Wahrnehmung.  Damit  das 
Denkresultat  aber  stimme,  muß  eben  eine  entgegen- 
gesetzte Operation  vorgenommen  werden;  bei  dem 
mathematischen  Beispiel  geschieht  dies  sogleich;  bei 
den  anderen  geschieht  dies  nachher.  Ich  behaupte  damit 
nicht,  die  logischen  Funktionen  auf  mathematische  re- 
duziert zu  haben,  sondern  die  formale  Identität 
der  wissenschaftlichen  Methoden  in  verschie- 
denen Wissenschaftsgebieten  nachgewiesen 
zu  haben,  und  zwar  derjenigen  Methoden,  welche  das 
Ziel  durch  Veränderung  des  Gegebenen  erreichen, 
durch  willkürliche  Abweichung  von  der  Wirklichkeit. 
Jenes  mathematische  Beispiel  ist  nur  unter  allen  das 


Die  Methode  der  Korrektur. 


125 


durchsichtigste  und  zeigt,  wie  es  denkbar  sei,  daß 
das  Denken  gerade  durch  die  iVbweichung  von  der 
Wirklichkeit  vorwärts  kommen  kann.  Das  gegebene  Denk- 
material steht  der  logischen  Funktion  spröde  gegenüber; 
ohne  sich  dadurch  abschrecken  zu  lassen,  verändert  sie 
willkürlich  das  Gegebene,  bringt  so  die  Vorstellun- 
gen in  Fluß  und  verändert  ganz  ruhig  am  Ende  ihren  an- 
fänglich begangenen  Fehler.  Wir  sehen  hier  die  formale 
Identität  dieser  logischen  Kunstgriffe  ganz  eklatant. 

Auf  das  Schema  der  Fermatschen  Rechnung  hat  Ber- 
keley, was  gar  nicht  mehr  bekannt  ist,  auch  die  Diffe- 
rentialrechnung gebracht  und  gezeigt  (ohne  das  Fer- 
matsche  Beispiel  anzuführen),  daß  auf  diese  Weise  sich 
dieselbe  erklären  lasse:  sein  Resultat  ist,  daß  doppelte 
Fehler  gemacht  werden.  Die  Einwände  Berkeleys  sind 
in  dem  vergessenen  Werke:  The  Analyst  enthalten  und 
in  fünfzig  Abschnitten  weitläufig  entwickelt.  Es  ist  ein 
imgemeines  Verdienst  Berkeleys,  diese  Widersprüche  in 
der  Fluxionsrechnung  hervorgehoben  zu  haben;  nur  be- 
gegnet ihm  dabei  ein  höchst  komischer  Fehler:  er  weist 
genau  nach,  durch  welchen  Kunstgriff  der  Mathematiker 
sein  Resultat  erreiche,  nämlich  dadurch,  daß  die  Fehler 
doppelt  gemacht  werden:  anstatt  nun  in  dieser  ganz 
genialen  Entdeckung,  die  viel  tiefer  geht,  als  Newtons 
und  Leibnizens  eigene  Ausführungen,  den  Grund  des 
richtigen  Resultates  und  das  Recht  der  Anwendung 
zu  finden  — verwirft  er  die  ganze  Methode  als  un- 
logisch, als  dem  traditionellen  Kodex  der  Logik  wider- 
sprechend. Die  Geschichte  hat  ihn  Lügen  gestraft:  denn 
noch  heute  macht  man  dieselben  Fehler,  Widersprüche 
mit  denselben  Kunstgriffen  und  ganz  mit  Recht.  Derselbe 
Fehler  begegnete  ihm  aber  noch  einmal  auf  eine  noch 
\del  komischere  Weise:  Berkeley  wies  vollständig  richtig 
und  mit  genialem  Blick  nach,  daß  fast  alle  Grundbegriffe 
der  Mathematik  widerspruchsvoll  seien ; daraus  leitet 
er  den  Satz  ab,  die  Mathematiker  hätten  gar  kein  Recht, 
über  die  Unbegreiflichkeiten  und  Mysterien  des  Christen- 
tums zu  schelten,  da  ihre  eigene  Mathematik  daran  leide ; 
als  ein  solcher  Widerspruch  erscheint  ihm  die  Fluxions- 
rechnung; diese  verwirft  er  eben  als  widerspruchs- 
voll; aber  als  echter  Engländer  sieht  der  gute  Bischof  von 


126  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


Cloyne  nicht  ein,  daß  er  dann  ja  auch  die  Grundbegriffe 
der  christlichen  Theologie  verwerfen  müßte. 

Und  er  hatte  die  Lösung  sogar  in  der  Hand;  allein  wir 
haben  hier  das  seltsame  Schauspiel,  das  nicht  so  leicht 
in  der  Wissenschaft  zweimal  wiederkehrt,  daß  ein  Den- 
kerdieLösung  einesProblems  inderHand  hat, 
— das  Problem  selbst  aber  nicht! 

Das  ging  so  zu:  Berkeley  war  ärgerlich  darüber,  daß 
einige  „free-thinkers“,  welche  Mathematiker  waren,  sich 
skeptisch  über  die  Unbegreiflichkeiten  der  christlichen 
Dogmatik  geäußert  hatten : sein  ganzes  Bestreben  ging  nun 
dahin,  nachzuweisen,  die  Mathematiker  sollten  vor  ihrer 
eigenen  Türe  kehren,  und  „wer  in  einem  Glashause 
wohne,  solle  nicht  mit  Steinen  um  sich  werfen“.  Seine 
Tendenz  ist  bloß,  nachzuweisen,  daß  die  Fluxionsrech- 
nung  mit  Widersprüchen  behaftet  sei;  ja,  er  zeigt  so- 
gar und  findet  auf  diesem  Wege  ganz  zufällig,  daß  die 
Methode  immer  einen  Fehler  durch  einen  zAveiten  wieder 
gutmache  und  so  nun  das  richtige  Resultat  erhalte! 

Berkeley  hatte  eine  unwissenschaftliche  Tendenz. 
Das  wahre  Problem  war  und  ist:  Wie  kommt  es,  daß 
in  der  Mathematik  durch  Widersprüche,  wie 
sie  in  der  Fluxionsrechnung  enthalten  sind. 
Richtiges  erreicht  wrtrd?  Anstatt  dessen  sucht  Ber- 
keley nur  die  Widersprüche  selbst  nachzuweisen! 
Aber  er  hat  mehr  geleistet,  als  er  wollte!  Denn  er  hat 
auch  zugleich  die  Antwort  auf  jene  Frage  gefunden,  die 
er  gar  nicht  gestellt  hatte.  Und  doch  hätte  ihn  diese 
Antv/ort  selbst  auf  die  richtige  Frage  bringen  sollen. 
Gewiß  ein  seltener  Fall  in  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaften. 

Die  Antwort  auf  jenes  Problem  ist:  Das  richtige 
Resultat  wird  erreicht  durch  die  Methode  der 
entgegengesetzten  Fehler. 

Wir  müssen  das  einzelne  dieser  höchst  interessanten 
Entdeckung  Berkeleys  über  die  Fluxionsrechnung  (welche 
Drobisch  und  Car  not  wiederum  gemacht  haben)  auf 
eine  Spezialdarstellung  verschieben:  für  uns  fließt  diese 
Methode  ganz  organisch  aus  unserem  Prinzip,  und  sie 
bildet  nur  einen  Bruchteil  der  allgemeinen  fiktiven  Me- 
thode des  Denkens.  Die  ein  geführten  Hi  Ifs  großen 


Die  Methode  der  Korrektur. 


127 


fallen  wieder  aus : in  der  Mathematik  ist  dies  nur  möglich 
durch  entgegengesetzte  Operationen.  Die  eigentliche  Auf- 
lösung des  Geheimnisses  besteht  darin,  daß  dx  und  dy 
das  eine  Mal  = 0,  das  andere  Mal  = real,  wenn  auch 
sehr  klein  betrachtet  werden.  Dies  ist  die  mathema- 
tische Lösung.  Die  Frage,  warum  man  durch  die  Fiktion 
von  dx  und  dy  und  ds  die  Resultate  richtig  erreiche, 
kann  ganz  verschieden  beantwortet  werden,  je  nachdem 
man  rein  mathematisch  zu  Werke  geht  oder  eine  Er- 
klärung mit  diskursiven  Begriffen  will.  Mathematisch 
ist  jene  Fiktion  ein  einfacher  Kunstgriff,  und  die  Glieder 
dx  usw.  fallen  schließlich  einfach  heraus  durch 
den  entgegengesetzten  Fehler,  durch  die  quaternio : 
denn  anfangs  werden  sie  gleich  real,  zuletzt  gleich  0 ge- 
nommen. Logisch  und  diskursiv  ausgedrückt  nehmen  wir 
den  Begriff  „Unendlich  klein“  zu  Hilfe,  der  nur  ein 
diskursives  Begriffsgebilde  ist,  dagegen  im  mathemati- 
schen Kalkül  selbst  bloß  als  Symbol  behandelt  wird, 
und  sogar  in  der  Differentialrechnung  selbst,  rein  ma- 
thematisch behandelt,  gar  nicht  notwendig  ist. 
Man  hat  schon  oft  versucht,  diesen  Begriff  aus  der  Diffe- 
rentialrechnung hinwegzutun:  aus  dem  mathemati- 
schenKalkül  braucht  man  ihn  nicht  zu  entfernen,  denn, 
richtig  verstanden,  ist  er  nicht  da,  wie  Berkeley  richtig 
zeigt;  das  Ganze  beruht  auf  einem  mathematischen 
Kunstgriff;  dagegen  sucht  die  diskursive  Inter- 
pretation die  mathematische  Berechnung  durch  diesen 
Scheinbegriff  zu  rechtfertigen.  Das  ist  richtig.  Auch  jene 
Ferm  ätsche  Rechnung  läßt  sich  so  rechtfertigen:  man 
sagt,  x-|-c  sei  nur  unendlich  wenig  von  x verschieden, 
darum  seien  beide  auch  wohl  gleichzusetzen.  Für  den 
Mathematiker  ist  dies  keine  Rechtfertigung;  und  wenn  e 
noch  so  klein  ist,  so  ist  doch  x-f-e  verschieden  von'x; 
die  mathematische  Betrachtung,  wenn  sie  rein,  ohne  dis- 
kursive Beimischung  ist,  kann  die  Fermatsche  Methode 
und  die  Infinitesimalmethode  ganz  ohne  Einmischung  des 
Unendlichkeitsbegriffes  betrachten;  wie  e einfach  ein 
Symbol  ist=0,  das  dann  aber  zuerst=real,  dann=0 
genommen  wird,  so  ist  ds,  dx,  dy  zuerst=real,  sehr  klein 
(nicht  unendlich  klein)  und  nachher  = 0;  durch  diesen 
einfachen  kunstreichen  Mechanismus  wird  das  Resultat 


128  Krstor  Teil:  Prinzipielle  Gninrllegimg.  B.  Theorie  der  Fiktionen, 

erreicht.  Dieser  mathematischen  Rechtfertigung  oder  Justi- 
fikation  steht  die  diskursive  vermittels  des  Mißbegriffes 
des  Unendlich  kleinen  gegenüber:  es  ist  vollständig 
richtig,  daß  man  diesen  entbehren  kann  bei  jenen  Me- 
thoden, aber  den  Widerspruch  werden  sie  doch 
nicht  los,  denn  sie  rechnen  mit  0 gleich  einer  Zahl,  oder 
sie  setzen  zuerst  e und  ds  = sehr  klein,  dann  = 0;  das 
sind  Kunstgriffe,  deren  richtiger  Erfolg  nur  auf  der 
Methode  der  entgegengesetzten  Fehler  beruht. 
Zuerst  wird  e eingeführt,  dann  wird  es  wieder  herausge- 
worfen; so  auch  die  Differentiale.  Die  Verdeutlichung 
durch  den  Begriff  des  Unendlichkleinen  gehört  nur  dem 
diskursiven  Denken  an;  und  es  ist  Hoffnung  vor- 
handen, diesen  Begriff,  wie  wir  ihn  hier  als  entbehrlich 
erkannten,  so  auch  sonst  entbehrlich  zu  machen.  Wenn 
aber  auch  dies  nicht  gelingt,  so  ist  und  bleibt  er  doch  als 
eine  Fiktion  erkannt;  es  ist  nur  wichtig,  zu  zeigen,  wie 
bei  diesen  Fiktionen  durch  entgegengesetzte  Fehler 
das  eigentliche  Resultat  erreicht  wird.  Wenn  wir  e und 
ds,  dx,  dy  - - als  unendlich  klein  nehmen,  so  ist  aber 
die  Methode  genau  dieselbe  wie  oben:  wir  führen  dadurch 
ein  fiktives  Gebilde  ein,  denn  unendlich  klein  ist 
logischer  Nonsens,  ein  Bastard  von  Nichts  und  Etwas. 
Und  das  ganze  große  Geheimnis  der  Sache  läuft  auf 
diese  lächerlich  einfache  Methode  hinaus,  diesen  Begriff 
bald  als  Etwas,  bald  als  Nichts  zu  nehmen. 

Das  Unendlichkleine  ist  eine  Fiktion.  Freilich  wird 
dann  durch  diese  Fiktion  (welche  durch  die  Methode 
der  entgegengesetzten  Fehler  gerechtfertigt  ist)  das  Ge- 
gebene gleichsam  zersetzt : nur  dadurch  ist  der  Fortschritt 
der  Rechnung  ermöglicht.  Indem  das  Denken  entgegen- 
gesetzte Operationen  vornimmt,  erreicht  es  einen  Fort- 
schritt: die  Zusammenfassung  dieser  entgegengesetzten 
Operationen  in  einen  Begriff  erzeugt  eben  die  Fiktionen, 
welche  nur  das  Symptom  solcher  entgegengesetzten  Ope- 
rationen sind,  solcher  entgegengesetzten  Fehler.  Nun  sind 
die  Widersprüche  in  solchen  Begriffen  erklärt  und  gerecht- 
fertigt, beides  zugleich.  Die  Hauptsache  sind  nicht  diese 
Begriffe  selbst,  sondern  die  in  ihnen  zum  Ausdruck 
kommenden  entgegengesetzten  Operationen,  durch 
welche  das  Denken  seine  Forlschritte  erreicht.  Wie  denn 


Die  Methode  der  Korrektur. 


120 


aber  das  möglich  sei,  das  lehrten  uns  jene  mathematischen 
Beispiele  und  wird  uns  noch  das  Folgende  lehren.  Der 
ganze  Fortschritt  des  Denkens  beruht  nur  auf  solch  ent- 
gegengesetzten Operationen  oder  Fehlern:  in  diesem  Hin 
und  Her  besteht  einzig  und  allein  der  logische  Fortschritt, 
der  keine  gerade  Linie  ist,  sondern  ein  beständiges 
Lavieren  gegen  einen  ungünstigen  Wind. 

Wir  haben  oben  an  speziellen  mathematischen  Bei- 
spielen nachzuweisen  versucht,  wie  die  Seele  kunst- 
reich verfahre,  um  schwierige  Aufgaben  zu  lösen:  sie 
weicht  der  Schwierigkeit  einfach  nach  der  Seite  hin  aus 
und  sucht  indirekt  ihr  Ziel  zu  erreichen.  Es  waren  frap- 
pante Beispiele,  welche  wir  zu  betrachten  hatten,  aber 
sie  allein  sind  imstande,  uns  den  eigentlichen  Denk- 
mechanismus, den  psychischen  Mechanismus  des  Denkens 
zu  enthüllen.  Wenn  nämlich  alle  Kategorien  und  Allge- 
meinbegriffe nach  unserer  früheren  Ausführung  auch  nur 
Fiktionen  sind,  so  muß  ja  wohl  hier  ein  Ähnliches  statt-' 
finden?  Natürlich!  Und  es  findet  auch  statt,  und  wir 
haben  auch  schon  darauf  hingewiesen  und  wollen  noch 
einmal  darauf  hinweisen.  Durch  die  Einschiebung 
einer  Kategorie  wird  nämlich,  wie  wir  sahen,  nicht 
nur  der  Schein  desBegreifens  erzeugt,  sondern  auch 
eine  gewisse  Ordnung  der  Phänomene  hervorgebracht, 
und  die  Berechnung  der  Data  der  Erfahrung  ermöglicht. 
Ich  sehe  übrigens  auch  gar  nicht  ein,  was  denn  die  Ein- 
teilung der  Phänomene  in  Kategorienfächer  vor  einer 
künstlichen  Einteilung  voraus  haben  sollte?  Prak- 
tisch ist  diese  Einteilung  recht  wertvoll,  aber  wer  wird 
heutzutage  behaupten,  dadurch  sei  irgendeine  Erkennt- 
nis geschaffen,  wer  wird  leugnen,  daß  diese  Einteilung 
zu  Unträglichkeiten  und  Widersprüchen,  zu  „un- 
möglichen Gliedern“,  wie  Lotze  sagt,  führe. 

Also  unsere  Kategorieneinteilung  ist  eine  rein  künst- 
liche Klassifikation  der  Dinge,  und  das  Prinzip  dieser 
Einteilung  ist  einzig  und  allein  die  Analogie  der  Ab- 
folge und  Gleichzeitigkeit  der  phänomenalen  Unabänder- 
lichkeiten mit  subjektiven  Verhältnissen;  aus  diesen  wer- 
den prominente  Fälle  herausgehoben,  sie  bilden  das 
Gleichheitszentrum,  um  das  sich  die  äußeren  ähnlichen 

Vaihitiger,  Philosophie.  9 


130  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Tlieorie  der  Fiktionen. 


Fälle  versammeln.  Bei  der  Denkrechnung  aber  fallen  sie 
faktisch  heraus. 

Nicht  viel  anders  .steht  es  aber  mit  der  zweiten 
Hauptfiktion  der  logischen  Funktion,  mit  den  All- 
g e m e i n h e g r i f f e n : auch  sie  fallen  nach  V ollendung  der 
Denkrechnung  heraus,  wie  oben  „e“  und  ds,  dx,  dy  heraus- 
fielen, weil  sie  fiktive,  eingeschobene  Vorstellungs- 
gebilde sind  ohne  wahre,  objektive  Bedeutung.  Verfolgen 
wir  eine  Denkrechnung  in  ihrem  Verlauf,  und  analysieren 
wir  dabei  den  psychologischen  Mechanismus.  Es  handle 
sich  darum,  als  Resultat  zu  erhalten,  daß  — es  ist  ein 
altes  Schulbeispiel  — Sokrates  sterblich  ist,  weil  jeder 
Mensch,  weil  der  Mensch  überhaupt  sterblich  ist.  Die 
wahre  Aufgabe  hierbei  ist,  von  dem  speziellen 
Phänomen  solches  auszusagen,  was  in  vielen 
tausend  ähnlichen  Fällen  beobachtet  war.  Also 
wir  haben : 

M — P — Der  Mensch  ist  sterblich. 

S — M — Sokrates  ist  ein  Mensch. 

S — P — Sokrates  ist  sterblich. 

Was  haben  wir  damit  getan?  Mit  Hilfe  des  Mittel- 
begriffes „Mensch“  haben  wir  eine  Denkrechnung 
vollzogen,  deren  Resultat  ist:  Sokrates  ist  sterblich.  Der 
Mittelb egriff  selbst  ist  herausgefallen.  Es  war  uns  ja 
auch  nur  darum  zu  tun,  den  einzelnen  Fall  des  So- 
krates: dieses  Spezialphänomen,  so  mit  einer  zahllosen 
Reihe  anderer  zu  vergleichen,  daß  wir  eine  gemeinsame 
Koexistenz  oder  Sukzession  erschließen  können^  d.  h. 
wahrnehmen  könnten,  wenn  der  spezielle  Fall  überhaupt 
in  unsere  Wahrnehmung  treten  würde.  Eigentlich  ist 
dieser  Schluß  eine  Hypothese  nach  der  Analogie:  weil 
viele  Menschen,  d.  h.  alle  bekannten  Menschen  sterb- 
lich gewesen  seien,  sei  auch  Sokrates  sterblich.  Allein 
diese  bloße  Analogie  — und  faktisch  besteht  unser  ganzes 
Wissen  darin  — wird  vermittelt  und  erleichtert 
durch  den  Mittelbegriff  Mensch. 

Nachdem  das  Resultat  erreicht  ist,  fällt  der  Mittelbegriff 
heraus. 

Die  entgegengesetzten  Operationen  bestehen  also  darin, 
daß  zuerst  der  Allgemeinbegriff  „Mensch“  über- 


Die  Methode  der  Korrektur. 


131 


haiipt  gebildet  wird,  und  daß  dann  Sokrates  selbst  dar- 
unter subsumiert  wird:  dadurch  wird  eben  das  Aus- 
fallen des  Mittelbegriffes  ermöglicht. 

Die  entgegengesetzten  Operationen  nannten  wir 
aber  8uch  entgegengesetzte  Fehler:  wir  wollen  dies  hier 
spezieller  verwerten;  vielleicht  finden  wir  noch  ein  ganz 
anderes,  unerwartetes  Resultat.  Der  erste  Fehler  besteht 
in.  der  Bildung  des  Begriffes:  „Mensch  überhaupt“.  Was 
ist  dieses  „überhaupt“  ? Es  ist  eine  reine  Einbildung,  eine 
Fiktion,  ein  fiktives  Vorstellungsgebilde.  xVus  der  un- 
zähligen Menge  der  vielen  beobachteten  Menschen  schiebt 
sich  allmählich  ein  Allgemeinbild  heraus,  ein  Typus, 
ein  Schema,  in  dem  die  allgemeinsten  „Eigenschaften“ 
dieser  ähnlichen  Phänomene  gesammelt  sind.  Dieses  Bild 
ist  bloß  ein  Vorstellungsgebilde:  in  Wirklichkeit 
gibt  es  nur  einzelne  Menschen.  Wir  heißen  dies  Gebilde 
nun  den  A 1 1 g e in  e i n b e g r i f f „Mensch“ . Da  ein  solches 
Gebilde  nicht  existiert,  so  ist  der  Satz:  Der  Mensch  ist 
sterblich  — logisch  streng  genommen  — falsch; 
denn  sterblich  sind  nur  die  einzelnen  Menschen, 
die  einzelnen  A,  B,  C,  D . . . Eine  Aussage  über  „den 
Menschen“  ist  logisch  streng  genommen  falsch,  eine  Ab- 
weichung von  der  gegebenen  Wirklichkeit,  weil  diese  uns 
keinen  „Menschen“  gibt. 

Der  Untersatz:  S — M ist  aber  auch  falsch;  denn  in 
ihm  wird  ein  individuelles  Wesen  dem  Allgemeinbegriff 
gleichgestellt.  Jenes  M als  Allgemeinbegriff  ist  doch  etwas 
anderes  als  das  Mabc  (abc  als  die  Reihe  der  individuellen 
Bestimmungen  gesetzt  nach  der  Bezeichnungsweise  Lotzes), 
welches  Sokrates  ausmacht.  Nennen  wir  dies  M^.  Es  wird 
also  im  Untersatz  gesagt:  S ist  M.  Das  ist  aber  auch  nicht 
wahr,  denn  S i s t M^. 

Genau  wie  wir  oben  eine  quaternio  terminoram  hatten 
bei  e (in  der  Rechnung  von  Fermat  war  es  zuerst  = real, 
(lann  = 0)  so  hier:  und  in  dieser  quaternio  besteht  eben 
auch  die  Methode  der  entgegengesetzten  Operationen.  Zu- 
erst werden  alle  M^,  M^,  M^  durch  eine  willkürliche  Ab- 
straktion zusammengefaßt  zu  einem  M,  dem  die  an  jenen 
beobachteten  Eigenschaften  zugeschrieben  werden;  dann 
wird  umgekehrt  ein  gegebenes  mit  diesem  M identi- 
fiziert, also  der  entgegengesetzte  Fehler  gemacht;  durch 


132  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


diesen  Fehler  nun  wird  die  willkürliche  Abweichung 
wieder  gut  gemacht,  und  der  Mittelbegriff  fällt  aus. 

Also  beruht  jeder  solcher  Schluß,  dessen  Mittelbegriff 
ein  Allgemeinbegriff  ist,  auf  einer  qaaternio  terminoram. 

Somit  sind  auch  beim  Gebrauch  der  Allgemeinbegriffe 
die  Methode  und  der  Mechanismus  des  Denkens  auf  die 
allgemeine,  bisher  beobachtete  Methode  der  entgegen- 
gesetzten Operationen  zurückgeführt.  — 

Eine  Folgerung  aus  dem  Gesagten  müssen  wir  noch 
hinzufügen : Ausdrücke,  wo  die  entgegengesetzte  Operation 
noch  nicht  vollzogen  ist,  sind  also  streng  genommen 
ebenso  falsch,  als  x2(a  — x)  = (x-j-e)2(a  — x — e),  wo  eben 
die  entgegengesetzte  Operation  noch  nicht  statt- 
fand. 

Das  trifft  nun  einmal  auf  alle  allgemeinen  Sätze 
zu;  denn  der  allgemeine  Satz  hat  nur  die  Funktion,  in 
einer  Denkrechnung  verwertet  zu  werden  und  zur  Ver- 
mittlung zu  dienen : der  Satz : „Der  Mensch  ist  sterb- 
lich“ ist  also,  wie  schon  manche  Skeptiker  behaupten, 
falsch,  weil  „der  Mensch“  gar  nichts  Pmales  ist  Es 
ist  ein  unrealer  Satz,  der  nach  seiner  Ergänzung  verlangt 
wie  eine  abgerissene  Hälfte. 

Nun  hat  aber  Lotze  (und  ähnlich  vor  ihm'  Steinthal) 
dieselbe  Bemerkung  gemacht  in  bezug  auf  alle  in  Kate- 
gorien gefaßten  Begriffe  überhaupt,  und  sicher  mit  vollem 
Rechte.  Steinthal  macht  mehrfach  darauf  aufmerksam, 
daß  im  Urteil  eigentlich  erst  die  Spannung  gelöst  j 
werde,  welche  durch  die  Bildung  einzelner  Begriffe  ins 
Denken  hereingebracht  werde.  Natürlich!  Nach  unserer 
Theorie  sind  alle  Begriffe,  alle  in  Kategorien  gebrachten 
Verhältnisse  Fiktionen:  ein  einzelnes  Glied  dieses  Ver- 
hältnisses, eine  Fiktion  nackt  hinzustellen,  darin  besteht 
eben  die  Spannung,  der  Widerspruch:  Baum,  grün 
sind  Beispiele;  abgetrennt,  isoliert  sind  das  Fiktionen: 
sage  ich  aber  „dieser  Baum  ist  grün“,  so  ist  die  Span- 
nung im  Urteil  gelöst. 

Das  eigen  Üiche  Prinzip,  daß  die  isolierten  Begriffe  und  Allge- 
meinurteile zur  Ergänzung  drängen,  liegt  eben  darin,  daß  sie  nur 
Mittel  zu  einem  Zwecke  sind,  ohne  den  sie  wertlos  sind:  die  Mittel 
aber  ohne  Rücksicht  auf  ihren  Zweck  zu  hehandeln,  führt  eben  auf 
Spannung  und  Widersprüche. 


Die  Methode  der  Korrektur. 


133 


Indessen  ist  dies  nur  ein  spezieller  Fall  einer  viel 
allgemeineren  Erscheinung  bei  allen  Fiktionen.  Wir 
machten  ja  mehrfach  darauf  aufmerksam,  daß,  wenn 
man  die  Fiktionen,  die  Mittelglieder,  allein  herausnehme 
und  behandle,  man  nur  die  Schalen  nehme  und  den 
Kern  fallen  lasse:  sowie  man  eine  Fiktion  abgelöst  be- 
trachtet von  dem  Boden,  auf  dem  sie  gewachsen  ist,  mid 
von  dem  Zweck,  den  sie  erfüllt,  so  ist  sie  Schale,  ohne 
Kern,  wie  1^—1,  wie  Jy,  üx,  wie  jenes  e^),  usw.,  und 
somit  hat  man  nicht  nur  Schalen  in  den  Händen,  sondern 
auch  Widersprüche  Luid  Scheinbegriffe : sie  haben  eben  nur 
Leben  in  der  Beziehung  aufs  Wirkliche:  ohne  diese  sind 
sie  tot;  ohne  ihren  Zweck  betrachtet  sind  sie  wertlos. 
Ganze  Zeiten  haben  sich  mit  Schalen  begnügt,  so  das 
Mittelalter,  welches  sich  mit  Begriffen  abgah  ohne 
ilire  Beziehung  auf  die  lebendige  Wirklichkeit,  in  der 
sie  allein  ihren  Zweck  erfüllen.  xVlso  alle  Beschäftigung 
mit  den  Fiktionen  als  solchen  ist  wertlos  und  schädlich, 
weil  sie  selbst  nur  Wert  haben  in  ihrer  Beziehung 
auf  ihren  Zweck:  von  diesem  allgemeinen  Gesetz,  — 
das  mit  absoluter  Notwendigkeit  aus  dem  Wesen  der  Fik- 
tion selbst  folgt  und  so  vieles  aus  der  Wissenschafts- 
geschichte auf  einmal  erklärt  — ist  jene  obige  Bemerkung 
nur  ein  Anwendungsfall.  Natürlich  haben  Begriffe  und 
darauf  gebaute  Allgemeinurteile  keinen  Wert  als  in  Be- 
ziehung auf  die  einzelnen  Phänomene  und  ihren 
Zusammenhang.  Darum  drängt  der  Begriff  zum 
Urteil,  weil  er  selbst  unvollkommen  ist,  d.  h.  ein  fik- 
tives Vorstellungsgebilde;  im  Satz  wird  aber  der  be- 
gangene Fehler  wieder  rückgängig  gemacht,  indem  im 
Einzelurteil  — die  in  Kategorien  auseinandergerissene  Er- 
scheinung wieder  zusammengesetzt  wird : wir  hatten  oben 
das  Beispiel : „Der  Baum  ist  grün“,  „Der  Zucker  ist  weiß“. 
„Zucker“,  „weiß“  für  sich  sind  Fiktionen:  dagegen  das 
Urteil  „der  Zucker  ist  weiß“  spricht  eine  Tatsache 
aus.  Freilich  ist,  wie  wir  oben  sahen,  ein  solches  all- 
gemeines Urteil,  von  einem  höheren  Standpunkt  aus  be- 
ll Kenner  der  Mathematik  werden  hierbei  wohl  sofort  an  die 
bekannten  Vorsichtsmaßregeln  erinnert,  wie  z.  B.  dx , Jy  an  sich 
keinen  Sinn  haben,  nur  im  Zusammenhang  der  Rechnung  Wert 
haben  usw. 


134  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen, 


trachtet,  auch  streng  genommen,  falsch,  da  es  nur  dieses 
imd  jenes  Stück  Zucker  gibt,  nicht  aber  Zucker  überhaupt. 

Ihre  eigentliche  Wichtigkeit  und  Bedeutung  gewinnt 
misere  Ansicht  aber  erst  durch  die  Anwendung  auf  die 
großen  Lieblingsbegriffe  der  Philosophen:  Gott,  Frei- 
heit, Unster l3lichkeit,  Ding  an  sich.  Absolutes 
usw.  und  auf  eine  Reihe  anderer  Begriffe  und  Methoden, 
welche  hier  zum  erstenmal  unter  diesem  zusammenfassen- 
den Gesichtspunkt  betrachtet  werden,  und  denen  ihre 
wahre  Bedeutung  in  demselben  Moment  erst  zu- 
gewiesen wird,  als  ihnen  jede  Bedeutung  für 
die  Wahrheit  abgesprochen  werden  muß.  Die 
eigentliche  Bedeutung  unserer  Untersuchung  liegt  also 
in  der  schonungslosen  Anwendung  dieser  Theorie  auf 
gewisse  beliebte  Begriffe  und  berühmte  Ideen,  ebenso 
wie  auf  die  ganze  Vorstellungswelt,  wodurch  der  kriti- 
sche Positivismus  allein  zur  konsequenten  und 
lückenlosen  Ausführung  gelangt.  Nicht  nur  jene  einzelnen 
Begriffe,  nicht  nur  eine  Reihe  von  Methoden,  nicht  nur 
das  diskursive  Denken,  sondern  die  ganze  Vorstel- 
lung s weit  ist  also  für  uns  eine  Fiktion.  Wirklich  ist 
und  bleibt  nur  die  beobachtbare  Unabänderlichkeit  der 
Phänomene,  ihrer  Verhältnisse  usw.;  alles  andere  ist 
bloßer  Schein,  den  die  Psyche  „darum  herum“  macht. 


XXVII.  Kapitel. 

Das  Gesetz  der  Ideenverschiebung. 

Die  bisherige  Untersuchung  bietet  uns  nun  auch  Material 
genug  dar,  mn  noch  ein  weiteres,  auf  die  Fiktionen  bezüg- 
liches Gesetz  zu  formulieren  und  psychologisch  zu  be- 
gründen : ich  nenne  das  betreffende  Gesetz  das  Gesetz  der 
Ideenverschiebung.  Dasselbe  läßt  sich  allgemein  dahin 
formulieren,  daß  eine  Anzahl  von  Ideen  verschiedene 
Stadien  der  Entwicklung  durchlaufen,  und  zwar 
das  der  Fiktion,  der  Hypothese,  des  Dogmas;  und 
umgekehrt  das  des  Dogmas,  der  Hypothese,  der 
Fiktion.  Dies  in  dieser  allgemeinen  Formel  aus- 
gesprochene Gesetz  folgt  als  unmittelbares  Korollar  aus 


Das  Gesetz  der  Ideenverschiebung. 


135 


der  psychologischen  Natur  der  betreffenden  Stadien  selbst, 
wie  das  Gesetz  der  Lautverschiebung  aus  der  Natur 
und  den  Gesetzen  der  physiologischen  Beschaffenheit  der 
Laute  selbst  folgt.  Wir  müssen  zu  diesem  Zweck  noch 
einmal  kurz  die  psychologische  Beschaffenheit  der  be- 
treffenden Formen  wiederholen  und  den  Stand  der 
Psyche  zeichnen,  wenn  sie  eine  dieser  Formen  hegt. 

Die  psychischen  Elemente,  sahen  wir,  sind  einzuteilen 
in  feste,  alteingesessene  Vorstellungen  und  Vorstellungs- 
sippen einerseits  und  in  solche  Vorstellungen,  deren  Auf- 
nahme in  jene  erst  noch  eine  Frage,  ein  Problem  ist. 

Auf  der  einen  Seite  stehen  Vorstellungsgruppen,  welche 
als  Ausdruck  der  Wirklichkeit  (ohne  Zweifel  daran) 
gelten,  auf  der  anderen  Seite  stehen  solche  Vorstel- 
lungen, bei  denen  ein  Zweifel  über  ihre  objek- 
tive Gültigkeit  herrscht.  Jene  sind  Dogmen,  diese 
sind  Hypothesen. 

Vergleichen  wir  nun  zuerst  einmal  das  Dogma  und 
die  Hypothese,  so  bemerken  wir,  daß  die  letztere 
einen  Spannungszustand  darstellt,  welcher  der  Seele 
äußerst  unangenehm  sein  muß.  Die  Seele  hat  die  Ten- 
denz, alle  Vorstellungsinhalte  ins  Gleichgewicht  zu 
bringen  und  eine  ununterbrochene  Verbindung  zwischen 
denselben  herzustellen:  dieser  Tendenz  a.ber  steht  die 
Hypothese  insofern  feindlich  gegenüber,  als  ihr  die 
Vorstellung  beigemischt  ist,  daß  sie  noch  nicht  durch- 
aus mit  den  übrigen  objektiven  Vorstellungen  in  eine 
Reihe  zu  setzen  sei : sie  ist  nur  probeweise  in  die  Seele 
auf  genommen  und  hindert  also  jene  Tendenz  allseitiger 
Ausgleichung.  Die  einmal  als  objektiv  angenommene  Vor- 
stellung hat  ein  stabiles,  die  Hypothese  nur  ein  labiles 
Gleichgewicht;  die  Psyche  tendiert  aber  dahin,  jeden  psy- 
chischen Inhalt  immer  stabiler  zu  machen,  seine  Sta- 
bilität zu  vergrößern.  Der  Zustand  des  labilen 
Gleichgewichts,  wie  er  physisch  unangenehm  ist,  ist  auch 
psychisch  unangenehm. 

Aus  diesem  Spannungszustand,  der  also  ein  unan- 
genehmes Gefühl  mit  sich  bringt,  erklärt  sich  nun  ganz 
naturgemäß  die  Tendenz  der  Seele,  jede  Hypothese 
in  ein  Dogma  zu  verwandeln.  Der  einzige  Weg,  um 
ein  labiles  Gleichgewicht  in  ein  stabiles  zu  verwandeln, 


136  Erster  Teil;  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


ist  die  Ünterstützuiig  des  betreffenden  Körpers : in  der 
Psyche  entspräche  dieser  Notwendigkeit,  die  Hypothese 
durch  immer  neue  Bestätigung  immer  stabiler  zu 
machen.  Diesen  einzigen  erlaubten  Weg  indessen,  der 
bei  manchen  Vorstellungen  nicht  bloß  Jahrhunderte  in 
Anspruch  nehmen  kann,  sondern  bei  manchen  sogar  ganz 
unmöglich  ist,  umgeht  die  Psyche  einfach  dadurch,  daß  sie 
die  Hypothese  auf  unerlaubte  Weise  in  ein  Dogma 
verwandelt.  Der  Übergang  einer  Hypothese  in  ein  Dogma 
ist  ein  so  alltäglicher  psychischer  xVorgang,  daß  wir  uns 
hierbei  nicht  weiter  aufzuhalten  brauchen.  Nicht  nur  im 
Individuum  selbst  findet  dieser  Übergang  alltäglich  statt, 
sondern  auch  hei  der  Mitteilung  an  andere:  was  der  eine 
als  Hypothese  mitteilt,  das  nimmt  der  andere  als 
Dogma  an:  davon  gibt  es  Beispiele  in  allen  mensch- 
lichen Gebieten,  nicht  nur  in  der  Wissenschaft;  natürlich 
meinen  wir  damit  also  nicht  die  allmähliche  Veri- 
fikation der  Hypothese,  sondern  die  unerlaubte  Ver- 
wandlung einer  Hypothese  in  ein  Dogma.  Die 
Vorstellung  wird  in  letzterem  Fall  allmählich  oder  plötzlich 
in  ihrem  Wert  um  eine  Stelle  verschoben;  darum  kann 
man  dies  das  Gesetz  der  Ideenverschiebung  nennen. 

Eine  Verschiebung,  die  der  Hypothese  in  ein 
Dogma,  wäre  somit  erwiesen:  behandeln  wir  nun  die 
Verschiebung  der  Fiktion  in  eine  Hypothese.  Diese 
erklärt  sich  einfach  aus  der  äußerlichen  Ähnlichkeit  beider 
Gebilde,  wie  wir  sie  oben  geschildert  haben : nichts  natür- 
licher, als  daß  zwei  so  ähnliche  Gebilde  verwechselt 
werden.  Hierbei  ist  indessen  zweierlei  zu  bedenken,  ein- 
mal, daß  die  Verwandlung  der  Fiktion  in  eine  Hypothese 
(nicht  der  umgekehrte  Prozeß)  der  natürliche  ist,  und 
sodann,  daß  die  Fiktion  sich  auch  leicht  ohne  das  Mittel- 
glied der  Hypothese  in  ein  Dogma  verschiebt.  Beides 
ist  leicht  zu  erklären.  Wenn  man  Fiktion  und  Hypothese 
vergleicht,  so  ist  der  Spannungszustand,  der  durch 
die  erstere  in  der  Seele  entsteht,  ein  viel  bedeutenderer, 
als  derjenige,  der  durch  die  zweite  entsteht.  Man  denke 
daran,  welch  kompliziertes  Gebilde  eine  echte,  wissen- 
schaftliche Fiktion  ist.  Man  soll  etwas  aimehmen,  von  dem 
man  doch  überzeugt  ist,  da.ß  es  gar  nicht  so  sei;  man 
soll  etwas  betrachten^  als  ob  es  so  oder  so  wäre;  damit 


Das  Gesetz  der  Ideenverschiebung. 


137 


ist  also  eine  Vorstellungsform  ganz  in  die  Reihe  der 
übrigen  aufgenommen,  denn  sie  dient  ja  zur  Bereclinmig 
der  Wirklichkeit;  und  doch  soll  die  Seele  bei  ihrer  An- 
wendung zugleich  die  Vorstellung  gleichsam 
nachschleppen,  daß  diese  Vorstellungsform  nur  sub- 
jektiv sei:  eine  solche  Vorstellungsform  ist  sogar  posi- 
tiv hemmend  und  verhindert  direkt  die  Tendenz  zur 
Ausgleichung  der  Vorsteilungsgebilde;  die  Hypothese 
hemmt  nur  negativ,  indirekt  diese  Ausgleichung,  die 
Fiktion  aber  direkt  und  positiv.  Der  einfachste  Weg,  um 
diesen  unangenehmen  Spannungszustand  auszuschließen, 
ist,  die  ganze  nachgeschleppte  Vorstellung  nur  subjektiver 
Geltung  — ganz  fallen  zu  lassen;  und  da  sich  die  Vor- 
stellungsform ohnedies  gleichberechtigt  unter  den  anderen 
bewegt,  sie  als  Dogma  anzuerkennen.  So  wird  die 
Fiktion  einfach  Dogma:  das  Als  ob  wird  zum  Weil  imd 
Daß.  Der  andere  Weg,  der  ebensooft  betreten  wird,  geht 
durch  die  Hypothese  hindurch:  jene  Vorstellungsform 
erhält  den  niedrigeren  Spannungskoeffizienten  der  Hypo- 
these: das  Als  oh  wird  zum  Wenn. 

Nun  haben  wir  also  die  eine  Reihe  des  Verschie- 
bungsgesetzes aufgewiesen:  die  Fiktion  wird  zur 
Hypothese,  die  Hypothese  zum  Dogma;  zuweilen, 
in  nachher  noch  zu  bemerkenden  Fällen,  wird  die  Fiktion 
sofort  Dogma.  Das  treibende  Motiv  bei  dieser  Umwand- 
lung und  Verschiebung  ist  die  Au  sgleichungstendenz 
der  Seele,  welche  in  voreiliger  Ungeduld  jener  unangeneh- 
men Spannungszustände  sich  entledigen  will.  Zu  be- 
merken ist,  daß  diese  Tendenz  zur  Stabilisierung 
der  Vorstellungen  der  natürliche  Gang  ist.  So  sehr 
nun  allerdings  auch  die  Wissenschaft  diese  Tendenz  hat 
und  haben  muß,  so  ist  doch  die  voreilige  Ausführung 
dieser  Umwandlung  die  Q uel le  vi el er  Irrtümer. 

Wir  schließen  hieran,  ehe  wir  Beispiele  geben,  sogleich 
die  Darstellung  und  Begründung  des  zweiten  Pro- 
zesses. Ist  jener  erste  Prozeß  in  seiner  Voreiligkeit  ein 
unwissenschaftlicher  Umbildungsprozeß,  soist 
dieser  zweite  der  wissenschaftliche  Rückbil- 
dungsprozeß. 

In  der  Psyche  der  IMenschen  ist,  wenn  die  Wissen- 
schaft ihre  Arbeit  beginnt,  eine  zahllose  Menge  von 


138  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  F4ktioneii. 


Dogmen,  nicht  allein  auf  religiösem  Gebiete,  vorhanden. 
Diese  stellen  eine  stabile  Lage  dar  und  kehren  nach 
kleinen  Erschütterungen  stets  wieder  in  ihre  Stabilitäts- 
lage zurück.  Anders,  wenn  Erfahrung  und  Nachdenken 
jene  Dogmen  allmählich  zweifelhaft  machen:  nach  dem 
Gesetz  der  Beharrung  sucht  die  Psyche  die  Vorstellungen 
indessen  noch  festzuhalten,  und  behält  sie  auch  bei,  und 
wenn  es  nicht  mehr  mit  stabilem  Gleichgewicht  geht, 
wenn  die  Position  schon  zu  sehr  erschüttert  ist,  so  be- 
gnügt sie  sich  mit  dem  labilen  Gleichgewicht  der  Hypo- 
these. Das  Dogma  wird  Hypothese.  Die  Vorstellung 
ist  in  ihrem  Werte  um  eine  Stelle  zurückgeschoben. 

Es  kommen  neue  Zweifel,  neue  Stöße ; auch  hier  stehen 
der  Seele  nur  zwei  Wege  zu  Gebote:  entweder  die  Vor- 
stellung wird  einfach  eliminiert,  sie  fällt;  die  Wissen- 
schaft hat  ihre  zerstörende  Arbeit  beendigt,  das  falsche 
Vorstellungsgebilde  wird  einfach  hinausgeworfen.  Aber  es 
kann  die  Seele  noch  einen  anderen  Weg  nehmen:  jene 
Vorstellung  kann  für  sie  einen  solchen  theoretischen 
oder  praktischen  Wert  haben,  daß  sie  dieselbe  nicht 
gerne  verwirft  und  sogai’  für  immer  oder  auch  auf  un- 
bestimmte Zeit  hinaus  nicht  entbehren  kann;  dann  wird 
das  Vorstellungsgebilde  aus  einer  Hypothese  in  eine 
Fiktion  verwandelt,  entweder  in  eine  bleibende,  per- 
manente oder  in  eine  provisorische,  so  daß  sie  also 
schließlich  dann  doch  abstirbt,  wenn  sie  eben  nicht  per- 
manent notwendig  ist.  Nach  dem  Gesetz  der  Beharrung 
der  Vorstellungen  wird  die  Seele  letzteren  Weg,  wenn  er 
überhaupt  möglich  ist,  dem  ersteren  vorziehen:  einmal 
festgewurzelte  Vorstellungsgebilde  werden  lieber  noch  als 
Fiktionen  festgehalten,  als  daß  man  sie  ganz  weg  wirft. 

Dies  ist  nun  unser  Gesetz  der  Ideenverschie- 
bung, das  aus  der  Kulturgeschichte  und  allgemeinen 
Wissenschaftsgeschichte  die  besten  Bestätigungen 
erhält,  wie  es  zugleich  eine  Reihe  von  Erscheinun- 
gen erklärt  und  zusammenfaßt.  Schließlich  ist  zu  be- 
merken, daß  eine  Idee  beide  Prozesse  durchlaufen  kami, 
d.  h.  zuerst  den  Umbildungs-,  dann  den  Rückbildungs- 
prozeß i). 

1)  Einen  solchen  Kreislauf  der  Vor  stellungs  wei  se  kann 
man  bei  vielen  Ideen  beobachten.  Das  beste  Beispiel  ist  die  Got- 
tesidee. 


Das  Gesetz  der  Ideenverschiebung. 


139 


Das  Gesetz  des  „Ideenwandels“,  wie  man  diese 
Erscheinung  auch  heißen  kann,  konstatiert  ^so  drei 
Epochen,  drei  Stadien  der  Lebensgeschichte  einer 
Vorstellung  (natürlich  nicht  aller  Vorstellmigen,  sondern 
nur  eben  einer  Anzahl):  diese  drei  Stadien  sind  die  fik- 
tive, die  hypothetische  und  die  dogmatische 
Periode  einer  Idee. 

Wie  beim  Gesetz  des  Lautwandels  aus  speziellen  Grün- 
den bei  vielen  Wörtern  nur  die  eine  oder  die  andere 
dieser  Umwandlungen  und  Rückwandlungen  sich  geltend 
macht,  so  ist  dies  auch  der  Fall  bei  den  Vorstellungen. 

Der  erste  Prozeß,  der  der  Umwandlung  von  Fiktion 
in  Hypothese,  von  Hypothese  in  Dogma,  findet  besonders 
häufig  in  der  Geschichte  statt:  so  ist  allen  Historikern 
eine  Menge  von  Beispielen  bekannt,  wo  anfängliche  be- 
wußte Mythen  (solche  Mythen  eben  sind  psycho- 
logisch genau  so  gebaut  wie  Fiktionen)  sich  in  histo- 
rische Hypothesen  verwandelten  und  dann  späterhin  zu 
historischen  Dogmen  wurden. 

Weitere  Beispiele  bieten  sodann  die  Mythologie  und 
mythische  Geschichte  jedes  Volkes:  diese  Mythen 
überspringen  dabei  häufig  das  Stadium  der  Hypothese  und 
werden  sofort  zu  Dogmen;  indessen  sind  uns  diese  Mittel- 
glieder häufig  aber  auch  verlorengegangen.  Alle  Mythen 
sind  fiktive  Schöpfungen,  Gleichnisse  usw., 
welche  von  den  Wissenden  nicht  selten  tatsächlich  ur- 
sprünglich mitvollem  Bewußtsein  auf  gestellt  werden 
und  aus  denen  dann  Hypothesen  oder  sogleich  Dogmen 
werden.  In  demselben  Gebiete  haben  wir  dann  auch  den 
Rückbildungsprozeß  sehr  deutlich:  solche  Dogmen 
werden  anfänglich  festgehalten,  bis  der  Zweifel  des  Kriti- 
kers sie  in  Hypothesen  verwandelt;  wird  der  Zweifel  so 
stark,  um  die  Vorstellung  in  ihrer  Objektivität  zu  stören, 
so  wird  die  Vorstellung  verworfen:  indessen,  wenn  solche 
Vorstellungen  gerade  als  Stammes  sagen,  wie  z.  B.  die 
Teilsage,  wertvoll  sind,  so  behält  man  sie  als  Fiktio- 
nen, als  Symbole  bei.  Diese  Beispiele  aus  dem  Gebiete 
der  Historik  sind  indessen  nicht  die  eigentlich  instruktiv- 
sten, weil  hier  die  betreffenden  Vorstellungen  doch  meistens 
sogleich  ursprünglich  als  unbewußt  entstandene  Mythen 
auftreten.  Sie  dienen  aber  als  Parallelen  illustrierend  zur 


140  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 

Veranschaulichung  des  Gesetzes.  Denn  faktisch  sind  bei 
dieser  Umwandlung  eben  auch  dieselben  psychischen 
Gesetze  wirksam. 

Bessere  Beispiele  bietet  die  Religio nsphilosophie: 
ursprüngliche  Mythen,  Gleichnisse,  ja  bewußte  Fiktio- 
nen von  Religionsstiftern  werden  bei  diesen  selbst  oder 
ihren  Anhängern,  bei  dem  Volke  sofort  zu  Dogmen,  und 
sie  machen  hier  selten  das  Stadium  der  Hypothese  durch. 
Dagegen  bei  der  Rückbildung  und  Zersetzung  der  Religion 
finden  sich  alle  drei  Stadien  sehr  schön  ausgeprägt.  An- 
fänglich ist  alle  Religion  allgemeines  Dogma  (nachdem 
dieses  Dogma  selbst  vielleicht  aus  einer  Plypothese  oder 
eventuell  sogar  auch  aus  einer  Fiktion  entstanden  ist) ; der 
Zweifel  regt  sich,  und  die  Vorstellung  wird  Hypothese: 
der  Zweifel  wird  stärker,  und  nun  wird  von  einzelnen  die 
Idee  ganz  weggeworfen:  andere  halten  die  Idee  noch  auf- 
recht als  eine  öffentliche  oder  private  Fiktion. 
Diesen  letzteren  Zustand  repräsentiert  jede  bis  jetzt  be- 
kannte Religion  in  einem  gewissen  Alter;  bei  der  grie- 
chischen Religion  läßt  sich  dies  sehr  gut  verfolgen: 
die  griechischen  Volksgötter  sind  zuerst  allgemeine  Dog- 
men: für  Aristoteles  und  viele  andere  Philosophen  nur 
Hypothesen.  Fiktionen  aber  werden  sie  später  für  die 
gebildete  Masse,  welche  am  Gottesdienst  oder  vielmehr 
Götterdienst  festhält  trotz  der  Überzeugung,  daß  den  Ideen 
nichts  Reales  entspricht,  und  wohl  auch  für  einige  Philo- 
sophen, deren  widersprechende  Äußerungen  über  die  Götter 
nur  so  erklärt  werden  können.  Genau  dasselbe  fand  beim 
Christentum  statt:  die  ursprünglichen  Dogmen  des 
Christentums  werden  bei  den  Philosophen  des  17.  imd 
18.  Jahrhunderts  Hypothesen.  Was  sind  sie  aber  bei 
Kant  und  Schleier  mach  er?  Nur  Fiktionen! 

iVber  auch  das  eigenste  Gebiet  der  Philosophie  und 
Wissenschaft  zeigt  diese  allmählichen  Übergänge  so- 
wohl bei  einzelnen  Individuen  als  in  ganzen  Zeiträumen. 
So  z.  B.  sind  die  Platonischen  Mythen  (von  der 
Seelenwanderung  usw.)  ursprünglich  Fiktionen,  die  aber 
schon  in  der  Seele  des  Urhebers  selbst  aus  dem  fxvd^og  ziun 
Xöyog,  d.  h.  zur  Hypothese  werden,  vermöge  der  Wir- 
kung der  Ausgleichung  psychischer  Spaimungen:  und  bei 
seinen  Anhängern  sind  sie  richtige  Dogmen,  z.  B. 


Das  Gesetz  der  Ideeiiverschiebiing. 


Ul 

bei  den  Neiiplatonikern.  Später  gelten  sie  wieder  als  Hy- 
pothesen, und  für  den  heutigen  Platokenner  sind  sie 
reine  Fiktionen,  mythische  Vorstellungsformen. 

Auch  die  Platonischen  Ideen  galten  für  Plato  selbst 
wohl  nur  zuerst  als  Fiktionen;  doch  macht  er  sie  seihst 
noch  zuHypothesen,  und  dann  waren  sie  Jahrhunderte 
lang  Dogmen:  später  wieder  Hypothesen;  mit  Recht 
macht  Dühring  darauf  aufmerksam,  daß  sie  ursprüng- 
lich wohl  nur  Fiktionen  gewesen  seien. 

Als  speziellen  Fall  fanden  wir  hei  den  heuristischen 
Fiktionen,  wie  frühere  Dogmen  zu  Hypothesen, 
frühere  Hypothesen  zu  Fiktionen  werden;  so  gings 
mit  der  Teleologie,  so  mit  dem  Ptolemäischen 
System.  Andererseits  ist  es  nicht  immer  historisch  zu  er- 
mitteln, oh  nicht  solche  Dogmen  ursprünglich  überhaupt 
nur  fiktiv  gemeint  waren. 

Linne  und  Smith  hatten,  jener  sein  holanisches 
System,  dieser  sein  soziologisches  System  nur  als  künst- 
liche Systeme  aufgebaut : ihre  Anhänger  machten  dar- 
aus Hypothesen  oder  faßten  jene  Systeme  als  Hypo- 
thesen auf  (weil  zur  Erfassung  einer  Idee  als  fiktiv 
schon  ein  hochgebildeter  Geist  gehört),  und  flugs  wurden 
diese  Hypothesen  selbst  zu  Dogmen;  später  betrachtete 
man  das  Smithsche  System  als  Hypothese,  und  jetzt  seit 
Buckles  überzeugendem  Nachweis  betrachtet  man  es 
fast  allgemein  als  ein  künstliches,  auf  eine  Fiktion 
auf  gebautes  System.  Aber  früher  galt  die  Idee  so  sehr  als 
Hypothese  resp.  als  Dogma,  daß  man  dann  nicht  bloß 
glaubte,  iimner  egoistisch  zu  handeln,  sondern  auch  fak- 
tisch so  handeln  zu  müssen. 

Natürlich  ist  dies  nun  noch  weit  mehr  der  Fall  I)ei 
jenen  Fiktionen,  welche  die  Psyche  u n b e w u ß t bildet, 
und  die  dann  als  fertige  Dogmen  vor  die  Seele  treten  und 
im  Bewußtsein  als  solche  gelten:  so  die  ganze  Kate- 
gorieneinteilung. Diese,  ursprünglich  Dogma,  wird 
dann  Hypothese,  und  seit  Hume  und  Kant  steht  ihre 
Fiktivität  fest,  wie  sie  denn  auch  ursprünglich  bloße 
Fiktionen  sind.  So  wird  eine  Reihe  ursprünglich  rein 
fiktiver  Gebilde  im  Laufe  der  Zeit  hypothetisch,  spe- 
ziell jene  Ideale  und  jene  fiktiven  Urformen:  so 


142  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


fingiert  man  z.  B.  einen  ursprünglichen  Idealstaat  — 
flugs  wird  daraus  ein  historischer. 

Am  deutlichsten  ist  dies  bei  den  tropischen  und  ana- 
logischen Fiktionen:  die  fiktive  Analogie  des  Staats 
mit  einem  Vertrag  wird  zur  Annahme  eines  histori- 
schen Staalsvertrages,  historischer  Urrechte : kurz,  aus  den 
theoretischen  Begründungen  wird  sofoii  die  Annahme 
historischer  Vorfälle;  später  macht  man  aus  diesen 
Hypothesen  dann  immer  wieder  Fiktionen. 

So  werden  aus  den  Dif f erenti alen  und  Fluxi onen 
noch  bei  Newton  und  Leibniz  selbst  hypothetische 
Wesen,  später  Dogmen;  dann  findet  wieder  eine  Rück- 
bildung statt. 

So  wird  aus  Kants  fiktiver  Annahme  der  intelligib- 
len  Freiheit  noch  in  der  Kritik  selbst  eine  Hypo- 
these, und  für  Schopenhauer  ist  die  Hypothese  schon 
ein  Dogma. 

So  oder  ähnlich  steht  es  mit  dem  Atom,  dem  Unend- 
lich k 1 e i n e n und  Unendlichgroßen  (einer  unberech- 
tigten Verallgemeinerung)  und  schließlich  auch  mit  dem 
Ab  s oluten. 

Allmählich  aber  werden  die  Fiktionen,  welche  Dogmen 
geworden  waren,  als  Fiktionen  wiedererkannt,  und  der 
Prozeß  der  Ideenverschiebung  hat  sein  Ende  gefunden. 

Mehrere  dieser  Fiktionen  bleiben  aber  doch  unsterblich; 
diejenigen,  welche  das  diskursive  Denken  selbst 
ermöglichen,  die  Kategorien  und  xlllgemein- 
begriffe:  aber  sie  bleiben  es  nur  als  Fiktionen,  mit 
dem  Bewußtsein,  daß  es  Fiktionen  sind. 

Insofern  ist  ein  Fortschritt  nicht  nur  des  logischen 
Gewissens  in  der  Menschheit  zu  beobachten,  als  die 
Widersprüche  in  den  Fiktionen  bemerkt  werden,  sondern 
auch  der  logischen  Fähigkeit:  denn  zur  Festhaltung 
einer  Fiktion  als  Fiktion  gehört  schon  ein  logisch  hoch- 
gebildeter Geist,  der  dem  Drange  nach  Ausgleichung  nicht 
voreilig  nachgibt,  die  Mittel  und  Zwecke  strenge  schei- 
det. Zur  Festhaltung  des  rein  kritischen  Standpunktes, 
wie  ihn  Hume  und  Kant  veidreten,  gehört  eine  große 
geistige  Energie.  Alle  nachherigen  Versuche  nach 


Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueren  Zeit. 


148 


Kant  sind  nichts  als  Versuche,  diesen  unangenehmen 
Spannungszustand,  der  aber  das  geistige  Einschlafen 
\rerhindert,  auszugleichen,  und  zwar  höchst  voreilige. 


Kapitel  XXXIIL 

Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueren  Zeit/) 

Wir  gehen  nunmehr  zur  Feststellung  des  Gebrauches 
der  wissenschaftlichen  Fiktion  in  der  neueren  Zeit  über. 

Bis  jetzt  fanden  wir  als  einzig  wirklich  wissenschaft- 
liche Fiktion  nur  die  juridische,  allein  hier  ist  doch  zu  be- 
merken, daß  die  Rechtswissenschaft  nicht  eine  eigentliche 
Wissenschaft  des  Seienden  ist,  sondern  eine  Wissen- 
schaft menschlicher,  wdllkürlicher  Einrichtungen;  auch 
wurde  die  Fiktion  mehr  in  der  Rechtspraxis  ange- 
wandt; dagegen  fand  sie  noch  nicht  jene  weite  Aus- 
dehnung wie  im  modernen  Rechte,  wo  sie  insbesondere 
zur  Begründung  des  Staatsrechtes  angewandt  wor- 
den ist,  und  wo  außerdem  noch  die  Fiktion  juridi- 
scherPersönlichkeiten  so  ungemein  ausgedehnt  wor- 
den ist,  sogar  bis  auf  den  Staat  selbst,  insofern  auch 
dieser  als  eine  juridische  Person  betrachtet  wird.  So- 
wohl in  der  engeren  Rechtspraxis  als  in  der  Rechts - 
theorie  ist  die  Fiktion  in  neuerer  Zeit  viel  reicher  ange- 
wandt “worden  als  im  Altertum.  Besonders  in  England 
hat  die  Fiktion  vielen  Gebrauch  und  Mißbrauch  ge- 
funden. Sie  dient  zur  Subsumtion  eines  Falles  unter  eine 
allgemeine  Regel,  wenn  dieser  einzelne  Fall  dadurch  eine 
juridische  Behandlung  erfahren  soll:  so  wird  z.  B.  fin- 
giert, daß  der  Ehemann  Vater  eines  Kindes  sei,  falls  er 
zur  Zeit  der  Konzeption  im  Lande  war,  d.  h.  da  nicht 
jeder  einzelne  Fall  untersucht  werden  kann,  so  wird  im 
allgemeinen  angenommen,  daß  jeder  Ehegatte  als  Vater 
des  Kindes  zu  betrachten  sei,  wenn  er  zur  Zeit  der  Kon- 
zeption im  Lande  war;  dieses  Beispiel  wird  von  Leibniz 
in  den  „Nouveaux  Essays“  angeführt;  indessen  ist 

h Kapitel  XXViU— XXXIII,  welche  die  Anwendung  der  Fiktion  und 
Theorie  im  Altertum  und  im  Mittelalter  behandeln,  sind  ausgefallen. 
(D.  Hrsg.) 


11‘4  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


dies  zimäclist  keine  eigentliche  Fiktion,  sondern  nur 
eine  präsumtio.  Es  ist  nur  dann  eine  Fiktion  iin  juri- 
stischen Sinn  vorhanden,  wenn  ein  Ehegatte,  dessen  Ehe- 
frau etwa  Ehebruch  begeht,  doch  als  Vater  des  dadurch 
erzeugten  Kindes  angesehen  wird,  wenn  er  zu  derselben 
Zeit  im  Lande  war:  da  wird  er  betrachtet,  als  ob  er  der 
Vater  Aväre,  obgleich  er  es  nicht  ist,  und  ob- 
gleich man  weiß,  daß  er  es  nicht  ist;  dieser 
letztere  Zusatz  imterscheidet  die  fictio  von  der  praesumtio ; 
denn  in  der  praesumtio  wird  eine  Voraussetzung  so  lange 
gemacht,  bis  das  Gegenteil  bewiesen  ist;  dagegen 
ist  die  fictio  die  Annahme  eines  Satzes  resp.  einer  Tat- 
sache, obwohl  das  Gegenteil  sicher  ist.  Ein  Bei- 
spiel einer  eigentlichen  Fiktion  ist  ferner  das,  daß  in 
England  (im  XVIIL  Jahrhundert)  jedes  Vergehen  betrach- 
tet werden  konnte,  als  ob  es  gegen  den  König  per- 
sönlichbegangenwordenwäre;  jedem  Kläger  stand 
das  Recht  offen,  seine  Klage  unter  dieser  Fiktion  anzu- 
streben: der  praktische  Wert  wai’,  daß  eine  Verhand- 
lung nach  dieser  Fiktionn  viel  strenger  war,  als  nach  dem 
gewöhnlichen  Rechte,  insofern  eine  solche  Klage  mit 
dieser  Fiktion  vor  einen  besonderen  Gerichtshof 
kam.  Hier  ist  das  „als  ob“  in  seiner  vollen  Wirksamkeit. 
Auch  im  Code  Napoleon  sind  eine  Reihe  legaler  Fik- 
tionen gestattet;  z.  B.  wird  das  Meublement  einer  Frau  als 
immobiles  Gut  fingiert;  es  gibt  fingiertes  Eigentum 
nsw.,  ebenso  kann  in  gewissen  Fällen  ein  „enfant  concu“ 
als  „ne“  fingiert  werden,  wenn  daran  juridisch  wich- 
tige Folgen  sich  knüpfen. 

Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  Rechtspraxis  kami 
sowohl  zum  Nutzen  und  Wohle,  als  auch  zur  här- 
testen Ungerechtigkeit  führen:  so  wurden  z.  B.  alle 
Frauen  so  behandelt,  als  ob  sie  unmündig  wären. 

ln  der  Rechtstheorie  fand  die  Fiktion  besonders  Ver- 
wertung bei  der  Theorie  des  Vertrags,  insofern  der 
Staat  als  ein  Vertragsprodukt  aufgefaßt  wird,  und  inso- 
fern er  als  eine  juridische  Person  betrachtet  wird. 

Diese  schon  im  Altertum  bekannte  Fiktion  fand  in  der 
Neuzeit  eine  reichere  Anwendung. 

Eine  beliebte  Fiktionsmethode  war  die  ideale  Fiktion 
oder  die  utopische;  noch  im  XIX.  Jalirhundert  haben 


Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueren  Zeit. 


145 


die  französischen  Sozialisten,  z.  B.  Fourier  sich 
dieser  fiktiven  Methode  bedient,  um  ihre  Ideen  zu  ver- 
breiten, indem  sie  Städte  oder  Staaten  schilderten,  als  oh 
in  diesen  die  von  ihnen  vertretenen  Ideen  realisiert  wären. 
Biese  Methode  artet  leicht  ins  Phantastische  aus  und 
bildet  den  Übergang  von  wissenschaftlicher  Behandlung  in 
reine  Poesie.  Indessen  darf  doch  diese  ganze  Gattung  der 
wissenschaftlichen  Produktion  in  imserer  Aufzählung  nicht 
vergessen  werden,  obgleich  sie  weder  sehr  wertvoll  ist,  noch 
auch  der  Theorie  irgendwie  Schwierigkeiten  darbietet. 

Mit  dem  Wachstum  der  Wissenschaft  findet  die  Fiktion 
allmählich  eine  viel  weitere  Ausdehnung. 

Das  erste  Hauptgebiet,  auf  welchem  die  Fiktion  wirk- 
lich Großes  leistet,  ist  die  Mathematik.  Die  moderne 
Al  a t h e m a t i k zeichnet  sich  gerade  durch  die  Freiheit 
aus,  mit  welcher  sie  solche  fiktiven  Vorstellungsbildungen 
formiert.  Ein  genaues  Verfolgen  der  Entwicklung  der  Alathe- 
matik  zeigt  eine  Alenge  solcher  Fiktionen.  Weniger  meinen 
wir  damit  also  solche  Substitutionen,  wie  die  Anwendung 
der  Buchstabenrechnung  statt  der  Ziffernrechnung, 
indessen  ist  schon  diese  einfache  Alethode  doch  auch 
strenggenommen  nur  eine  Fiktion;  durch  die  Fiktion, 
a,  b,  c,  X,  y seien  Zahlen,  indem  sie  behandelt  werden, 
als  ob  sie  Zahlen  wären,  wird  doch  ungeheuer  viel  er- 
reicht: eine  Verallgemeinerung  der  Resultate,  eine  Er- 
leichterung der  Rechnung.  Indessen  nennt  man  dies  meist 
eine  Anwendung  von  Symbolen:  nichlsdestoweniger  ist 
streng  logisch  genommen  hier  eine  substitutive  Fik- 
tion vorhanden.  Und  auch  das  Denken  selbst  im  allgemei- 
nen, wenn  es  mit  Wo  r t e n rechnet,  statt  mit  Anschau- 
ungen, bedient  sich  solcher  Symbole. 

Allein  auch  abgesehen  von  dieser  Amvendurig  wird  die 
Fiktion  in  der  neueren  Alathematik  immer  reicher  verwertet. 
Am  berühmtesten  und  fruchtbarsten  war  ihre  Anwendung 
durch  Cartesius,  Leibniz,  Newton  zur  Berech- 
nung der  Kurven.  Dies  möchten  wir  das  eigentlich 
klassische  Beispiel  nennen.  Durch  die  Fiktion  der  Ko- 
ordinaten, dieser  Hilfslinien  (alle  Hilfslinien  sind  solche 
fiktiven  Alethoden)  und  durch  die  Fiktion  der  Differentiale 
oder  FInxionen  wurde  eine  Berechnung  der  Kurven 
möglich. 

Vaihinger,  Philosophie. 


10 


1 i6  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B Theorie  der  Fiktionen. 


Fast  alle  von  uns  angeführten  mathematischen  Metho- 
den haben  erst  in  der  Neuzeit  ihre  Ausbildung  er- 
halten: es  sind  lauter  Hilfsmethoden,  welche  zur 
Verallgemeinerung  der  Resultate  und  zur  Lösung  schwie- 
riger Aufgaben  dienen.  Die  Methode  der  unberech- 
tigten Übertragung,  die  Methode  der  Nullfälle, 
der  abstrakten  Verallgemeinerung  usw.  sind  mo- 
derne mathematische  Kunstgriffe.  Unter  diesen  Namen 
waren  sie  allgemein  bekannt:  große  Mathematiker  zeich- 
nen sich  immer  durch  Erfindung  von  Kunstgriffen 
aus,  imd  diese  Kunstgriffe  beruhen  wesentlich  immer  auf 
Fiktionen.  Schon  die  Ziehung  der  Hilfslinien  ist  ein 
solcher  Kunstgriff.  Schopenhauer  hat  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  daß  durch  solche  Kunstgriffe  kein  eigent- 
liches Begreifen  erzeugt  werde:  die  Kunstgriffe  sollen 
dies  auch  gar  nicht  leisten,  sie  dienen  nur  zu  prak- 
tischen Zwecken. 

Auf  solchen  Kunstgriffen  und  Fiktionen  beruhen  nun  die 
Begriffe  des  Unendlich-Großen,  die  negativen, 
gebrochenen,  imaginären  und  irrationalen  Zah- 
len; welche  alle  zur  Erleichterung  der  Rechnung  diene^i, 
aber  streng  genommen  logisch  widerspruchsvoll 
sind. 

Die  Anwendung  von  Kunstgriffen,  denen  die  mo- 
derne JMathematik  ihre  Ausbildung  verdankt,  hat  sich 
bis  in  die  neueste  Zeit  fortgesetzt,  und  jede  eigentlich  neue 
Entdeckung  der  Mathematik  beruht  auf  einem  solchen 
Kunstgriff.  Den  Kunstgriff  der  abstrakten  Verall- 
gemeinerung hat  man  auf  den  Raum  jetzt  angewandt 
und  Räume. von  mehr  als  drei  Dimensionen  fingiert. 

Die  Methode  der  Determinanten  beruht  auf  einem 
solchen  Kunstgriff. 

Besonders  interessant  sind  die  Fiktionen  der  Linien-, 
Flächen-  und  Körpereleinente,  um  den  Gebrauch  der 
Maßzahlen  zu  begründen.  Besonders  Mertschinsky 
hat  die  Fiktion  der  Minima  von  konstanter  Größe 
angewandt  zu  dem  genannten  Zwecke.  Diese  Fiktion 
wurde  schon  von  Giordano  Bruno  in  seinen  Schriften : 
de  triplici  minimo  et  mensura ; de  monade,  numero  et  figura 
angewandt;  indessen  schwankt  Bruno  noch,  ob  er  die 
Minima  als  Fiktionen  oder  als  H y p o t h e s e n behandeln 


Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueien  Zeit. 


147 


Sülle.  Dasselbe  Schwanken  setzt  sich  bei  Leibniz  fort, 
der  zwar  einerseits  erklärt,  die  Minima  infinite  parva  seien 
nur  ein  niodas  dicendi,  dann  aber  doch  der  Monadologie 
zu  liehe  wieder  zur  Annahme  der  Hypothese  hinneigt. 
Oh  Leibniz  durch  Bruno  auf  seine  Idee  gekommen  sei, 
diese  Frage  ist  noch  nicht  gelöst.  Unwahrscheinlich  ist 
es  nicht.  Indessen  ist  das  Prinzip  der  Anwendung  bei 
Bruno  ein  anderes,  als  bei  Leibniz:  jener  gebraucht 
die  Minima  zur  Begründung  des  Messens,  dieser 
zur  Berechnung  der  Kurven. 

Weitere  mathematische  Fiktionen  beziehen  sich  beson- 
ders auf  d,as  Unendliche : so  unendlich  ferne  Punkte, 
unendliche  Strecken,  Grenzen  unendlicher 
Flächen,  Zusammentreffen  in  unendlicher 
Ferne  usw. 

In  der  modernen  Mathematik  ist  die  Anwendung  solcher 
fiktiven  Begriffe  allgemein  gebräuchlich,  ohne  daß  Mathe- 
matiker oder  Philosophen  Ms  jetzt  eine  Methodologie 
solcher  Kunstgriffe  gegeben  hätten;  und  doch  müßte  eine 
Methodologie  solcher  Kunstgriffe  ein  ungemein  erhellendes 
Licht  auch  über  die  Anwendung  des  Unendlichen  und 
Absoluten  in  philosophischer  Hinsicht  werfen.  Diese 
Fiktionen  sind,  allgemein  gesprochen  — methodische 
Hilfsmittel  zur  Gewinnung  von  Resultaten;  die 
auf  andere  Weise  gar  nicht,  oder  nur  mit  großen 
Schwierigkeiten  zu  erlangen  wären. 

Eine  weitere  reiche  Anwendung  findet  die  Fiktion  in  der 
Mechanik  und  außerdem  in  der  theoretischen 
Physik  und  auch  sogar  in  der Chemi e,  Wissenschaften, 
welche  erst  in  der  modernen  Zeit  zur  Ausbildung  gekom- 
men sind. 

Weitere,  immer  mehr  sich  häufende  Anwendungen  der 
Fiktion  in  der  modernen  Zeit  sind  schon  in  der  Aufzählung 
der  Fiktionen  besprochen:  dort  ergab  sich,  daß  in  der  Neu- 
zeit eine  Reihe  von  Wissenschaften  die  wissenschaftliche 
Fiktion  mit  Erfolg  angewandt  haben  in  den  allerverschie- 
densten Formen.  Häufig  war  die  Einsicht  in  das  eigent- 
liche Wesen  dieser  Kunstgriffe  vorhanden;  nicht  selten 
wurden  sie  angewandt  rein  instinktiv,  ohne  irgend- 
eine methodologische  Besinnung.  Darum  entstand  auch 
eine  Reihe  berühmter  Kontroversen,  welche  sich 


148  Erster  Teil;  Prinzipielle  Griiii(llegmig.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


darauf  bezogen,  ob  gewisse  Begriffe  zulässig  seien  oder 
nicht.  Das  Nähere  hierüber  ist  ziirn  Teil  schon  früher 
bemerkt  worden. 

Die  Fiktion  kann  auch  in  der  Philosophie  zwar  wohl 
eine  Anwendung  finden,  allein  wenn  irgendwo,  so  ist  hier 
Vorsicht  geboten:  sie  kann  niemals  zur  Erklärung 
dienen,  nur  zur  Erleichterung  des  Denkens,  sowie  zu 
praktisch-ethischen  Zwecken. 

Maimon  hat  die  Ansicht  auf  gestellt,  Leibnizens 
Monadologie  und  prästabilierte  Harmonie  seien  nur  Fik- 
tionen gewesen;  dieser  Ansicht  vermögen  wir  nicht  bei- 
zutreten, da  Leibniz  selbst  seine  Lehren  anders  ver- 
standen haben  wollte;  sollten  sie  aber  Fiktionen  ge- 
wesen sein,  so  wären  sie  sehr  unbrauchbare  Ge- 
bilde gewesen.  Eine  andere  Frage  ist,  ob  Leibniz  sie 
selbst  so  verstanden  haben  wollte,  und  eine  andere,  wie 
wir  solche  Gebilde  verwerten  sollen.  Ohne  Zweifel  ver- 
stand Leibniz  seine  Lehren  als  Hypothesen,  nicht  als 
Fiktionen:  ob  sie  sich,  nachdem  sie  als  Hypothesen  ge- 
fallen sind,  noch  als  Fiktionen  verwerten  lassen  — wie 
Avir  das  in  anderen  Fällen  sahen  — , ist  zav eifelhaft.  Eher 
ist  dasselbe  der  Fall  bei  der  Parallelismustheori e 
Spinozas;  diese  ist  für  uns  nur  eine  Fiktion,  aber  eine 
Fiktion  von  ungeheurem,  Avissenschaftlichen,  heuristi- 
schem Werte.  Dagegen  metaphysisch  kann  das  Verhält- 
nis des  Physischen  und  Psychischen  wohl  kaum  ein 
solches  sein,  Avie  es  Spinoza  und  der  moderne  Spinozis- 
mus  annehmen. 

Es  müßte  Gegenstand  einer  besonderen  Untersuchung 
sein,  ob  Avirklich  Kants  Fiktion  eines  Dinges  an  sich 
für  uns  noch  Avertvoll  sei?  Aber  streng  muß  hierbei 
unterschieden  Averden  zwischen  der  Kantischen  Ein- 
sich.t^,  daß  das  Ding  an  sich  eine  Fiktion  sei,  und 
zAvischen  der  Anwendung  und  VerAvertung  eben 
derselben  Fiktion  durch  Kant  selbst.  Er  selbst  ge- 
braucht diese  Fiktion  zu  seinen  Avissenschaftlichen 
Zwecken,  und  unter  der  Hand  verwandelt  sie  sich  ihm  in 
eine  Hypothese. 

Es  ist  also  zu  unterscheiden,  daß  Kant  die  bisherige 
Anwendung  des  Dinges  an  sich,  Avie  sie  bis  auf 
ihn  stattfand,  als  auf  einer  Fiktion  beruhend  erkannte. 


Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueren  Zeit. 


149 


und  daß  er  selbst  eben  dieselbe  Fiktion  machte. 
Was  Kant  bei  anderen  einsah,  sah  er  bei  sich  selbst  nicht 
klar,  daß  auch  sein  Ding  an  sich  eine  Fiktion  sei. 

Durch  diesen  Irrtum  wurde  er  verhindert,  die  wirk- 
liche Empfindung  als  das  Einzig-Reale  zu  erkennen, 
und  zu  finden,  daß  alle  reale  Erkenntnis  nur  aus  Beob- 
achtung und  Empfindungssukzessionen  stammt. 

Kant  hat  die  vorläufig  und  stillschweigend  ge- 
machte Voraussetzung,  daß  es  Iche  und  Dinge  an  sich 
gebe,  als  Gerüste  stehen  lassen.  Hätte  er  das  Gerüste 
nachher  abgebrochen,  hätte  er,  wie  das  Ich,  so  auch  das 
Ding  an  sich  wieder  fallen  lassen,  so  wäre  ihm  die 
Empfindung  als  das  einzig  Reale  übrig  geblieben. 

Wenn  also  Jacob i sagt,  „daß  ohne  die  Voraussetzung 
von  Gegenständen  als  Dingen  an  sich  und  Vors tellungs ver- 
mögen, auf  welche  sie  wirken,  nicht  in  das  Kantische 
System  hineinzukommen  ist,  daß  aber  platterdings  darin 
nicht  m i t i h n e n z u bleiben  sei“  ~ daß  also  der  Anfang 
und  der  Fortgang  der  Kritik  einander  „vernichten“  — , so 
hatte  er  ganz  recht.  Kant  hätte  einfach,  nachdem  er  in 
der  Kritik  selbst  ausgesprochen  und  gefunden,  daß  Dinge 
an  sich  bloße  Fiktionen  seien,  offen  anerkennen 
sollen,  daß  seine  eigene  Voraussetzung  solcher  ein  bloßer 
vorläufiger  Rechnungsansatz  war,  um  sein  Re- 
sultat zu  erreichen:  nämlich,  daß  es  bloße  Erfah- 
rungserkenntnis gäbe;  dann  wären  die  Empfindmi- 
gen  als  einzig  Reales  stehen  geblieben,  wie  dies  bei 
Maimon  der  Fall  ist.  Kant  ließ  aber  seinen  Rech- 
nungsansatz stehen:  sobald  man  aber  Fiktionen  nicht 
aus  fallen  läßt,  führen  sie  auf  Widersprüche. 

Somit  hat  Kant  eine  wichtige  Doppelbedeutung  für  unser 
Thema : 

I.  Er  hat  entdeckt,  daß  die  Kategorien  Fiktionen 
seien:  dabei  ist  jedoch  zu  bemerken,  daß  er  diese  Ent- 
deckung insofern  verdunkelte,  als  er  den  Rechnurigsansatz 
des  Ich  stehen  ließ  und  sie  diesem  als  eingeborene 
Formen  zuschob,  statt  daß  er  das  Ich  wegnahm;  dieser 
Punkt  ist  ungemein  wichtig.  Mit  Hilfe  des  Rechnungs- 
ansatzes Ich  und  Ding  an  sich  entdeckt  Kant  die 
Tatsache,  daß  die  Kategorien  nur  subjektiv  seien;  aber 
weil  er  das  Ich  stehen  läßt,  werden  die  Kategorien  zu 


150  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grunrlleguiij'.  B.  Theorie  der  Fiktionen. 


angeborenen  Formen,  und  weil  er  das  Ding  an 
sich  stehen  läßt,  verkennt  er  die  Wirklichkeit  der 
Empfindungswelt. 

II.  Er  hat  die  Methode  der  Fiktionen  selbs  t an- 
gewendet; viele  seiner  Begriffe  sind  künstlich;  er  hat 
die  künstliche  Klassifikation  angewandt,  die  Methode  der 
abstrakten  Verallgemeinerung,  den  künstlichen  Rechnungs- 
ansatz (Einführung  fiktiver  Begriffe)  - - freilich  aber  war 
sich  Kant  seines  Tuns  selbst  nicht  durchaus  klar. 

Kant  hat  eine  Reihe  von  Kunstgriffen  gebraucht, 
welche  sich  ihm  und  vielen  seiner  Anhänger  in  Hypo- 
thesen verwandelten.  Dies  ist  ja  eine  in  der  Wissenschaft 
häufig  wiederkehrende  Erscheinung,  daß  ein  Denker  sich 
über  seine  Entdeckungen  und  Methoden  nicht  selbst  durch- 
aus klar  ist. 

Also  Kants  Methode  ist  eine  ungemein  scharfsinnige 
und  verhält  sich  zu  der  Methode  anderer,  welche  das- 
selbe Resultat  gefunden  haben,  eben  wie  das  Verfahren  ; 
eines  modernen  Mathematikers  zur  antiken  mathemati-  ; 
sehen  Methode,  z.  B.  bei  der  Berechnung  des  Kreis-  1 
Umfanges.  j 

Dieser  Tatbestand  wird  aber  verdunkelt  durch  Kants  ' 
reaktionäre  Tendenzen.  Dahin  gehören  die  Recht-  j 
fertigung  des  Rationalismus,  sowie  die  Rettung  j 
gewisser  Dogmen.  Aber  die  eigentlich  Wissenschaft-  j 
liehen  Zwecke  Kants  waren:  Begrenzung  des  Denkens  ] 
auf  Erfahrung,  Nachweis  der  Vorstellungs-  und  Begriffs-  j 
formen  als  bloß  subjektiver  Werte,  sowie  Nachweis,  daß 
nur  das  unmittelbare  Erfahrene  wirklich  sei. 

Die  Bekämpfer  Kants  haben  seine  schwachen  Punkte 
vielfach  richtig  erkannt:  er  ließ  den  Rechnungs- 
ansatz stehen;  dies  ist  ein  Flauptfehler,  der  auch  in 
der  Mathematik  zu  Widersprüchen  führt. 

Ein  Rechnungsansatz  des  Denkens,  der  nachherwieder 
aufgehoben  wird,  ist  dagegen  ein  ganz  erlaubter  Kunst- 
griff. Ohne  einen  solchen  künstlichen  Rechnungsansatz 
können  Avir  gar  keine  Philosophie  treiben : so  geht  man  in 
allem  Denken  notwendigerweise  aus  von  dem  Schein 
des  Gegensatzes  der  Dinge  und  des  Ich,  um  diesen 
Rechnungsansatz  dann  selbst  v/ieder  aufzuheben. 

Der  V ergleich  des  Denkens  mit  dem  Rechnen  ist  noch 


Die  Anwendung  der  Fiktion  in  der  neueren  Zeit. 


161 


vielmehr  berechtigt  und  richtig,  als  man  bisher  glaubte. 
Eine  genaue  Kenntnis  der  wunderbaren  Methoden  der  Ma- 
thematik läßt  erst  erkennen,  daß  das  Denken  dieselben 
Methoden  auch  sonst  anwendet. 

Dasselbe  ist  in  seiner  praktischen  Philosophie 
der  Fall.  Erstens  weist  er  nach,  daß  die  Ideen  der  prak- 
tischen Philosophie  nur  Fiktionen  seien;  er  ver- 
wendet sie  selbst  bewußt  in  diesem  Sinne,  bis  sie  sich 
ihm  doch  wieder  in  Hypothesen  verwandeln. 

Natürlich  kann  man  von  den  Anhängern  nicht  mehr 
verlangen,  als  vom  Meister.  Seine  Nachfolger  machen 
dieselben  Fehler,  nur  viel  gröber,  als  Kant  selbst,  sowohl 
in  der  theoretischen  Philosophie  als  in  der  prakti- 
schen. In  der  theoretischen  Philosophie  hat  nur 
Maimon,  in  der  praktischen  Philosophie  nur 
Schleier macher  das  Richtige  aimähernd  erkannt. 

An  dem  Schicksale  der  von  Kant  aufgestellten  Begriffe 
bei  seinen  Nachfolgern  kann  man  das  Gesetz  derldeen- 
verschiebung  sehr  klar  demonstrieren.  Der  fiktive 
Rechnungsansatz  wird  immer  mehr  zur  (falschen)  Hypo- 
these. Die  Festhaltung  des  reinen  Resultates  ist  eben 
sehr  schwierig : denn  der  Mensch  hat  einen  Hang  zum 
Dogmatismus.  Das  Studium  Humes  und  Comtes  hat 
die  Irrtümer  Kants  und  seiner  Epigonen  wieder  berichtigt. 

Die  Fiktion  wurde  erst  vom  XVH.  bis  zum  XIX.  Jahr- 
hundert in  allen  Wissenschaften  immer  mehr  angewandt, 
insbesondere  in  den  mathematischen,  physikali- 
schen, in  den  soziologischen  und  in  der  Philo- 
sophie. Es  entwickelten  sich  in  diesen  Gebieten  auch 
die  verschiedenen  Formen  und  Methoden  der  Fiktion  in 
großer  Mannigfaltigkeit.  Allmählich  treten  immer  mehr 
große  und  bedeutende  Fiktionen  auf,  freilich  auch  hin 
und  wieder  Mißanwendungen  der  ohnehin  schon  so  leicht 
mißverständlichen  Methoden. 

Wir  weisen  hierbei  besonders  hin  auf  die  allmäh- 
liche Entwicklung  der  Fiktion  und  auf  die  stetige 
Ausdehnung  sowohl  ihres  Anwendungsbezirkes  als 
ihrer  Mannigfaltigkeit.  Schon  mit  dem  XVI.  Jahrhundert 
beginnt  dieser  Prozeß,  der  im  XVH.  auf  seinen  Höhepunkt 
gestiegen  ist.  Im  XVHI.  Jahrhundert  beginnt  sich  schon 
die  logische  Theorie  zu  regen,  aber  sehr  schwach.  Im 


152  Erster  Teil:  Prinzipielle  (irundlegung.  B.  Theorie  der  Fiklionen. 


XIX.  Jahrhundert  steigert  sich  die  AMweiidung  besuii- 
ders  in  der  Mathematik  und  Physik  immer  mehr, 
ebenso  in  der  Nationalökonomie.  Hypothesen, 
welche  als  falsch  erkannt  worden  sind,  werden  noch!  in 
Menge  als  heuristische  Fiktionen  beibehalten.  Die 
heutigen  Lehrbücher  und  Abhandlungen  über  höhere 
Mathematik,  mathematische  Physik  und  über 
Soziologie  zeigen  viele  gute  Fiktionen. 


Die  Theorie  der  Fiktion  in  der  Neuzeit. 

Kapitel  XXXIV. 

Leibniz  versucht  in  den  Nouveaux  Essais  die  juri- 
stische Fiktion  methodologisch  zu  erklären.  Die  Logique 
von  Port  Royal  gibt  keine  Methodologie  oder  Theorieder 
Fiktion.  Dagegen  ist  die  Theorie  der  Abstraktion, 
welche  in  derselben  enthalten  ist,  von  Wert  für  einen  Teil 
der  Fiktionen.  Hobbes  hat  den  Vergleich  des  Denkens 
mit  dem  Rechnen  eingeführt.  Die  Fiktion  behandelt  er 
nicht. 

Condillacs  Logique  ist  insofern  sehr  wertvoll,  als  sie 
die  Methode  der  entgegengesetzten  Operatio- 
nen betont  (Analyse  und  Synthese). 

Wolff  ist  der  erste  Logiker,  welcher  die  Fiktion  be- 
handelte, und  zwar  recht  einsichtsvoll,  wie  überhaupt  Wolff 
unverdient  geringschätzig  behandelt  worden  ist.  Zeller 
hat  ihn  neuerdings  Avieder  zu  Ehren  gebracht.  Wolff  ist 
zu  einer  solchen  Methodologie  befähigt,  nicht  bloß  als 
Schüler  Leibnizens,  sondern  als  selbständiger  Mathe- 
matiker. 

Er  hat  sowohl  die  mathematischen  Fiktionen  gewürdigt 
und  in  einer,  freilich  für  die  Jetztzeit  ungenügenden  Weise 
behandelt,  als  auch  in  seiner  Metaphysik  geAvisse  fiktive 
Begriffe  und  Operationen  berücksichtigt : so  Ontologie, 

§ 404  über  die  Fiktion  sei  ein  Bruch,  § 77  über  die 

Fiktion  des  „Schlaraffenlandes“,  § 797  über  die  Fiktion 
der  Infinitesimale  (non  sunt  verae  quantitates,  sed  salteni 
imaginariae)^  ebenso  § 804. 


Die  Theorie  der  Fiktion  in  der  Neuzeit. 


153 


In  den  Elementa  Matheseos  universae  (Halae  1741)  be- 
spricht Wolff  mit  ungemeinem  Scharfblick  eine  Reihe 
mathematischer  Fiktionen.  Zugleich  stellt  er  diese  mit 
den  juristischen  in  Parallele.  Mit  Vorliebe  bespricht  er  die 
arteficia  analytica. 

Demnach  ist  Wolff  der  erste  Logiker,  welcher  diese 
Fiktionen  behandelt  hat. 

Am  meisten  Aufmerksamkeit  hat  Maimon  in  allen 
seinen  Schriften  der  Fiktion  geschenkt,  sowohl  in  rein 
methodologischem  Interesse  als  in  erkenntnistheoretischem. 

Beinahe  in  jeder  seiner  nunmehr  fast  gänzlich  ver- 
gessenen Schriften  hat  er  diesen  Punkt  betont;  und  selbst 
wo  seine  Schriften  gekannt  werden,  da  ist  gerade  dieser 
Punkt  ganz  übergangen.  Die  Darstellung  von  der  Lehre 
Maimons  durch  Erdmann  und  Fischer,  und  später  durch 
Witte  haben  diesen  Punkt  mit  Stillschweigen  übergangen^). 
Und  doch  ist  es  das  einzige,  was  Maimon  eigentlich  ge- 
leistet hat;  der  Punkt  hängt  zusammen  mit  seiner  Ansicht 
über  das  Ding  an  sich. 

Unter  den  späteren  Logikern  hat  diesen  Punkt  rein 
methodologisch  besonders  Herbart  ausgeführt  in  dem 
Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie  bes.  § 152,  wo 
die  zufälligen  Ansichten  sowie  die  Hilfsbegriffe 
des  Raumes,  sowie  verschiedener  mathematischer  Me- 
thoden aufgezählt  werden.  Auch  die  Theorie  der  Fik- 
tion ist  von  Herbart  an  der  genannten  Stelle  sehr  klar 
ausgesprochen,  und  er  bemerkt  sehr  richtig,  daß  das  Den- 
ken gewisse  Durchgangspunkte  haben  müsse,  „daß  es 
seinen  eigenen  Weg  verfolge,  um  in  den  erkennbaren 
Hauptpunkten  mit  der  Natur  der  Dinge  wieder  zusammen- 
zutreffen“. 

In  dem  naturphilosophischen  Teile  derselben  Schrift 
wird  die  mathematische  und  physikalische  Fiktion  noch 
mehrfach  besprochen,  so  bes.  § 160  die  Fiktion  der  Teil- 
barkeit des  mathematischen  Punktes,  sowie  die  Fiktion 
der  Betrachtung  desselben  als  einer  Größe;  ebenso  § 161. 

Aber  am  allerwichtigsten  ist  der  § 162  (Hartenstein  I, 
319),  wo  zum  erstenmal  in  der  Philosophie  deutlich,  klar 
und  rund  der  Unterschied  der  Fiktion  mid  der 

Dies  hat  jetzt  (1912)  F.  Knntze  in  seinem  großen  Maimomcerh 
nach  geholt. 


I5i'  Erster  Teil:  Prinzipielle  Grundlegung.  B,  Theurie  der  Fiktionen. 

Hypothese  entwickelt  wird.  „Fiktionen,  wie  die  des 
Schwerpunktes  sind  höchst  nützlich  und  täuschen  nie- 
manden.“ 

L otze,  der  sich  vielfach  an  Herbart  anschließt,  ist  der 
einzige  der  neueren  Logiker,  der  die  Fiktion  in  den  Kreis 
der  logischen  Diskussion  hereingezogen  hat. 

Unter  den  neueren  Logikern  hat  noch  Bain  in  seiner 
zweibändigen  Logik  die  Fiktion  zum  Gegenstand  der 
Untersuchung  gemacht,  aber  in  dürftiger  und  unvollkom- 
mener Weise.  Und  doch  hätte  Bain,  der  die  Idee  einer 
Methodologie  aller  Wissenschaften  mit  seltener  Klarheit 
erfaßt  hat,  die  Notwendigkeit  fühlen  sollen,  aus  allen 
Wissenschaften  hierfür  Material  zu  sammeln. 

Endlich  haben  wir  mit  wenigen  Worten  noch  die  all- 
mähliche Anwendung  des  Begriffes  der  Fiktion  auf  die 
Erkenntnistheorie  zu  erwähnen. 

Locke  steht  hier  voran,  der  eine  Reihe  von  Vorstellun- 
gen für  subjektiv  erklärte;  dagegen  zu  der  positiven 
Ansicht  derselben  als  nützlicher  Fiktionen  ist  er 
so  wenig  durchdrungen  als  Hume,  bei  dem  der  Ausdruck 
„fiction  of  thought"  sehr  oft  wiederkehrt.  Auch  Hume 
weiß  nur  negativ  nachzuweisen,  daß  die  Kategorien  sub- 
jektive Einbildungen  seien. 

Kant  machte  den  Anlauf,  den  Nutzen  dieser  sub- 
jektiven Vorstellungen  nachzuweisen  und  dieselben  da- 
durch zu  wirklich  logischen  Fiktionen  in  unserem  Sinne  zu 
erheben;  allein  sein  System  mißlang,  weil  falsche  Ten- 
denzen und  Vorurteile  ihn  hemmten.  Nichtsdestoweniger 
ist  dies  der  eigentliche  und  wahre  Schritt  Kants  über 
Hume  hinaus,  daß  er  nicht  nur  nachwies,  dah  die  Kate- 
gorien nicht  bloß  durch  Gewohnheit  entstehen,  sondern 
aus  der  Seele  selbst  hinzugebracht  werden  — wobei  er 
freilich  einem  falschen  Apriorismus  huldigt  — , son- 
dern daß  er  auch  versuchte,  den  wirklichen  Nutzen 
dieser  subjektiven  Vorstellungen  nachzuweisen. 

Kant  wollte  den  subjektiven  Vorstellungen  einen  Er- 
kenntniswert, einen  Dienst  zuschreiben,  im  Gegensatz  zu 
Hume,  der  sie  einseitig  negativ  als  Erdichtungen  be- 
trachtet hatte,  dadurch,  daß  er  zeigte,  wie  durch  diese 
subjektiven  Vorstellungen  erst  die  objektive  Welt  für 
uns  entstehe. 


Das  erkenntnistheoretische  Griindprobleni. 


155 


Aber  Kant  geriet  in  eine  ganz  falsche  Position  hinein, 
weil  er  die  subjektiven  Vorstellungsformen  bald  für  Fik- 
tionen ansah,  bald  für  Hypothesen,  bald  für  ein  unglück- 
liches Zwitterding  beider. 

Der  Positivismus  der  Neuzeit  ist  auf  dem  Wege  und 
hat  es  schon  teilweise  ausgesprochen,  daß  für  ihn  alle 
Kategorien  nur  Symbole  und  Fiktionen  seien,  daß  „das 
diskursive  Denken“,  wie  Maimon  sagt,  „eine  Fiktion 
sei“. 

Um  aber  zu  wissen,  was  man  damit  sagt : es  ist  etwas 
eine  Fiktion,  dazu  muß  erst  ausführlich  die  Logik  in  der 
Methodologie  nachweisen,  welche  Merkmale  eine  Fiktion 
habe,  welchen  Dienst  sie  leiste  und  wo  sie  anwendbar 
sei : dann  wird  die  Anwendung  der  logischen  Unterschei- 
dung von  Fiktion  und  Hypothese  auf  die  Erkenntnis- 
theorie fruchtbar  sein. 


G.  Erkenntnistheoretische  Konsequenzen. 

Kapitel  XXXV. 

Das  erkenntnistheoretische  Grundproblem. 

Aus  dem  Chaos  der  Empfindungen  tritt  die  geschiedene 
Anschauung  hervor;  in  jenem  Chaos  ist  noch  keine 
Vorstellung  von  einem  besonderen  Dinge,  denn  die 
große,  unklare  Nebelmasse  der  Empfindungen  kommt  erst 
allmählich  in  eine  rotierende  Bewegung,  und  es  ballen 
sich  die  einzelnen  zusammengehörigen  Stücke  erst  all- 
mählich zu  Wahrnehmungsdingen,  zu  Anschauungen  des 
Einzelnen  zusammen.  Die  Anschauung  ist  schon  ein 
durch  die  psychische  Attraktion  der  Elemente  zustande 
gekommener  Verband  von  Empfindungserkenntnissen.  Die 
Formen,  in  denen  dieser  Verband  sich  vollzieht,  sind 
schon  die  Verhältnisse  des  Ganzen  und  seiner  Teile, 
des  Dinges  und  seiner  Eigenschaften.  Hier  setzt 
also  schon  die  logische  Funktion  ein. 

Ehe  wir  nun  weitergehen,  haben  wir  hier  eine  Be- 
merkung zu  machen,  welche  für  unsere  weitere  Unter- 
suchung entscheidend  ist.  Wenn  die  Psyche  das  ihr  dar- 
gebotene Material  der  Empfindungen,  also  die  ihr  einzig 


156  Erster  Teil:  Prinzip.  Gruiidleg.  C.  Erkenntnistheoret.  Konsequenzen, 

und  allein  gegebene  Grundlage  mit  Hilfe  der  logischen 
Formen  verarbeitet,  wenn  sie  das  Empfundene  sichtet 
und  von  dem  gegebenen  Empfindungsmaterial  gemäß 
jenen  logischen  Funktionen  geradezu  Teile  wegschneidet  1 

und  andererseits  zu  dem  unmittelbar  Gegebenen  sub-  j 

jektive  Zusätze  beimischt  --  und  eben  in  diesen  Opera-  j 

tionen  besteht  der  Erkennbiisprozeß  — , so  entfernt  sie  j 

sich  von  der  ihr  gegebenen  Wirklichkeit.  Es  lie^t  ja  auch  \ 

schon  in  dem  Begriff  der  Bearbeitung,  der  Weiterbildung  ^ 

des  Gegebenen,  daß  hier  das  Gegebene  verändert,  daß  | 

die  unmittelbare  Wirklichkeit  alteriert  wird.  i 

Die  Empfindungen  gehen  innerhalb  der  Psyche  rein  sub-  ^ 

jektive  Prozesse  ein,  denen  in  der  Wirklichkeit  — sie  mag  ; 

nun  gedacht  werden  wie  sie  will  — nach  unserer  moder- 
nen Anschauung  nichts  entsprechen  kann. 

Es  macht  sich  also  eine  die  Wirklichkeit  verändernde,  j 

von  ihr  abweichende  Tendenz  und  Richtung  der  logi-  1 

sehen  Funktion  geltend.  Die  Bemerkung,  die  wir  also  zu  ] 

machen  haben,  ist  die,  daß  schon  in  den  elementaren  Pro-  ' 

zessen  des  logischen  Geschehens  eine  Abweichung  \ 

von  der  Wirklichkeit  stattfindet.  Gerade  der  Um-  { 

stand,  daß  das  Denken  das  Sein  darstellen  will,  daß  es  I 

ferner  dazu  dient,  die  Verbindung  zwischen  seienden  j 

Wesen  zu  unterhalten  und  zu  erleichtern,  spricht  dafür,  j 

daß  Denken  und  Sein  nicht  Eins  sein  können,  daß  die  j 

W'ege  des  Denkens  nicht  die  des  Seins  sein  \ 

können.  Es  ist  unwahrscheinlich,  und  es  widerspräche  | 

den  Usancen  der  Natur,  daß  zwei  auf  so  heterogenem  i 

Boden  vorgehende  Prozesse  Avie  der  des  subjektiven  : 

Vorstellens  und  der  des  objektWen  Geschehens  in  den-  • 

selben  Formen  verliefen.  Es  ist  aber  auch  gar  nicht  ab-  * 

Zusehen,  was  denn  streng  genommen  jenen  subjektiven  ^ 

Formen  im  Sein  entsprechen  sollte,  nachdem  Avir  dieses  2 

wesentlich  als  ein  geordnetes  System  von  BeAvegungen  ^ 

erkannt  haben.  Seitdem  uns  die  Natur  diese  Seite  zuge-  j 

kehrt  hat,  sind  mehr  und  mehr  alle  jene  subjektiven  Zutaten,  i 

welche ‘wir  ihr  als  logischen  Zierat  anhängten,  d.  h.  die  i 

Kategorien  im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  als  solche  } 

erkannt  Avorden,  und  erst  nachdem  die  Natur  diesen  i 

Schmuck  abgelegt  hat  und  uns  in  ihrer  nackten  Unver-  •; 

fälschtheit  entgegengetreten  ist,  sind  jene  Zutaten  der  I 


Das  erkennlnistlieorelisclie  Grundpi’ol)lem. 


157 


Psyche  selbst  als  Eigentum  zugesprochen  worden^  welche 
sie  — sollen  wir  sagen,  in  neidloser  Freigebigkeit  oder  in 
kindlicher  Selbsttäuschung?  — dem  Objekt  der  Welt  an- 
gehängt hatte.  Diese  Abweichung  von  der  Wirk- 
lichkeit steigt  in  den  höheren  Entwicklungsstufen  der 
Psyche  und  erreicht  schließlich  einen  solchen  Ivlaxinial- 
grad,  daß  sie  als  solche  erkannt  wird.  Aber  damit 
fällt  sie  nicht  als  wertlos  weg.  Tatsache  ist 
demnach,  daß  die  Psyche  in  der  Verarbeitung  des  ge- 
gebenen Materials  immer  mehr  von  der  Wirklich- 
keit ah Av eicht,  Aber  auch  abgesehen  davon^  daß  auf 
einer  gewissen  Stufe  der  geistigen  Entwicklung  diese  Ab- 
Aveichungen  (Avelche  zuerst  der  objektiven  Welt  als 
Eigentum  untergeschoben  Averden)  als  solche  durch- 
schaut werden,  so  macht  doch  diese  Veränderung 
und  Abweichung  sich  im  praktischen  Handeln  und 
im  Resultat  der  Denkrechnung  in  der  Regel  nicht 
geltend;  obAvohl  die  Wege  des  Seins  und  die  Wege  des 
Denkens  A^erschieden  sind,  so  trifft  das  Denken  doch 
immer  wieder  mit  dem  Sein  zusammen.  Wir  haben  schon 
mehrfach  davon  gesprochen  und  auch  das  daraus  ent- 
stehende Problem  entAvickelt.  Dieses  heißt  für  uns  aber 
nicht  bloß:  Wie  ist  die  Natur  des  Objektiven  be- 
schaffen, daß  das  Denken,  Avenn  es  sich  den  logischen 
Gesetzen  ülierläßt,  am  Ende  seines  richtig  durchlaufenen 
Weges  AAÜeder  mit  dem  Verhalten  der  Sachen  zusammen- 
trifft? Eine  solche  Formulierung  scheint  uns  ungenügend 
zu  sein.  Ein  richtig  formuliertes  Problem  ist  bekanntlich 
schon  eine  halbe  Lösung;  dann  ist  aber  mit  einer  falsch 
gestellten  Frage  auch  schon  die  Hälfte  des  Weges  zum 
Irrtum  zurückgelegt.  Und  das  scheint  uns  auch  in  der 
oben  mitgeteilten  Problemstellung  zu  liegen;  denn  sie  setzt 
voraus,  daß  das  Gebiet  der  Untersuchung,  auf  dem  die 
Lösung  zu  suchen  sei,  ausschließlich'  die  „Natur  der 
Sachen“  sei.  In  Wahrheit  aber  ist  es  umgekehrt:  das 
Gebiet,  auf  dem  die  Lösung  zu  suchen  ist,  ist  die  Natur 
des  Denkens.  Die  Natur  der  realen  Vorgänge  ist  rms 
immerhin  soweit  hinreichend  bekannt,  daß  wir  sie  als 
von  einer  unAvandelharen  Gesetzmäßigkeit  beherrscht  den- 
ken müssen;  die  objektiven  Prozesse  spielen  sich  mit  einer 
absoluten,  Avandellosen  NotAvendigkeit  ab,  mögen  nun 


158  Erster  Teil:  Prinzip.  Gnnwlleg.  C.  ErkoniitiiiRlljeoret.  Konsequenzen. 


diese  Prozesse  weiterhin  gedacht  werden  wie  sie  wollen. 
Auf  eine  bis  jetzt  ungelöste  Weise  knüpft  sich  an  diese 
objektiven  Vorgänge  die  subjektive  Welt  an. 

Wenn  also  in  den  subjektiven  Vorgängen  von  der  Wirk- 
lichkeit abgegangen  und  diese  durch  Abzüge  und  Zu- 
sätze verändert  wird,  und  wenn  doch  trotzdem  beim 
Handeln  schließlich  wieder  praktisch  richtige  Resultate 
sich  zeigen  und  die  abgeschlossene  Denkrechnung  mit  der 
Wirklichkeit  übereinstimmt,  — so  ergibt  sich  aus  diesen 
zwei  sich  zum  Widerspruch  reizenden  Sätzen  das  wich- 
tige Problem:  Wie  kommt  es,  daß  — tr  o tz  dem  w’^i  r 
im  Denken  mit  einer  verfälschten  Wirklich- 
keitrechnen, doch  das  praktische  Resultat  sich 
als  richtig  erweist? 

Die  Lösung  muß  in  der  Rechiiungsweise  des  Denkens 
liegen;  diese  müssen  wir  speziell  daraufhin  untersuchen. 
Das  Naturgeschehen  ist  etwas  Unwandelbares  und  voll- 
zieht sich  nach  harten,  unbeugsamen  Gesetzen:  der  Wille 
der  Natur  ist  eisern;  das  Denken  aber  ist  eine  sich  an- 
schmnegende,  biegsame,  sich  anpassende,  organische 
Funktion. 


Kapitel  XXXVI.  i 

Die  Verfälschung  der  Wirklichkeit  durch  die  logischen  i 

Funktionen.  | 

Logischer  Optimismus,  Pessimismus  und  1 

Kritizismus. 

Wo  die  logische  Funktion  mit  ihrer  Tätigkeit  eingreift, 
da  verändert  sie  das  Gegebene  und  entfernt  es  von  der 
Wirklichkeit.  Wir  können  nicht  einmal  die  elementaren 
Prozesse  der  Seele  schildern,  ohne  auf  Schritt  und  J 
Tritt  diesem  — sollen  wir  sagen  störenden  oder  iiachhel-  j 

fenden  Faktor?  — zu  begegnen.  Sobald  die  Empfindmig  \ 

in  den  Kreis  der  Psyche  eingetreten  ist,  wird  sie  in  den  i 
Wirbel  der  logischen  Prozesse  hineingezogen.  Die  Seele  ? 
verändert  selbständig  das  Gegebene  und  Dargebotene.  Bei  - 
dieser  Veränderung  ist  zweierlei  zu  unterscheiden:  1.  die 
Formen  an  und  für  sich,  in  denen  diese  Veränderung 


Die  Verfälschung  der  Wirklichkeit  durch  die  logischen  Funktionen.  159 

geschieht;  2.  die  durch  diese  Veränderung  aus  dem  ur- 
sprünglichen Material  geschaffenen  Produkte. 

Die  organisierende  Tätigkeit  der  logischen  Funktion 
reißt  alle  Empfindungen  in  ihren  Prozeß  herein  und  baut 
so  ihre  eigene  innere  Welt  auf,  welche  sich  von  der 
Wirklichkeit  immer  mehr  entfernt  und  doch  an  gewissen 
Spitzen  wieder  mit  ihr  so  eng  zusammenhängt,  so  daß 
stets  ein  Übergang  von  der  einen  in  die  andere  stattfindet, 
und  der  Mensch  gar  nicht  merkt,  daß  er  gleichsam  doppelt 
handelt  — in  seiner  inneren  Welt  (die  er  freilich  objek- 
tiviert als  die  sinnliche  Anschau ungs weit)  mid  in  einer 
ganz  anderen  Welt,  in  der  äußeren.  Es  gibt  also  Wechsel- 
orte, wo  die  Werte  der  einen  Welt  gleichsam  in  die  der 
anderen  umgetauscht  werden,  wo  der  lebhafte  Verkehr 
zwischen  beiden  Welten  ermöglicht  wird,  wo  gleichsam 
das  leichte  Papiergeld  der  Gedanken  umgesetzt  wird  in  die 
schwere  Münze  der  Wirklichkeit,  und  wo  umgekehrt  das 
Metall  der  Wirklichkeit  gegen  jene  leichtere  Ware,  welche 
aber  auch  den  Verkehr  erleichtert,  umgetauscht  wird. 

An  Stelle  der  schweren  Prozesse  der  Materie  tritt  die 
teichtgeflügelte  Arbeit  der  Ideen.  Eine  immer  größere 
Verdichtung  findet  statt,  einzig  und  allein  im  Interesse 
der  Belebung  und  Erleichterung  und  Bereicherung  des 
Verkehrs.  Erst  mit  der  Erfindung  des  Papiergeldes  wuchs 
der  Verkehr  ins  Ungeheuere;  erst  mit  der  Steigerung  der 
schwereren  Vorgänge  der  niederen  Welt  zu  den  immer 
feineren  Prozessen  des  Denkens,  erst  mit  der  Einführung 
des  Denkinstrumentes  entfaltet  sich  die  organische  Welt 
zur  Geschichte  der  Menschheit.  Die  Schwierigkeit  liegt 
hier  wie  dort  nur  in  der  Umrechnung,  in  der  Umwechs- 
lung. Da  hat  sich  viel  falsches  Papiergeld,  da  haben  sich 
viele  falsche  Ideen  eingeschlichen,  die  nicht  in  die  mate- 
riellen Werte  umgewandelt  werden  können;  auch  wird 
nicht  ohne  weiteres  der  Nennwert  des  Papieres  bezahlt, 
sondern  es  muß  Agio  bezahlt  werden.  Dafür  aber  waren 
alle  höheren  Spekulationen,  der  ganze  weite  Verkehr  nur 
möglich  auf  Grund  dieses  Hilfsmittels,  dieser 
fiktiven  Werte. 

Die  allermannigfachsten  Greschäfte  waren  nur  möglich 
auf  diese  Weise,  wenn  auch  mancher  „Aktienschwindel“ 
im  Gedankenreiche  gemacht  worden  ist,  wo  die  Leute  ihren 


U)0  Krsfei  Tcil : Prinzip,  Ti ruadleg.  C.  Ki  kennlnistlicoret.  Konscqiionzon. 

guten,  materiellen  Besitz  dahingaben  für  schlechte  Pa- 
piere, für  wertlose  Gedanken.  So  ist  das  Denken  dem 
Papiergeld  vergleichbar.  Die  Abweichung  von  der  Wirk- 
lichkeit oder  die  Fiktion  schlägt  je  nach  Umständen  ’/um 
Nutzen  oder  zum  Schaden  aus,  gerade  so  wie  das  zum 
Vergleich  herbeigezogene  Hilfsmittel  des  Papiergeldes. 
Es  ist  eben  mit  den  die  organische  Funktion  des  Denkens 
beherrschenden  Gesetzen  ebenso  wie  mit  allen  Natur- 
gesetzen — sie  sind  indifferent,  wirken  blind;  ob  sie  zum 
Heil  oder  Unheil  ausschlagen,  hängt  von  den  Umständen 
ab;  aber  sie  sind  zweischneidig.  Jene  Veränderung  der 
Wirklichkeit  in  den  logischen  Prozessen,  jene  Umsetzung 
des  gegebenen  schweren  Materials  in  die  leichten,  flüch- 
tigen Gedanken,  die  aber  dem  ersteren  so  wenig  mehr 
gleichen  — birgt  ebenso  viele  Gefahren  in  sich,  wie  sie 
andererseits  erst  die  Möglichkeit  eröffnet,  rasch  zu  denken 
und  zu  rechnen.  Für  unsere  Untersuchung  ist  es  äußerst 
wichtig,  welches  Vertrauen  wir  dem  Denken  und  seinen 
Arbeiten  und  Produkten  entgegenbringen.  Wir  müssen 
jedenfalls  die  naive  Ansicht  dahinten  lassen,  als  ob  das 
Gedachte  wirklich  sei,  als  ob  die  Formen  und  Wege 
des  Denkens  im  Sein  wiederzufinden  seien.  Diese  naive 
Glaubensseligkeit,  diese  zutrauliche  Hingabe  des  ver- 
trauensseligen, simplen  Naturmenschen  an  die  Produkte 
seiner  logischen  Funktion,  also  an  seine  Welt,  wird  jm 
Laufe  der  Erfahrung  bitter  und  mit  Hohn  getäuscht.  Das 
Denken  und  die  logische  Funktion  ist  nicht  der  ’jMittel- 
punkt,  in  dem  die  Radien  der  Welt  zusammenlaufen,  ist 
nicht  die  Achse,  um  die  sich  die  Welt  di’eht,  im  Gegenteil, 
die  logische  Funktion  spielt  im  Haushalt  der  Natur  eine* 
l^escheidene  Rolle,  und  die  Veränderungen  der  wirklichen 
Welt,  welche  durch  die  Produkte  der  logischen  Funktion 
zustande  kommen  — so  mächtig  und  ausgedehnt  sie  vom 
menschlichen  Standpunkt  aus  sind  — , im  Verhältnis  zu 
den  kosmischen  Veränderungen  sind  sie  von  einer  lächer- 
lichen Kleinheit.  Aber  so  gering  auch  diese  Veränderimgen 
sind  im  Vergleich  mit  den  grandiosen,  machtvollen  Ver- 
ursachungen der  wirklichen  Welt,  die  mit  ihrer  eisernen, 
plumpen  Notwendigkeit  wie  blinde  Riesengewalten  han- 
deln und  wirken  — so  ist  doch  andererseits  eben  diese 
Vorstellungswelt  unsere  Welt,  in  der  wir  leben  und 


Die  Verfälschung  der  Wirklichkeit  durch  die  logischen  Kunktionen.  Ihl 

fühlen.  Allein  sie  mag  so  schimmernd,  so  ideal,  so  herr- 
lich und  edel  sein,  als  jemals  ein  philosophisches  Welt- 
system war  — wir  dürfen  sie  nicht  an  Stelle  der  objek- 
tiven Welt  setzen:  und  tun  wir  das,  so  begeht  der  hoch- 
fliegende Denker  formell  genau  dieselben  Fehler  wie  der 
niedrigste  Wilde,  wenn  er  Gedankendinge  objektiviert. 
Diese  Bemerkungen  aber  sollen  die  richtige  Stimmung 
hervorbringen,  welche  wir  den  logischen  Funktionen  und 
ihren  Produkten  entgegenbringen  sollen : wir  sollen  weder 
dogmatisch  noch  skeptisch  sein,  sondern  kritisch. 

Der  Dogmatismus  ist  ein  logischer  Optimismus, 
der  den  logischen  Funktionen  und  Produkten  ein  unbe- 
grenztes Vertrauen  entgegenbringt,  der  das  Denken  mit 
einer  so  überschwenglichen  Bewunderung  und  Zufrieden- 
heit betrachtet,  daß  er  gar  nicht  wagt,  an  demselben  zu 
zweifeln.  Die  logische  Unfehlbarkeit  des  Denkens  steht 
dem  logischen  Optimisten  fest  wie  ein  Evangelium,  an 
welches  er  sklavisch  glaubt,  und  mit  derselben  Intoleranz, 
welche  den  religiösen  Aberglauben  begleitet,  zieht  er  die- 
jenigen logischen  Fonnen,  in  denen  er  zufällig  denkt,  allen 
anderen  vor.  Dieser  logische  Optimismus  ist  etwas  Un- 
schuldiges und  Unschädliches  bei  den  Naturmenschen, 
er  wird  bedenldich,  mehr,  er  wird  geradezu  gefährlich  und 
verderblich  bei  den  höherstehenden  Menschen.  Das  lo- 
gische Gebäude,  und  wenn  es  noch  so  sehr  bin  Karten- 
haus ist,  wird  so  ängstlich  gehütet  vor  dem’  frischen  Luft- 
zug des  Zweifels,  daß  niemand  wagt,  an  der  logischen 
Funktion  zu  zweifeln.  Der  Optimismus  wird  hier  konser- 
vativ, realdionär,  er  wird  verderblich,  wie  eben  alles, 
was  sich  überlebt.  Der  logische  Optimismus  wird  über- 
flüssig und  gefährlich,  trotzdem  er  notwendig  war,  denn 
der  Wilde  würde  verhungern,  wenn  er  erst  nachdenken 
müßte,  ob  der  Raum,  durch  den  er  seinen  befiederten 
Pfeil  schießt,  wirklich,  und  ob  er  unendlich  teilbar  ist,  und 
ob  nicht  „sein  Pfeil  ruhe“;  und  er  erreicht  auch  seine 
„Schildkröte“,  ohne  sich  durch  die  unendliche  Teilbarkeit 
der  dazwischen  liegenden  Spanne  irre  machen  zu  lassen. 
Wollte  schon  der  Naturmensch  zweifeln  an  der  Objektivi- 
tät seiner  logischen  Formen,  so  wäre  er  kein  Kultur- 
mensch geworden,  aber  will  der  dieser  Kulturperiode  an- 
gehörende Denker  nicht  zweifeln  an  jener  Objektivität, 

Vaihinger,  Pliilosopliip.  11 


Ifi2  Ki  storToil : l’i  inzip.  (innifllog,  C.  l'2rk(‘niifnislhoorct.  Konsf*qin‘iizoii. 


SO  wird  er  oben  wieder  ein  Natiirineiiscli  im  schlimmen 
Sinne  des  Wortes,  also  ein  unkritisciier  Mensch. 

Zu  dem  el^en  geschilderten  Gebaren  des  logisch(Mi 
Optimisten  bietet  dasjenige  des  logischen  Pessimi- 
sten oder  des  Skeptikers  ein  lehrreiches  Gegenstück. 

Er  versteigt  sich  bis  zu  dem  .Mißtrauen  eines  Gorgias 
und  versinkt  bis  in  die  i\Iystik  eines  Huet  oder  in  die 
Haltlosigkeit  eines  Agrippa  v.  Nettesheim.  Er  findet 
keinen  Ausdruck,  der  stark  genug  wäre,  um  die  Unsicher- 
heit, Ungültigkeit,  Unzuverlässigkeit  des  Denkens  zu 
brandmarken.  Er  zweifelt  mit  dem  Solipsisten  an  der 
Existenz  der  Außenwelt  und  ist  zuletzt  seines  eigenen 
Daseins  nicht  mehr  sicher.  Das  Denken  gilt  als  ein  ganz 
mangelhaftes  Instrument,  das  die  Wirklichkeit  verfälscht, 
das  irreführt,  das  betrügt.  Ist  der  Dogmatismus  frucht- 
los, so  ist  der  Skeptizismus  ganz  unfruchtbar.  Trotz- 
dem ist  dieses  iVIißtraueri  nicht  bloß  sehr  motiviert,  son- 
dern auch  recht  dienlich,  um  die  kritische  Stimmung  vor- 
zubereiten, mit  der  wir  unserer  Welt,  d.  h.  den  logischen  i 
Produkten  und  Funktionen  gegenübertreten  müssen.  Das 
Verdienst  dieses  logischen  Pessimismus  ist  nicht  hoch 
genug  anzuschlagen;  er  zerstört  die  Naivität  und  unbeson- 
nene Glaubensseligkeit,  und  gegenüber  der  behaupteten 
oder  naiv  angenommenen  Identität  von  Denken  und  Sein 
macht  er  energisch  auf  ihre  totale  Differenz  aufmerksam. 

Er  diskreditiert  das  vielgebrauchte  und  vielgemißbrauchte 
Bild  von  „der  Wiederspiegelung  der  Außenwelt  in  der 
Seele“,  welche  das  Objektive  treu  und  unverfälscht  wieder- 
geben soll.  Ihm  liegt  es  dagegen  nahe,  das  Denken  unter 
dem  Bilde  einer  gefärbten  Brille  zu  fassen,  welche  alles 
Gesehene  in  falschem  Lichte  zeigt  oder  unter  dem  Bild 
eines  verzerrenden  Hohlspiegels. 

Der  wahre  Kritizismus  oder  logische  Positi- 
vismus geht  vorurteilsfrei  und  kalt  an  die  Untersuchung 
des  Denkinstrmnentes.  Mit  dem  logischen  Pessimismus 
emanzipiert  er  sich  von  dem  kindlichen  Aberglauben 
an  die  Macht  und  unbeschränkte  Gültigkeit  des  Denkens, 
und  mit  dem  Optimismus  hält  er  an  dem  Faktum  der 
schließlichen,  praktischen  Übereinstimmung  von  Denken 
und  Sein  fest.  Die  kostbare  Frucht  jenes  Pessimismus  aber 
ist  die  Gewöhnung,  in  den  Denkgebilden  zunächst  nur 


Die  Kategorien  als  Fiktionen. 


163 


subjektive  Produkte  zu  sehen  und,  anstatt  mit  dem  Dog- 
matiker zu  verlangen,  man  solle  ihre  Realität  solange 
annehmen,  bis  ihre  Ungültigkeit  bewiesen  sei  — ein 
Grundsatz,  der  praktisch  wohl  der  allein  brauchbare  ist  — 
dreht  er  die  Richtung  der  Beweisführung  um,  und  den 
juridischen  Grundsatz  : „Qtiisqae  praesumatar  maliis^  clonec 
probetiir  honiis“  — miitatis  matandis  auf  sein  Gebiet  an- 
wendend, verlangt  er,  jedes  logische  Produkt  und  jede 
logische  Funktion  solle  solange  eben  als  das  gelten,  was 
sie  zunächst  allein  ist,  als  bloß  logisches  Gebilde,  und 
fordert  für  die  Annahme  der  Realität  eines  jeden  Denk- 
gebildes und  jeder  logischen  Form  einen  speziellen  Be- 
weis. Und  dies  ist  theoretisch  der  allein  gültige  und 
brauchbare  Grundsatz. 


Kapitel  XXXVII. 

Die  Kategorien  als  Fiktionen 

nebst  allgemeinen  Ausführungen  über  den 
praktischen  Zweck  des  Denkens. 

Zwischen  der  Aufnahme  der  Empfindungen  in  die 
Seele  und  ihre  Prozesse  und  der  Auflösung  der  Begriffe 
und  schließlichen  Denkgebilde  wiederum  in  Empfindungen 
im  praktischen  Handeln  und  in  der  theoretischen  Ver- 
gleichung der  Denkrechnung  mit  dem  wirklichen  Ge- 
schehen — zwischen  diesen  beiden  Toren,  dem  Eingangs- 
und Ausgangstor  der  Seele  — liegt  die  psychische  Welt 
mitten  drinnen.  Alles  was  zwischen  jenen  beiden  Statio- 
nen vorgeht,  gehört  einzig  und  allein  dem  weiten  Reiche 
der  Seele  an. 

Sobald  die  Empfindungen  eintreten  in  den  psychischen 
Prozeß,  werden  sie,  wie  bemerkt,  verarbeitet  zu  An- 
schauungsbildern. 

Die  Differenzierung  des  Empfindungschaos  in  „Dinge 
mit  Eigenschaften“,  in  „Ganzes  und  seine  Teile“  usw.  ist 
eine  rein  subjektive  Tat.  Dies  sind  ja  nur  Apperzeptions- 
formen, in  denen  die  Empfindungen  sich  zusammenballen 
und  verbinden. 

Ob  das  Zusammentreffen  dieser  Vorstellungen  in  der 
Seele  auf  einem  inneren  Zusammenhang  beruht,  dies  lehrt 


164  Erster  Teil:  Priiizif).  Gruiidleg.  (1.  Erkeiintnistheoret.  Konaequeiiz^i». 


uns  die  Beobachtung,  indem  sie  uns  zeigt,  daß  gewisse 
Empfindungen  in  derselben  Verknüpfung  immer 
w i e d e r k e h r e n.  Eine  einmalige  Gleichzeitigkeit  oder  un- 
mittelbare Aufeinanderfolge  der  Vorstellungen  bietet  der 
Seele  weder  die  Bürgschaft,  daß  sie  zusammengehören 
und  immer  in  derselben  Weise  wiederkehren,  noch  auch  die 
Veranlassung,  dies  anzunehmen.  Durch  die  häufige 
Wiederkehr  derselben  V orstellungsverknüpf ung  da- 
gegen findet  sich  die  Seele  veranlaßt,  dies  Ereignis  als 
ein  besonderes  aus  dem  Chaos  der  Empfindungen  heraus- 
zuheben. Wir  glauben  nicht,  daß  die  Psyche  ohne  einen 
praktischen  ZAvang  zu  dieser  Tat  veranlaßt  worden 
wäre.  Wir  glauben  im  Gegenteil,  daß  nur  die  Not  im 
weitesten  Sinne  es  war,  welche  aus  der  Psyche  dann  die 
Neigung  hervortrieb,  für  jene  beständige  Vorstellungs Ver- 
bindung eine  besondere  Kategorie  zu  bilden.  Gegeben 
sind  der  Seele  also  außer  dem  Material  der  Empfindungen 
als  solcher  noch  die  Zeitverhältnisse,  in  welcher 
sie  in  dieselbe  eintreten;  der  Rhythmus,  in  dem  das 
Spiel  der  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  erfolgt.  In 
dieser  Zeitfolge  der  Empfindungen  heben  sich  bald  solche 
Empfindungsgrößen  hervor,  welche  in  dem  Strom  der 
Wahrnehmung  immer  wieder  in  derselben  Verknüpfung 
wiederkehren.  Diese  Wiederkehr  kann  in  doppelter  Form 
Vorkommen,  in  Simultaneität  oder  Aufeinanderfolge.  Hier 
betrachten  wir  zunächst  die  simultanen  Empfindungsver- 
knüpfungen. Vor  der  Seele  ziehen  z.  B.  die  Wahrnehmun- 
gen von  Gegenden  vorüber,  nachher  Tiere,  Pflanzen,  alles 
dies  in  einem  chaotischen  Durcheinander.  Aber  wie  auch 
der  Fluß  der  Wahrnehmung  wechseln  möge,  stets  kehrt 
wieder  eine  Vorstellungsverknüpfung  gewisser  Gestal- 
tungsformen mit  einer  bestimmten  Farbe:  der  Gestalt 
einer  verzweigten  Pflanze  mit  grünem  Laube.  Immer 
kehren  diese  Verknüpfungen  wieder. 

Jene  verzweigte  Pflanze  erscheint  stets  mit  dieser  Grün- 
empfindung verbunden.  Diese  bestimmte  Empfindungs- 
verknüpfung ist  für  die  Seele  zunächst  zufällig;  sie 
bleibt  es  aber  nicht.  Aus  der  Mechanik  der  Empfindungen 
springt  die  Form  des  Dinges  mit  seiner  Eigenschaft 
hervor.  Es  entsteht  das  Ding:  „Baum“  mit  der  Eigen- 
schaft: „grün“.  Die  eine  Empfindungsgruppe  — die  der 


Die  Kategorien  als  Fiktionen. 


165 


Gestalt  — gilt  als  das  Ding,  die  andere  — das  Grün  — 
als  die  Eigenschaft.  Die  einzelnen  Glieder  dieses  Ver- 
hältnisses werden  auf  die  verschiedenen  Empfindungen 
verteilt.  Allein  damit  ist  die  Sache  noch  nicht  fertig; 
das  Laub  fällt  ab  — der  Baum  ist  entblättert.  Wie  kann 
nun  — nach  diesem  Vorgang  — auf  die  Restwahrnehmung 
der  verzweigten  Pflanze  noch  das  Verhältnis  des  Dinges 
zu  seiner  Eigenschaft  angewandt  werden?  Nur  dadurch, 
daß  das  Sichtbare  als  Eigenschaft  eines  unsichtbaren 
Dinges  gedacht  wird.  Nun  ^vird  also  nicht  nur  das  Ver- 
hältnis überhaupt  (Ding  und  Eigenschaft)  zu  dem  unmittel- 
bar Gegebenen  hinzugedacht,  sondern  es  wird  auch  das 
eine  Glied  des  Verhältnisses  ins  Imaginäre  hinausge- 
schoben und  damit  in  eine  reine  Fiktion  vei'wandelt. 

Man  bemerke  hier  die  Verschiebbarkeit,  Verstellbarkeit  der 
Kategorie:  was  das  eine  Mal  als  Ding  gedacht  wird,  wird  nachher 
als  Eigenschaft  gedacht;  aus  dieser  Verschiebbarkeit,  welche  allen 
Kategorien  eigentümlich  ist  (so  z.  B.  Ursache  und  Wirkung,  Ganzes 
und  Teile,  Wesen  und  Erscheinimg),  läßt  sich  auf  die  Subjektivität 
der  Kategorien  schließen;  und  aus  dieser  Verschiebbarkeit  läßt  sich 
auch  erklären,  wie  das  eine  Glied  jenseits  der  Erfahrung  hinausge- 
schoben  werden  kann,  so  daß  das  Erfahrungsmäßige  als  das  zweite 
Glied  zu  stehen  kommt;  so  entsteht  nämlich  die  Fiktion  einer 
Substanz,  welche  jenseits  der  Erfahrungsgegenstände  bestehen 
soll;  diese  sind  dann  bloße  attributa  oder  modi  jener  Substanz;  so 
entsteht  die  Fiktion  einer  absoluten  Ursache,  deren  Wir- 
kung die  Erfahrungswelt  sein  soll,  so  entsteht  die  Fiktion  eines 
Makrokosmos,  dessen  Teile  die  Erfahrungsgegenstände  sein 
sollen,  so  endlich  entsteht  die  Fiktion  eines  absoluten  Din- 
ges an  sich,  das  als  „das  Wesen“  der  Erscheinung  zu  betrachten 
sein  soll  — dies  sind  alles  unberechtigte  Übertragungsfik-. 
tionen,  indem  das  Verhältnis,  welches  nur  innerhalb  der  Erfah- 
rung Sinn  hat,  über  sie  hinaus  ausgedehnt  wird  ins  Leere.  Wie 
durch  die  unberechtigte  Übertragung  mathematischer  Operationen 
die  irrationalen  und  imaginären  Zahlen  entstehen,  z.  B.  Y — a so. 
durch  die  unberechtigte  Ausdehnung  kategorialer  Formen  die  Fik- 
tionen einer  absoluten  Substanz,  einer  absoluten  Ursache,  eines 
absoluten  Ganzen  und  eines  absoluten  Wesens,  iin  Gegensatz  zur 
Erscheinung. 

Die  Fiktion  der  Substanz  entsteht  also,  indem  das  eine 
Glied  des  Verhältnisses:  Ding  und  Eigenschaft  aus  dem 
Gegebenen  ins  Nichtgegebene  hinausgeschoben  wird,  ins 
Imaginäre.  Ein  anderes  Beispiel  wird  diesen  Vorgang 
klarer  machen.  In  der  Wahrnelnnung  ist  immer  wieder- 
gekehrt die  Empfindungsverknüpfung  des  „Süßen“  und 


166  Erster  Teil : Prinzip.  Grundleg.  C.  Erkenntnistheoret.  Konsequenzen. 


„Weißen“,  es  ist  der  beliebte  Bestand  des  „Zuckers“.  Die 
Psyche  wendet  also  auf  diese  Verknüpfung  die  Kategorie 
des  Dinges  mit  seiner  Eigenschaft  an:  „Der  Zucker  ist 
süß.“  Hier  erscheint  aber  noch  als  Ding  das  „Weiße“. 
„Süß“  ist  die  Eigenschaft.  Die  Seele  bemerkt  aber 
die  Empfindung  „weiß“  auch  sonst:  letztere  löst  sich  ab 
als  eine  Eigenschaft  in  anderen  Fällen,  also  wird  auch 
in  diesem  Fall  Weiß  eine  Eigenschaft  sein.  Nun  läßt  sich 
aber  doch  nicht  mehr  die  Kategorie : Ding  mit  Eigenschaft 
darauf  anwenden,  wenn  „süß“  und  „weiß“  Eigenschaften 
sein  sollen  und  sinnlich  weiter  keine  Empfindung  gegeben 
ist.  Hier  kommt  die  Sprache  zu  Hilfe,  und  indem  sie  den 
Namen  „Zucker“  für  die  Gesamtwahrnehmung  gibt,  ist 
es  ermöglicht,  die  einzelnen  Empfindungen  als  Eigen- 
schaften anzusetzen.  So  rückt  das  „Ding“  aus  dem 
Kreis  der  wirklich  wahrgenommenen  Empfin- 
dungen hinaus  und  wird  jetzt  als  ein  besonde 
rer  Träger  hinzugedacht. 

Dem  Denken  in  seiner  ursprünglichen  Tätigkeit  erscheinl 
dies  als  ein  höchst  unschuldiger  Prozeß.  Wir,  auf  dem 
Standpunkt  der  jetzigen  Natur-  und  Weltanschauung,  sehen 
darin  aber  eine  höchst  bedenkliche  Veränderung  und  Ver- 
fälschung der  reinen  Erfahrung.  Wer  autorisierte 
das  Denken  dazu,  etwa  zuerst  „Weiß“  als  Ding,  „Süß“ 
als  Eigenschaft  anzusetzen?  Wer  gab  ihm  das  Recht, 
weiterhin  sogar  beides  als  Eigenschaften  anzusetzen 
und  ein  Ding  hinzuzudenken  als  ihren  Träger?  Weder 
in  den  Empfindungen  selbst  lag  dazu  das  Recht,  noch  in 
dem,  was  wir  jetzt  als  die  Wirklichkeit  betrachten.  Wie 
verhält  sich  die  Sache  denn  wirklich?  Was  sind  jene 
Empfindungen,  welche  die  Seele  als  Eigenschaften  eines 
Dinges  projiziert?  Die  Empfindungen,  welche  die  Seele 
zu  Eigenschaften  eines  objektiven  Dinges  machte,  sie  sind 
Vorgänge  in  der  Seele  selbst.  Jedenfalls  aber  liätte 
die  Seele  sehr  willkürlich  gehandelt,  indem  sie  solcher- 
gestalt verfuhr;  ihre  reine  Erfahrung  sind  nur  Empfin- 
dungen, nichts  als  Empfindungen. 

Aus  der  Mechanik  der  Empfindungen  sprang  jene  Form : 
Ding  und  Eigenschaft  heraus,  welche  doch  nicht  in  den 
Empfindungen  selbst  lag.  ]\Iag  auch  letzthin  dieser 
Form  eine  gewisse  Wirklichkeit  entsprechen  — uns  inter- 


Die  Kategorien  als  Fiktionen. 


167 


essiert  hier  nicht  diese  Frage,  sondern  wir  machen  hier 
die  Beobachtung,  daß  die  Seele  jenes  Ding  hinzudenkt, 
daß  sie  die  Empfindungen  als  Eigenschaften  der  Dinge 
ansletzt  und  einsetzt.  Damit  ist  nun  die  Denk- 
rechnung eingeleitet:  der  Ansatz  ist  gemacht. 

Wir  müssen  zunächst  streng  daran  festhalten,  daß  das 
Gegebene  nur  Empfindungen  sind,  und  daß  alles 
weitere,  was  nicht  bloße  Empfindung  ist  — selbsteigene 
Arbeit  der  Seele  ist.  Die  kategoriale  Verarbeitung  der 
Empfindungen  aber  ist  schon  eine  Veränderung  der 
Erfahrung,  eine  Verfälschung  der  gegebenen 
Wirklichkeit.  Die  Schöpfung  der  Kategorien  geht  durch 
mannigfache  Prozesse  hindurch,  welche  zu  schildern  eine 
spezielle  Aufgabe  der  Psychologie  ist.  Hier  interessiert 
uns  zunächst  das  Resultat,  daß  sich  durch  Zerlegen  und 
Hinzudenken  eine  Verwandlung  des  unmittelbaren  Mate- 
rials vollzieht,  ein  Resultat,  welches  sehr  beträchtlich 
weiterführt,  als  die  bloße  Vereinigung  der  Empfindungen 
in  der  Anschauung.  Denn  hier  stehen  wir  schon  im  Ge- 
biet des  begrifflichen,  diskursiven  Denkens. 
Analyse,  Vergleichung,  Abstraktion  und  Kom- 
bination sind  die  psychischen  Prozesse,  durch  welche 
jene  theoretische  Verarbeitung  vor  sich  geht. 

Was  ist  denn  aber  dadurch  gewonnen?  Wir  müssen 
das  prüfen.  Es  wird  sich  zeigen,  daß  diese  Art  von  be- 
grifflicher Erkenntnis  alsMittel  zu  pr ak tisch emllan- 
deln  sehr  hohen  Wert  hat,  dagegen  gar  keinen 
eigentlich  wissenschaftlichen  Erken  nt  nis- 
w e r t.  Der  Irrtum  der  Menschheit  bestand  aber  immer 
darin,  auch  in  das  Mittel  Wert  h i n e i n z u 1 e g e n , der 
doch  einzig  und  allein  in  dem  liegt,  was  durch  das  Mittel 
erreicht  wird. 

Gegeben  sind  dem  Bewußtsein  nur  Empfindungen:  in- 
dem es  ein  Ding  hinzudenkt,  dem  diese  Empfindungen 
als  Eigenschaften  angehören  sollen,  begeht  das  Denken 
einen  kolossalen  Irrtum!  Es  hypostasiert  die  Empfindung, 
die  doch  nur  ein  Prozeß  ist,  zu  einer  seienden  Eigenschaft; 
es  schreibt  diese  „Eigenschaft“  einem  ,,Dinge“  zu, 
das  entweder  eben  nur  in  dem  Komplex  der  Empfindungen 
selbst  besteht,  oder  gar  von  dem  Denken  noch  zu  dem 
Empfundenen  hinzugedacht  wird.  Man  mache  es  sich  doch 


168  Erster  Teil:  Prinzip.  Grundleg,  C.  Erkenntnistheoret.  Konsequenzen. 


Idar,  daß,  wenn  das  Denken  einen  Empfindungskomplex 
unter  die  Kategorie  von  Ding  und  Eigenschaft  subsumiert, 
es  einen  ungeheuren  Fehler  begeht.  Wo  ist  denn 
das  „Süß“,  das  dem  Zucker  zugeschrieben  wird?  Es  be- 
steht ja  nur  in  dem  Empfindungsakte;  und  wo  ist  demi 
der  „Zucker“,  der  „weiß“,  „süß“,  „hart“  und  „fein“  sein 
soll,  dessen  „Wesen“  darin  bestehen  soll?  Das  Denken 
setzt  eben  den  Empiindungskomplex  zweimal;  erstens 
als  Ding,  zweitens  als  Eigenschaft.  Gegeben  ist  ihm 
nur  die  eine  Empfindungsreihe,  aus  dieser  macht  es  zwei 
ganz  verschiedene  B egriffs werte : erstens  ein  Ding,  zwei- 
tens seine  Eigenschaften. 

Indem  das  Denken  dies  tut,  verändert  es  nicht  nur  die 
uimiittelbare  Empfindmig,  es  entfernt  sich  auch  immer 
mehr  von  der  Wirklichkeit,  es  verstrickt  sich  immer  mehr 
in  seinen  eigenen  Formen.  Vermittels  seiner  „Einbil- 
dungskraft“, um  diesen  unwissenschaftlichen  Ausdruck  zu 
gebrauchen,  hat  es  sich  ein  Ding  ersonnen,  welches  eine 
Eigenschaft  haben  soll.  Jenes  Ding  ist  eine  Fiktion; 
jene  Eigenschaft  ist  als  solche  eine  Fiktion; 
das  ganze  Verhältnis  ist  eine  Fiktion. 

Noch  mehr.  Indem  die  logische  Funktion  die  beiden 
Glieder  des  Verhältnisses  isoliert,  vergrößert  sie  jenen 
Fehler.  Das  ganze  Verhältnis  zerfällt  in  isolierte  Momente; 
das  Ding  wird  isoliert;  seine  Eigenschaft  wird  von  ihm'  als 
getremit,  als  trennbar  gedacht.  Es  muß  zugestanden  wer- 
den, daß  die  logische  Funktion  hier  eine  Reihe 
von  Willkürlichkeiten  und  Fehlern  sich  zu- 
schulden kommen  läßt. 

Jene  isolierten  Momente  und  Elemente  drängen  aber 
zu  der  Verbindung  zurück;  sie  drängen  zur  Vereinigung; 
denn  sie  sind  ohne  Vereinigmig  ein  Widerspruch,  eine 
Spannung.  Der  Widerspruch  ist  ein  psychisches  Span- 
nungsverhältnis. Dies  ist  hier  der  Fall.  Es  besteht  ein 
Widerspruch  zwischen  dem  als  isoliert  gedachten  Ding 
und  seiner  isoliert  gedachten  Eigenschaft.  Denn  was  soll 
das  „Ding“  sein  ohne  „Eigenschaft“,  was  die  „Eigen- 
schaft“ ohne  „Ding“?  Die  Spannung  löst  sich  im  Ur- 
teil: „Der  Zucker  ist  süß.“  Wir  glauben  nun,  hier  sei  ein 
Erkennen,  ein  Wissen.  — Aber  was  ist  denn  damit,  mit 
dem  Urteil  gewomien,  außer  der  bloßen  Subsumtion  unter 


Die  Kategorien  als  Fiktionen. 


169 


die  leere  Kategorie?  Immerhin  etwas:  Das  Denken 
hat  hier  seinen  ersten  Fehler  gut  gemacht.  Es 
hatte  zuerst  die  Empfindung  verdoppelt  in  ein  Ding 
und  seine  Eigenschaft,  es  hatte  Eigenschaft  und  Ding  ge- 
trennt. Nun  wird  im  Satze  beides  wieder  verbunden. 

Man  sagt  gewöhnlich:  in  einem  solchen  Satze  ist  ein 
Wissen,  eine  Erkenntnis  ausgesprochen.  Dies  scheint  uns 
zu  viel  gesagt.  Zwar  die  Spannung  ist  gelöst,  der  Wider- 
spruch zwischen  dem  Ding  und  seiner  Eigenschaft  ist 
(scheinbar)  entfernt  durch  die  Gleichsetzung,  aber  damit 
ist  weiter  nichts  als  ein  subjektives  Lustgefühl 
erreicht.  Faktisch  ist  damit  nichts  erreicht  für  die  Erkennt- 
nis, aber  um  so  mehr  für  den  praktischen  Ge- 
brauch. Man  betrachtet  diese  ganze  Bewegung  der  logi- 
schen Funktion  gewöhnlich  viel  zu  sehr  vom  Erkenntnis- 
standpunkt aus.  Allein  einmal  ist  darin  noch  gar  keine 
faktische  Erkenntnis  erreicht,  und  sodann  diente  dieser 
ganze  Prozeß  auch  gar  nicht  diesen  theoretischen  Zwecken, 
sondern  er  erfüllte  praktische  Zwecke.  Erstens  ist  dadurch 
nämlich  die  Mitteilung  in  ausgiebigem  Maße  ermög- 
licht : denn  wie  hätte  der  Empfindungskomplex  sonst  mit- 
geteilt werden  sollen?  Eine  Mitteilung  war  nur  möglich, 
wenn  das  Mittel  der  Mitteilung,  das  Wort,  zuerst  einen 
ganzen  solchen  Empfindungskomplex  aus- 
drückte, und  dann  ein  neues  Wort  einen  Teil  des- 
selben alsEi  gen  Schaft  besonders  hervorhebt,  derart, 
daß  diese  Verdoppelung  im  Satze  gleichsam  zurückge- 
nommen wird.  Der  Trennung  entspricht  hier  eine  Ver- 
einigung. Sowohl  der  Begriff  als  der  Satz  dienen  also 
nur  als  Mittel  der  Mitteilung;  andere  noch  anzugebende 
Zwecke  sind  die  Ordnung  in  der  Psyche  und  — kann 
man  noch  hinzufügen  — die  durch  diese  Ordnung  ver- 
größerte Erinnerungsmöglichkeit.  Als  drittes 
kommt  der  Zweck  des  Erklärens,  Begreifens.  Was 
es  mit  der  Erreichung  dieses  Zweckes  auf  sich  habe, 
wurde  oben  gesagt:  der  Zweck  wird  erreicht,  aber  wie! 
Die  Seele  erhält  den  Eindruck,  etwas  begriffen  zu  haben, 
indem  sie  ihre  fiktiven  Kategorien  auf  die  Empfindungs- 
komplexe anwendet. 

Also  sowohl  Begriff  als  Urteil  sind  rein  nur  als  Mittel 
zu  praktischen  Zwecken  zu  betrachten.  Das  Denken 


170  Erster  Teil : Prinzip.  (Irundlcg.  C.  Erkenntnistlieoret.  Konsequenzen. 

fingiert  ein  Ding,  dem  es  seine  eigenen  Empfindungen 
als  Eigenschaften  anhängt;  mit  Hilfe  dieser  Fiktion 
arbeitet  es  sich  heraus  aus  dem  .Meer  der  anstürmenden 
Empfindungen. 

Wir  haben  hier  sogleich  Verschiedenes  zu  merken:  die 
Fiktion  hat  einen  praktischen  Zweck,  aber  sie  ist  theore- 
tisch wertlos,  ja  widerspruchsvoll.  Denn  es  gibt  kein  Ding, 
welches  die  Eigenschaft  hat,  „süß“  zu  sein;  dieses  „Ding“ 
ist  in  sich  selbst  ein  Widerspruch;  es  ist  ein  ganz  wider- 
spruchsvolles Gebilde:  es  soll  ein  von  den  Eigenschaften 
getrenntes,  davon  zu  unterscheidendes  Wesen  sein;  und 
doch  kennen  wir  es  nur  durch  diese  Eigenschaften.  Aber 
die  Aufstellung  dieses  fiktiven  Dinges  hat 
einen  enormen  praktischen  Wert;  es  ist  gleich- 
sam der  Nagel,  an  welchen  die  Empfindungen  als  Eigen- 
schaften gehängt  werden.  Ohne  seine  Aufstellung  wäre 
es  dem  Denken  gar  nicht  möglich  gewesen,  in  dem  Wirr- 
warr der  Empfindimgen  Ordnung  zu  schaffen. 

Und  diese  Aufstellung  des  Dinges  wäre  nie  möglich  ge- 
wesen ohne  Mithilfe  der  Sprache,  welche  für  das  Ding 
ein  Wort  hergibt,  und  welche  den  Eigenschaften  besondere 
Namen  gibt.  An  das  Wort  heftet  sich  nun  jener  Wahn, 
es  gäbe  ein  Ding,  welches  Eigenschaften  habe:  das  Wort 
gestattet  die  Fixierung  des  Irrtums.  Die  logische  Funk- 
tion hebt  aus  dem  allgemeinen  Fluß  des  Geschehens  und 
Empfindens  einen  Empfindungskomplex  heraus,  fingiert 
ein  Ding,  dem  diese  Empfindungen,  die  doch  die  Psyche 
allein  hat,  als  Eigenschaften  angehören  sollen.  Allein 
Ding,  Eigenschaft  und  das  Urteil,  in  dem  sie  kopuliert 
werden,  sind  lauter  Veränderungen  des  Wirklichkeits- 
bestandes, sind  Fiktionen,  d.  h.  sind  — Irrtümer,  aber 
fruchtbare  Irrtümer. 

Die  Widersprüche  und  Irrtümer,  welche  in  dieser  sinn- 
lichen Weltanschauung  enthalten  sind,  machen  sich  erst 
später  bemerkbar  und  fordern  dann  zur  Umarbeitung  der 
Anschauung  auf:  allein  diese  immanenten  Widersprüche 
verhindern  nicht  nur  nicht,  daß  diese  Formen  und  For- 
meln Jahrtausende  lang  den  inneren  (psychischen)  und 
den  äußeren  Verkehr  vermitteln,  sondern  sie  verschwinden 
selbst  dann  nicht,  wenn  man  sie  als  widerspruchsvolle 
Irrtümer  eingesehen  hat,  sie  sind  dann  nicht  etwa  bloß 


Die  Kategorien  cals  Fiktionen. 


171 


unschädlich  als  Reste  früherer  Anschauung,  sondern  sie 
sind  sogar  und  bleiben  absolut  notwendig  zur  Mit- 
teilung und  zum  Zweck  logischer  Ordnung:  so 
sind  sie  aus  unwillkürlichen  fiktiven  Gebilden  zu  be- 
wußten, wissenschaftlich  als  notwendig  er- 
kannten Fiktionen  geworden. 

Der  Irrtum  besteht  nmi  darin,  in  solchen  logischen  Mit- 
teln Selbstzwecke  zu  sehen  und  daher  ihnen  einen  selb- 
ständigen Erkenntniswert  zuzuschreiben.  Sie  sind  aber 
nur  logische  Kunstgriffe  zur  Erreichung  der  oben 
mehrfach  genannten  Zwecke.  ]\Ian  muß  nur  nicht  immer 
sofort  den  Zweck  des  logischen  Denkens  im  Erkennen 
suchen : der  erste  Zweck  des  logischen  Denkens 
ist  ein  praktischer,  die  logische  Funktion  dient  der 
Selbsterhaltung.  Erst  ein  sekundärer  Zweck  ist  die  Er- 
kenntnis: sie  ist  gewissermaßen  nur  das  Ab- 
fallprodukt der  logischen  Funktion.  Diese  dient 
in  erster  Linie  dem  praktischen  Zwecke  der  Mitteilung  und 
des  Handelns. 

Ganz  dasselbe  ist  der  Fall  mit  allen  anderen  Kate- 
gorien, durch  welche  das  diskursive  Denken  geleitet  wird : 
das  Ganze  und  seine  Teile,  die  Ursache  und  ihre 
Wirkung,  das  Allgemeine  und  sein  Besonderes. 
Alles  dies  sind  nur  begriffliche,  logische  Fiktionen,  mit 
denen  absolut  keine  Erkenntnis  im  strengen  Sinne  des 
Wortes  hervorgebracht  wird.  Hier  besteht  „die  Beein- 
flussung in  dem  Zusatz  von  Bestimmungen,  welche  nicht 
in  dem  wirklich  Gegebenen  enthalten  sind,  sondern  durch 
den  Erfahrenden  hinzugedacht  werden. 

Während  also  das  wissenschaftliche  Denken  in  seiner 
heutigen  Gestalt  gerade  die  Intellektualformen,  d.  h.  die  Kate- 
gorien nicht  als  Mittel  des  Begreifens  anerkennt,  sind  sie 
für  die  sinnliche  Weltanschauung  von  jeher  maßgebend 
und  Mittel  des  Begreifens  gewesen:  die  iMenschheit  hat 
Jahrtausende  darauf  verwandt,  die  Empfindungskomplexe 
nach  rein  äußerlichen  Merkmalen  in  jene  Fächer  ein- 
zuteilen — und  diese  Arbeit  hat,  wenn  auch  keinen  theo- 
retischen, so  doch  ihren  praktischen  Wert  gehabt. 

Kant  hat  nachgewiesen,  daß  die  Kategorien  nur  auf 
die  Erfahrung  anwendbar  sind  — dieser  Nachweis  ist  ein 
anderer  Ausdruck  dessen,  was  wir  behaupteten.  Alle 


172  Erster  Teil:  Prinzip.  Grundleg.  C.  Erkeniitnistheoret.  Konsequenzen. 


jene  Umsetzungen  haben  ursprünglich  nur  einen  prakti- 
schen Zweck.  Die  Kategorien  sind  nichts  als  bequeme 
Hilfsmittel,  um  die  Empfindung massen  zu  be- 
wältigen: weiter  haben  sie  ursprünglich  keinen  Zweck. 
Sie  sind  entstanden  aus  diesem  praktischen  Bedürfnis,  und 
die  Zahl  und  spezielle  Art  derselben  war  bestimmt  durch 
die  verschiedenen  Äußerungsformen  des  Seienden,  denen 
sich  die  Psyche  mit  diesen  Formen  anpaßte  — aber  oft 
recht  äußerlich. 

Begreifen  ist  ein  aus  der  empirischen  Umsetzung  der 
Empfindung  in  Kategorien  uns  wohlbekanntes  Lustgefühl : 
es  ist  ganz  sinnlos,  dieses  Lustgefühl  über  seine 
möglichen  Grenzenausdehnen  zu  wollen.  Wenn 
Begreifen  faktisch  nur  in  dieser  Umsetzung  besteht, 
wenn  diese  Umsetzung  ein  Kreislauf  ist  — so  ist  es 
ganz  unsinnig,  über  diese  Umsetzung  selbst  hinauszu- 
gehen und  da  das  Lustgefühl  des  Begreifens  holen  zu 
wollen,  wo  eine  solche  Umsetzung  gar  nicht  mehr  statt- 
findet. Der  Wunsch,  die  Welt  zu  begreifen,  ist 
nicht  bloß  ein  unerfüllbarer,  er  ist  auch  ein 
törichter  Wunsch.  Der  psychische  Zustand  des  Be- 
greifens ist  uns  immer  nur  bekannt  geworden,  wenn  eine 
Einreihung,  eine  Einkleidung  in  die  Uniform  jener  Kate- 
gorien gelungen  war.  Dieses  Lustgefühl  also  weiter 
ausdehnen  zu  wollen,  die  Kategorien  selbst  begreifen 
zu  wollen,  ist  ein  törichter  Wunsch.  Die  Wissenschaft 
führt  eben  schließlich  nur  auf  unabänderliche  Sukzessio- 
nen und  Koexistenzen:  hier  ist  nichts  „Begreifliches“ 
mehr:  das  Wort  „Begreifen“  hat  hier  gar  keinen  Sinn 
mehr. 

Somit  ist  die  Welt  selbst  nicht  begreiflich,  nur  wißbar. 
Die  Philosophie  kann  nur  ein  Wissen  der  Welt,  nicht  ein  Bet- 
greifen derselben  hervorbringen,  imd  zwar  ein  Wissen  der  Welt 
in  ihrer  nackten  Reinheit,  mit  Zerstörung  aller  subjektiven  A'uf- 
fassungsformen  und  Zutaten  und  mit  der  bewußten  Erkenntnis 
der  Fiktionen  als  Fiktionen,  d.  h.  als  notwendiger,  brauchbarer, 
nützlicher  Hilfsbegriffe.  Die  Welt  als  Ganzes  „begreifen“  zu  wol- 
len, ist  ein  törichter  Wunsch:  töricht  nicht  in  dem  Sinn,  als  ob 
der  menschliche  Verstand  dazu  zu  unvollkommen  sei,  sondern  in 
dem  Sinn,  daß  jeder,  auc'h  ein  übermenschlicher  Geist 
die  letzten  für  uns  konstatierbaren  Wirklichkeiten  einfach  als 
Gegenstand  des  Wissens  hinnehmen  muß:  sie  noch  begreifen  zu 
wollen,  ist  ein  in  sich  widerspruchsvoller,  also  törichter,  kindlicher 


Die  Kategorien  als  analogische  Fiktionen. 


173 


Wunsch.  Die  Kategorien  besonders  Ursache  (ebenso  Zweck)  haben 
nur  eine  zweckmäßige  Verwendung  innerhalb  des  gegebenen  Emp- 
findungsmaterials; auf  das  Ganze  desselben  angewendet,  ver- 
lieren sie  jeden  praktischen,  so  auch  jeden  theoretischen  Wert,  und 
erzeugen  nur  Scheinprobleme,  wie  z.  B.  die  Frage  nach  der  Ursache 
oder  auch  nach  dem  Zweck  des  Weltgeschehens. 

Diese  Betrachtungsweise  des  Denkens  und  der  logi- 
schen Arbeit  allein  ist  geeignet,  die  Stellung  derselben 
richtig  zu  beurteilen.  Indem  die  logischen  Produkte  eben 
nur  'als  Mittel  zu  einem  praktischen  Zweck  betrachtet 
werden,  sinkt  die  abgöttische  Bewunderung  der  logischen 
Formen  sehr  herab;  die  logischen  Produkte  erscheinen 
uns  nicht  mehr  als  Offenbarungen  des  Wirk- 
licihen,  sondern  rein  als  mechanische  Hilfs- 
mittel des  Denkens,  um  sich  vorwärts  zu  bewegen, 
um  seine  praktischen  Zwecke  zu  erreichen.  Und  indem 
wir  somit  die  logischen  Funktionen  und  Produkte  als 
bloße  Mittel  betrachten,  bahnt  dies  uns  den  Weg,  sie 
als  Fiktionen  aufzufassen,  d.  h.  als  D enkbildungen , 
als  Denkgebilde,  welche  von  der  Wirklichkeit  ab- 
weichend und  ihr  sogar  widersprechend,  doch  von  dem^ 
Denken  erfunden  und  eingeschoben  werden, 
um  seine  Zwecke  rascher  zu  erreichen. 


Kapitel  XXXVIII. 

Die  Kategorien  als  analogische  Fiktionen. 

Es  ist  nun  hier  hervorzuheben,  daß  solcher  Kategorien 
unbestimmt  viele  denkbar  sind;  man  kann  wohl  sagen, 
daß  ursprünglich  die  Psyche  eine  viel  reichere 
Kategorientafel  besaß  als  heutzutage,  und  daß 
die  heutige  Kat  eg  o r i en  t af  e 1 nur  das  Produkt 
einer  natürlichen  Selektion  und  Anpassung 
ist.  Es  lassen  sich  solche  Spuren  ehemaliger  Kategorien 
in  allen  Sprachen  nachweisen;  und  die  heutigen  Kate- 
gorien weisen  ja  auch  ganz  deutlich  auf  ihren  Ursprung 
hin.  Es  sind  kurzweg  Analogien;  a priori  sind  aber 
sehr  viele  Analogien  möglich,  und  solche  wurden  histo- 
risch auch  angewandt.  Die  Kategorien  sind  nichts  als 


17'f  Erster  Toil:  IM  irizip.  Grunfllcg.  C.  Erkenn.tnisttieoret.  Konseqnenzon. 


Analogien,  nach  denen  die  objektiv  geschehenden  Vorgäage 
erfaßt  werden. 

Die  Kategorien  sind  also  keineswegs  ein  angeborener 
Besitz  der  Seele,  sondern  sie  sind  im  Lauf  der  Zeit  an- 
gewandte und  ausgewählte  Analogien,  nach  denen  die 
Geschehnisse  erfaßt  werden.  Woher  die  Analogien  ge- 
nommen Avurden,  ist  nicht  schwer  zu  erraten;  aus  der 
inneren  Erfahrung.  Das  Ding  und  seine  Eigen- 
schaft — ist  der  abstrakte  Ausdruck  des  primitivsten 
Eigentumsverhältnisses;  die  Seinsverhältnisse  werden  be- 
trachtet, als  ob  sie  Dinge  wären,  welche  als  „Eigen- 
tum“ diese  oder  jene  „Eigenschaft“  hätten.  Es  ist  Sache 
der  Etymologie,  dies  weiter  nachzuweisen,  z.  B.  bei  dem 
Ganzen  und  seinen  Teilen,  dem  iVllgemeinen  und  dem 
Besonderen.  Höchst  wahrscheinlich  Avird  sich  dann  auch 
nacliAveisen  lassen,  daß  denselben  Kategorien  in 
verschiedenen  Sprachen  ganz  verschiedene 
Analogien  zugrunde  liegen.  Wir  müssen  also  die 
bisher  vorläufig  gemachte  Annahme,  daß  die  logische 
Funktion  diese  Formen  aus  sich  selbst  heraustreibe,  dahin 
modifizieren  und  restringieren : die  Empfindungsverhält- 
nisse legen  es  der  logischen  Funktion  nahe,  verschiedene 
Analogiebeziehungen  zu  denken.  Die  logische  Funktion 
macht  die  Entdeckung,  daß  die  Empfindungsmassen  sicli 
viel  leichter  übersehen  und  ordnen  lassen,  Avenn  dieselben 
nach  gewissen  Analogien  gedacht  Averden. 

Daraus  ergeben  sich  nun  verschiedene  Avichtige  Folge- 
rungen. Unsere  obige  Ansicht,  daß  die  Fiktionen  keinen 
theoretischen  ErkenntnisAvert  haben,  ist  bestätigt.  Alle 
diese  Kategorien  sind  Analogien,  sind  AuAvendungen  eines 
zAvar  analogen,  aber  doch  schließlich  unpassenden  Ver- 
hältnisses auf  die  objektiven  Verhältnisse;  und  solche 
iVnalogien,  bei  denen  die  Erfahrungskomplexe  so 
betrachtet  Averden,  als  ob  sich  das  Sein  ähn- 
lich A^er halte,  sind  reine  Fiktionen.  Es  Avird 
alles  Geschehen  nach  diesen  Analogien  gefaßt,  Avelche  sich 
immer  mehr  verfeinern,  und  zu  abstrakten  Begriffen  ver- 
flüchtigen, welche  immer  mehr  mit  Recht  als  analogi- 
sche Fiktionen  erkannt  Averden.  Demnach,  AA^enn  die 
Kategorien  keinen  theoretischen  Wert  haben,  sondern  nur 
praktischen  — zur  Ordnung,  Mitteilung,  zum  Handeln  — , 


Die  Kategorien  als  analogische  Fiktionen. 


175 


SO  können  die  philosophischen  Weltsysteme  auch  keinen 
anderen  Wert  haben,  und  sie  haben  historisch  auch  niemals 
einen  anderen  gehabt.  Alles  dadurch  erreichte  Begreifen 
war  nur  psychische  Illusion.  Die  Fiktionen  haben 
aber  faktisch  keinen  anderen  als  praktischen  Zweck,  und 
alle  auf  diese  elementaren  Fiktionen  auf  gebauten  Systeme 
sind nurfeinereausgebildetereFiktionen,  denen 
niemals  ein  theoretischer  Wert  zuzuschreiben  ist,  welche 
aber  alle  jene  Merkmale  an  sich  tragen,  die  wir  bis  jetzt 
an  den  Fiktionen  kennengelemt  haben:  sie  sind  theore- 
tisch wertlos,  aber  praktiscii  wichtig. 

Alle  Philosophie,  welche  mit  den  Kategorien  oder  mit 
einer  derselben  unbefangen  operiert,  ist  Dogmatismus. 
Skeptizismus  ist  die  Entdeckung,  daß  damit  nichts 
erreiclit  wird,  und  die  sich  auf  alles  Erkennen  erstreckende 
Verzweiflung,  welche  sich  dann  auch  auf  die  praktischen 
Zwecke  des  Denkens  ausdehnt  und  auch  diese  ganz  will- 
kürlich als  unerreichte  hinstellt.  Es  ist  aber  von  dem 
liieoretisciien  Zweck  zu  unterscheiden  der  praktische 
Zweck  der  logischen  Funktionen;  sobald  sich  der  Zweifel 
auf  diese  erstreckt,  ist  der  Skeptizismus  unberechtigt;  also 
an  dem  Zweck,  den  die  allgemeine  Anwendung  der  Kausa- 
litätskategorie erfüllt  — Ordnung  zu  schaffen,  darf  nicht 
gezweifen  werden;  der  Zweifel  aber  ist  insofern  berech- 
tigt, als  es  sich  herausstellt,  daß  durch  diese  Kategorien 
eben  nichts  erkannt  ist,  daß  sie  nur  Analogien  sind,  mit 
denen  schließlich  nichts  Rechtes  gesagt  wird.  Der  Kri- 
tizismus sieht  die  Ursachen  davon,  indem  er  eben  die 
Kategorien  als  bloße  Analogien  durchschaut,  als  von 
dem  Denken  erfundene,  aufgestellte  Fiktio- 
nen, um  die  Empfindungsmassen  zu  ordnen  und  sich  die 
Illusion  des  Begreifens  und  Erklärens  zu  ver- 
schaffen. Der  Kritizismus  weist  ferner  nach,  daß  diese 
Analogien  selbst  aber  unbegreiflich  und  schließlich  schon 
aus  viel  zu  komplizierten  Gebieten  gegriffen  sind.  Selbst 
die  brauchbarste  Analogie,  die  Kausalitätskategorie,  welche 
sich  allein  aus  dem  Ruin  bis  heute  in  die  Wissenschaft 
hinübergerettet  hat,  entstammt  einem  viel  zu  hohen  Ge- 
biet, um  schon  als  Erklärung  dienen  zu  können:  sie  ent- 
stammt dem  Gebiet  der  inneren  Erfahrung,  des  Han- 
delns — dies  aber  ist  das  Produkt  einer  äußerst  kom- 


176  Erster  Teil:  Prinzip,  ürundleg,  C.  Erkeiintiiistheoret.  KonsequenzfMi. 

plizierten  Wesens.  Wir  gebrauchen  denn  auch  bekannt- 
lich heutzutage  die  Ausdrücke  nur  symbolisch,  um  eben 
bloß  ein  unabänderliches  Sukzessionsverhältnis  damit  zu 
bezeichnen.  Beobachtet  sind  einzig  und  allein  die 
unabänderlichen  Sukzessionen  und  Koexistenzen,  welche 
wir  als  Kausalitäts-  und  Inhärenzverhältnis  apperzipieren, 
ohne  damit  mehr  zu  tun,  als  die  Sache  in  einer  ande- 
ren Sprache  zu  wiederholen.  Die  Sache  scheint  uns  nun 
begreiflicher;  nur  der  simple  Dogmatiker  läßt  sich  heut- 
zutage dadurch  täuschen.  Das  Denken  gebraucht  alle 
diese  Kunstgriffe,  um  seine  praktischen  Zwecke  zu  er- 
reichen. Einer  dieser  Zwecke  ist  auch  eben  die  Lust  des 
„Begreifens“.  Jahrtausendelang  begnügt  sich  der  Mensch 
damit  und  fühlt  eine  große  Lust  bei  diesen  unschuldigen 
Subsumtionen,  ganz  so  wie  ein  Kind  vor  Freude  daiei 
auf  jauchzend. 

Der  Erwachsene  läßt  sich  aber  dadurch  nicht  befriedi- 
gen oder  sollte  sich  wenigstens  dadurch  nicht  befriedigen 
lassen,  wie  das  Kind  und  der  Kindliche.  Der  Mensch 
merkt  immer  mehr,  daß  das  „Begreifen“  eine  Illusion, 
daß  das  Leben  und  Handeln  auf  Illusionen  beruht  und 
auf  solche  führt.  Er  fühlt  sich  als  der  Gefoppte  und  wird 
verstimmt.  Dies  ist  der  Ursprung  des  Pessimismus. 
Die  Psyche  fühlt  sich  durch  das  Erreichte  in  jeder  Hin- 
sicht unbefriedigt,  weder  die  Zwecke  des  Handelns,  noch 
die  des  Denkens  scheinen  ihr  erreicht.  Aber  sie  sind 
erreicht,  soweit  sie  überhaupt  berechtigte  Zwecke  sind. 
Der  Pessimismus  entspringt  aus  einer  idealistischen  Über- 
spannung der  Ansprüche. 

Also  aller  Dogmatismus  besteht  darin,  mit  jenen  Kate- 
gorien zu  hantieren  und  dabei  zu  glauben,  dadurch  etwas 
erreicht  zu  haben.  Kant  hat  ein  für  allemal  nachgewiesen, 
daß  darin  der  Dogmatismus  bestehe. 

Nur  in  einem  hat  Kant  sehr  gefehlt;  er  glaubt,  es  gebe 
eine  prädestinierte  Anzahl  von  Kategorien. 
Wenn  die  Kategorien  auf  die  von  uns  angegebene  Weise 
entstanden  sind  — nämlich  als  besonders  prominente 
Analogien,  nach  denen  die  verschiedenen  Sukzessionen  am 
passendsten  gedacht  werden,  so  liegt  auf  der  Hand,  daß 
solcher  Analogien  eine  unbestimmte  Anzahl  möglich  ist. 
Durch  eine  natürliche  Selektion  haben  sich  nun  diejeni- 


Praktische  Zweckmäßigkeit  der  kategorialen  Fiktionen.  177 

gen  erhalten,  welche  zu  jenem  Zweck  am  passendsten 
sind,  und  hier  ist  natürlich,  daß  keine  bestimmte  Anzahl 
sich  herausgearbeitet  hat,  sondern  im  Gegenteil,  daß  die 
Zahl  derseinen  schwankt,  und  daß,  während  manche  in 
voller  Aktion  stehen,  manche  andere  nur  noch  rudimentär 
erhalten  sind.  Der  eigentliche  Boden,  auf  dem  dies  nach- 
zuweisen ist,  ist  die  Sprache. 

Heutzutage  sind  nur  zwei  dieser  Kategorien  noch  in 
wirklicher  lebendiger  Anwendung:  einmal  Ding  und 
Eigenschaft,  sodann  Ursache  und  Wirkung.  Man 
geht  aber  immer  mehr  damit  um,  jene  erstere  ganz  zu 
eliminieren  und  alle  Eigenschaftsverhältnisse  auf  Kausali- 
tätsbeziehungen zu  reduzieren.  Allein  auch  diese  letztere 
Reduktion  wird  von  den  hervorragendsten  Geistern  nur 
noch  als  ein  Hilfsmittel  betrachtet,  um  uns  eine  sub- 
jektive Klarheit  zu  verschaffen  und  eine  gewisse  Ord- 
nung der  Phänomene  zu  ermöglichen.  Immer  mehr  drängt 
die  Wissenschaft  dahin,  alles  Geschehen  in  reine  mathe- 
matische Beziehungen  aufzulösen,  wodurch  zwar 
der  reine  Tatbestand  unverfälscht  zur  Darstellung  kommt, 
aber  natürlich  alles  das  aufhört,  was  wir  gewöhnlich 
„Begreifen“  nennen.  Das  Begreifen  ist  eben  eine  Sub- 
sumtion unter  die  Kategorien;  wo  diese  Subsumtion  auf- 
hört, hört  auch  die  Begreiflichkeit  in  gewöhnlichem 
Sinne  auf. 


Kapitel  XXXIX. 

Praktische  Zweckmäßigkeit  der  kategorialen 
Fiktionen. 

Nach  rein  „psychomechanischen“  Grundgesetzen  der 
Verbindung,  Verschmelzung,  Verflechtung,  Assoziation  usw. 
bildet  sich  im'  Fluß  der  Vorstellungen  sozusagen  ein 
Knotenpunkt:  also  z.  B.  die  Kategorie  des  Dinges  und 
seiner  Eigenschaft  — eine  Kategorie,  welche  ursprünglich 
auf  einer  ganz  sinnlichen  Analogie  beruht.  Diese 
Kategorie  wird  immer  mehr  verfeinert,  abstrakter  gemacht, 
bis  sie  sich  als  eine  ablösliche  Form  darstellt,  deren 
Genesis  aus  rein  sinnlichen  Verhältnissen  indessen  noch 
nachweisbar  ist.  Hier  haben  wir  nun  ein  eklatantes  Bei- 

Vaihinger,  Philosophie.  12 


178  Erster  Teil:  Prinzip.  Grundleg.  C.  Erkenntnistheoret.  Konsequenzen. 

spiel  der  instinktiven,  unbewußten  Zwecktätig- 
keit  der  Psyche.  Wir  können  von  dem  ausgehen,  was 
dadurch  erreicht  ist,  und  nachweisen,  wie  die  Psyche 
diesen  Zweck  erreicht  hat,  obgleich  wir  diese  teleologische 
Ableitung  nur  heuristisch  gelten  lassen.  Es  ist  eine 
Möglichkeit  damit  gegeben,  in  dem  wilden  Wirrwarr  ein- 
dringender Empfindungen  Ordnung  zu  schaffen  und  eine 
wenn  auch  oberflächliche  Rubrizierung  zu  gewinnen. 
Daß  diese  aber  nur  eine  künstliche  und  provisorische  ist, 
springt  in  die  Augen:  denn  die  fortgeschrittene  Wissen- 
schaft hat  ja  vollauf  damit  zu  tun,  diese  vorläufige  Ein- 
teilung des  Seins  und  Geschehens  wieder  aufzulösen  und 
durch  ganz  andere  Bestimmungen  zu  ersetzen.  Zweitens 
wird  dadurch  die  Möglichkeit  der  Mitteilung  erreicht. 
Wir  setzen  hier  die  Entstehung  der  Sprache  voraus  und 
bemerken  nur  dies,  daß  die  Mitteilung  eines  Vorganges 
oder  eines  Eindruckes  in  verständlicher  Weise  nur  mög- 
lich war  durch  diese  Bildung  einiger  weniger  Kategorien; 
indem  das  Geschehende  und  Seiende  in  dieselben  gebracht 
wird,  gibt  der  Mitteilende  eine  dem  Anderen  bekannte 
Analogie  an,  welche  sofort  in  ihm  eine  Vorstellung  von 
dem  erweckt,  was  der  Mitteilende  zu  sagen  hat.  Das  hängt 
mit  dem  dritten  Punkte  zusammen,  daß  nämlich  dadurch 
ein  Begreifen  erzeugt  wird,  d.  h.  in  unserer  Auffassung 
ein  Schein  des  Begreifens,  indem  das  Geschehende 
und  Seiende  nach  einer  bekannten  Analogie  gedacht 
wird.  Der  ungeheure  Druck  der  eindringenden  Emp- 
findungen wird  dadurch  gemildert,  und  die  Spannung 
dieser  Eindrücke  gehoben,  indem  dieselben  Provinzen 
abgeteilt  werden.  Ich  bemerke  hier  gleich,  daß  dies 
in  extenso  nur  möglich  war  durch  die  Sprache:  an 
das  Wort  knüpft  sich  die  Kategorie  an,  das  Wort  wird 
abstrakter  und  verliert  die  sinnliche  Färbung.  Darum 
wirkt  die  Sprache  befreiend  und  lösend  auf  die 
Psyche,  weil  eben  nur  durch  sie  jene  Einteilung  des 
Seienden  in  die  Kategorien  möglich  ist.  Endlich  war  aber 
auch  dadurch  die  Berechnung  des  Handelns  mög- 
lich. Die  Psyche  steht  dem  Fluß  des  Seienden  und 
Geschehenden  nicht  mehr  hilflos  und  passiv  gegenüber, 
sie  ist  nicht  bloß  auf  Reflexwirkungen  angewiesen,  son- 
dern indem  sich  die  Bilder  auf  jene  Weise  ordnen  und 


Praktische  ZM^eckmäßigkeit  der  kategorialen  Fiktionen.  179 

nach  Kategorien  verteilen,  kann  die  Psyche  deren  Wieder- 
eintritt berechnen  und  danach  ihr  eigenes  Handeln  ein- 
richten. Diese  Möglichkeit  beruht  aber  wesentlich  auf 
der  Möglichkeit  der  Erinnerung,  und  diese  selbst 
ist  in  hohem  Grade  erleichtert  durch  jene  Rubrizierung 
des  Seienden  unter  jene  willkürlichen  Kategorien. 

Jene  Kategorien  sind  keine  Formen,  denen  etwas  Ob- 
jektives entspräche;  es  sind  Verbindungen  des  Denkens, 
die  wohl  auf  Anlaß  objektiver  Beziehungsverhältnisse 
gebildet  sind,  die  aber  rein  subjektiven  Ursprungs  sind 
und  absolut  keinen  wirklichen  Erkenntniswert  besitzen. 
Diese  Rubrizierung  der  Geschehnisse  unter  die  Kate- 
gorien gehört  zu  jenen  Umwegen,  die  der  Wahrheit 
selbst  gleichgültig,  aber  dem  sie  Suchenden 
unvermeidlich  sind  (Lotze). 

Diese  so  gebildete  Vorstellungswelt  ermöglicht  immer 
mehr  das  Handeln:  es  ist  aber  wohl  zu  bemerken,  daß 
jene  Vorstellungsgebilde:  Ding,  Eigenschaft,  Ursache, 
Wirkung  — ganz  wegfallen,  vreim  der  Zweck  erreicht 
ist.  Mit  Hilfe  derselben  war  das  Handeln  erleichtert, 
die  Berechnung  ermöglicht:  allein  weim  die  gewünschten 
Empfindungen  eingetreten  sind,  so  verlieren  jene  be- 
grifflichen Formen  jeden  Wert.  Der  Mensch'  will  nicht 
„Dinge“  haben,  sondern  er  will  den  Eintritt  gewisser 
Empfindungen.  Die  Fiktionen  fallen,  wenn  sie  auch 
theoretisch  in  uns  haften  bleiben,  doch  für  die  Praxis 
und  in  der  Praxis  heraus,  wenn  einmal  das  gewünschte 
Resultat  erreicht  ist.  Nun  läßt  sich  aber  nicht  leugnen, 
daß  das  Denken  dies  praktische  Resultat  nur  auf  Kosten 
seiner  logischen  Reinheit  erreicht  hat;  die  logische 
Funktion  — diese  besteht  eben  in  jenen  Prozessen  — 
scheute  die  dadurch  begangenen  Fehler  und  Wider- 
sprüche nicht. 

Somit  bewegt  sich  das  Denken  durch  Widersprüche 
vorwärts,  eine  Beobachtung,  die  wir  schon  mehrfach 
gemacht  haben.  Die  Vorstellungsgebilde  beharren  in  der 
Seele,  auch  wenn  ihr  Zweck  erreicht  ist;  auch  wenn  ver- 
mittelst dieser  logischen  Prozesse  die  praktischen  Zwecke 
erreicht  sind,  bleiben  jene  Formen  als  Residuen 
und  Hüllen  zurück.  Diese  Formen  bildeten  den  Gegen- 
stand der  Philosophie,  bis  die  Erkenntnislheorie  sie  als 


180  Erster  Teil:  Prin2ip.  Grundleg.  C.  Erkenntnistheoret.  Konsequenzen. 


bloße  Formen  fiktiven  Ursprungs  und  Wertes  nach- 
wies. 

Logisch  betrachtet  sind  diese  psychischen  Gebilde  Fik- 
tionen: sie  sind  keine  Hypothesen  über  die  Beschaffen- 
heit des  Seins.  Sie  wurden  freilich  von  vielen  Philo- 
sophen dafür  gehalten,  his  die  darin  enthaltenen  Wider- 
sprüche zeigten,  daß  diesen  Formen  nichts  Objektives 
entspreche.  Für  den  Kritizismus  sind  sie  nur  Fik- 
tionen: d.  h.  Hilfsbegriffe,  Hilfsvorstellungen. 


Zweiter  Teil. 

Spezielle  Ausführungen. 

§ 1. 

Die  künstliche  Einteilung. 

Als  eine  der  wichtigsten  und  fruchtbarsten  fiktiven 
Methoden  ist  die  künstliche  Einteilung  zu  Be- 
trachten. Dieser  scharfsinnige  Kunstgriff^  durch  den  un- 
ühersteigbare  Hindernisse  wenigstens  für  einige  Zeit  ganz 
beseitigt  werden,  und  welcher  die  Überwindung  dieser 
Hindernisse  bedeutend  vorbereitet,  ist  auch  einer  der  am 
häufigsten  eingeschlagenen  Umwege  des  Denkens.  Die 
künstiiche  Klassifikation  vertritt  die  Stelle  der  natür- 
lichen, da,  wo  diese  selbst  wegen  besonderer  Schwierig- 
keiten nicht  möglich  ist;  ja,  wo  eine  solche  sogar  an 
sich  unmöglich  ist,  wird  ein  Gebiet  von  Phänomenen 
doch  durch  eine  künstliche  Klassifikation  zu  praktischen 
Zwecken  ein  geteilt. 

Das  botanische  System  Linnes  ist  das  berühmteste  Bei- 
spiel für  diese  fiktive  Methode.  Es  nimmt  die  Anzahl 
der  Staubfäden  und  Stempel  zum  Einteilungsgrund.  Nach 
diesen  Blütenteilen  wurden  die  Klassen  und  Ordnungen 
gebildet;  aber  auf  diese  Weise  kamen  teilweise  Organis- 
men in  Eine  Art  zusammen,  welche  nur  in  diesem  Merk- 
male, nicht  aber  in  allen  w^entlichen  und  unveränder- 
lichen Merkmalen  übereinstimmen.  Da,  wo  der  ganze 
Organisationsplan  ein  derartiger  war,  daß  jene  Bestand- 
teile nach  seinen  spezifischen  Eigenschaften  sich  modi- 
fizierten, fand  sich  freilich  das  Verwandte  zusammen. 
Wo  das  nicht  der  Fall  war,  wurde  Heterogenes  (Eiche 
und  Veilchen)  verbunden  und  in  eine  befremdliche  Nach- 
barschaft aneinander  gerückt,  und  homogene  Pflanzen  an 
'entlegene  Stellen  des  Systems  auseinandergerissen,  bloß 
.weil  sie  in  dem  einen,  der  Einteilung  zugrunde  gelegten 


182 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführmigeii. 


Organe  voneinander  abweichen.  In  diesen  Fällen  sind 
die  dijferentiae,  welche  Modifikationen  des  gewählten 
Einteilungsgrundes  X sind,  eben  nicht  die  wahrhaft  be- 
stimmenden und  artbildenden,  und  anstatt  daß  diejenigen 
Individuen  zusammengestellt  werden,  welche  in  der 
Totalform  ihres  Zusammenhangs  ähnlich  sind,  werden 
solche  verbunden,  welche  nur  eine  beschränkte  Merkmal- 
gruppe teilen.  Die  Lagenbeziehungen  der  Arten  ent- 
sprechen nicht  den  eigenen  Verwandtschaften  derselben. 
Allein  nichtsdestoweniger  gewährt  dieses  System  von 
24  Klassen  und  117  Ordnungen  doch  einen  großen  Vor- 
teil, nämlich,  daß  sich  die  Pflanzen  nach  diesen  unschwer 
aufzufindenden  Merkmalen  leicht  bestimmen  lassen. 

Ebenso  künstlich  sind  die  Einteilungen  der  Pflanzen 
nach  der  Farbe  der  Blüten,  den  Zacken  der  Blätter  usw. 

Auch  die  Einteilung  von  Jussieu  und  Tournefort 
sind  teilweise  auf  einzelne  Organe  (Staubbehälter, 
Blumenkrone),  statt  auf  die  erforderlichen  Eigenschaften 
des  Gesamtbaues  gegründet;  erst  D ec  and  olle.  End- 
licher u.  A.  haben  den  inneren  anatomischen  Bau,  das 
Wachstum  usw.  der  systematischen  Anordnung  zugrunde 
gelegt. 

Ähnlich  ist  es  in  allen  anderen  Naturgebieten.  Die  künst- 
lichen Systeme  in  der  Mineralogie  waren  und  sind  auf 
mehr  oder  weniger  willkürlich  herausgegriffene  äußere 
Kennzeichen  gegründet.  Und  so  lange  das  auf  die  che- 
mische Konstitution  usw.  zu  gründende  natürliche  System 
nicht  auf  gestellt  ist,  hat  eine  solche  künstliche  Einteilmig 
einen  vorzüglich  praktischen  Wert.  Die  Einteilmig  der 
Tiere  nach  Zehen  und  Klauen  (von  Aristoteles)  oder  die 
nach  den  Zähnen  (von  Linne)  sind  weitere  Beispiele. 

In  vielen  Gebieten  sind  ’s^^ir  gezwungen,  vorläufig  oder 
sogar  definitiv  auf  eine  natürliche  Einteilung  zu  ver- 
zichten und,  wie  das  Taine  bei  Gelegenheit  seiner  Klassi- 
fikation der  Sensationen  ausdrückt,  uns  mit  einer  Art 
von  revue  zu  begnügen  und  „un  casier  commode  garni  de 
cases'^  zu  fabrizieren,  oü  Von  retrouve  aisement  ce  qu'on 
veut  considerer ; on  n'a  rien  fait  de  plus.  Solche  Hilfs- 
einteilungen, welche  ein  kunstreiches  Fachwerk  auf- 
stellen, dienen  eben  oft  nur  zur  leichteren  Registrierung 
und  Rubrizierung  der  Dinge. 


Die  künstliche  Einteilung. 


183 


Was  nun  die  Frage  betrifft,  inwieweit  diese  Klassifi- 
kationen mit  dem  Bewußtsein  ihrer  Künstlichkeit  auf- 
gestellt wurden,  so  ist  wenigstens  seit  Liane,  der  die 
arbiträre  Natur  seiner  Einteilung  wohl  kamite,  der  Unter- 
schied der  natürlichen  und  künstlichen  Einteilung  all- 
gemein bekannt,  und  da  die  Methodologie  seitdem  diesen 
Punkt  zum  Gegenstand  von  Untersuchungen  gemacht  hat, 
so  wurden  solche  Einteilungen  meistens  eben  nur  als 
künstliche  sogleich  von  vornherein  aufgestellt.  In  anderen 
Fällen  wurden  dagegen  solche  unnatürlichen  Klassifi- 
kationen zuerst  für  "Hypothesen  angenommen,  d.  h.  man 
glaubte  das  natürliche  System  gefunden  zu  haben,  bis 
sich  zeigte,  daß  auch  nur  eine  unwirkliche  Einteilmig 
vorlag.  Ist  eine  solche  Hypothese  für  falsch  erkarmt,  so 
kann  sie  doch  noch  als  Fiktion  gute  Dienste  leisten. 

Kant  hat  bei  seinen  Versuchen  über  die  Menschen- 
rassen seine  Aufmerksamkeit  diesem  Gegenstände  zu- 
gewandt und  in  der  Abhandlung : „Über  den  Gebrauch 
teleologischer  Prinzipien  in  der  Philosophie“  den  Unter- 
schied zwischen  Naturgattungen  und  Schulgattungen  ge- 
macht. Jene  nennt  er  species  naturales,  diese  species 
artifieiales.  „Die  Schul  einteilung  geht  auf  Klassen, 
welche  nach  Ähnlichkeiten,  die  Natureinteilung  aber  auf 
Stämme,  welche  die  Tiere  nach  Verwandtschaften  in 
Ansehung  der  Erzeugung  einteilt.  Jene  verschafft  ein 
Schulsystem  für  das  Gedächtnis,  diese  ein  Natursystem 
für  den  Verstand;  die  erstere  hat  nur  zur  Absicht,  die 
Geschöpfe  unter  Titel,  die  zweite  aber,  sie  unter  Gesetze 
zu  bringen.“  Er  warnt  davor,  jene  rein  äußerlichen  Ähn- 
lichkeiten der  Charaktere  mirnittelbar  für  eine  Anzeige 
der  Ähnlichkeit  der  Kräfte  zu  halten,  und  so  die  Un- 
vorsichtigkeit zu  begehen,  die  „Ideen  in  die  Beobachtung 
selbst  hineinzutragen“,  und  die  „bloß  logische  Absonde- 
rung, welche  die  Vernunft  unter  ihren  Begriffen  zum  Be- 
hüte der  bloßen  V^ergleichung  macht,  mit  der  physischen 
Absonderung  zu  \ eiwechseln,  welche  die  Natur  selbst 
unter  ihren  Gesetzen  in  Ansehung  ihrer  Erzeugung 
macht.“  Die  natürliche  Einteilung  ist  auf  die  „gemein- 
schaftliche Ursache“  zu  begründen,  welche  demselben 
Wesenkreise  zugrunde  liegt,  sie  ist  Sache  der  Natur- 
geschichte; die  künstliche  oder  Schuleinteihing  beruht 


184 


Zweiter  Teil : Spezielle  Ausführungen. 


nur  auf  der  Vergleichung  äußerer  Merkmale  und  ist  Sache 
der  Naturbeschreibung  usw. 

Noch  sei  Ampere  erwähnt,  welcher  sich  über  diesen 
Punkt  dahin  äußert,  daß  in  der  künstlichen  Einteilung 
einige  willkürlich  gewählte  Charaktere  dazu  dienen, 
um  den  Platz  jedes  Objektes- zu  bestimmen;  wir  ab- 
strahieren von  allen  anderen  Charakteren,  und  dadurch 
werden  die  Objekte  oft  in  der  bizarrsten  Weise  zu- 
sammengestellt oder  auseinandergerissen.  Im  natürlichen 
Klassifikationssystem  dagegen  legen  wir  alle  es  ent- 
liehen Charaktere  zugrunde  und  bestimmen  die  Wich- 
tigkeit eines  jeden;  die  Resultate  werden  nur  dann  als 
gültig  anerkannt,  wenn  die  Objekte,  welche  die  größte 
Ähnlichkeit  zeigen,  auch  wirklich  in  dieselbe  Klasse 
gebracht  sind;  das  arrangement  le  plus  naturel,  sagt 
D’Alembert,  „serait  celui  oü  les  ohjets  se  succederaient 
par  les  nuances  insensibles  qui  servent  tout  ä la  fois 
ä les  separer  et  ä les  unir'\ 

Künstliche  Systeme  sind  somit  „einseitige  Systeme, 
weil  die  Einteilung  nur  von  einem  einseitigen  Merkmal 
ausgehend  kein  reales  Gegenbild  des  reichen  Ganzen 
geben  kann“.  Alle  solche  Einteilungen,  die  nur  nach 
äußerlichen,  vereinzelten,  abgeleiteten  und  zufälligen 
Merkmalen  gemacht  sind,  sind  ein  sehr  praktischer  Not- 
behelf des  Denkens,  um  vorläufige  Übersicht  zu  ge- 
winnen. Und  häufig  sind  diese  nach'  dem  Stande  des 
Wissens  die  einzig  möglichen  und  sogar  die  einzig  prak- 
tisch brauchbaren. 

Man  reüssiert  nicht  immer,  sagt  Taine,  mit  dem  Triebe 
der  Einteilung:  plusieurs  de  vos  demarcations  denieurent 
artificielles  et  ne  sont  que  commodes. 

Bei  der  künstlichen  Einteilung  muß  eine  Korrektur 
eintreten,  entweder  nur  ideell,  daß  man  sich  eben  bewußt 
ist,  daß  man  eben  nicht  die  Wirklichkeit  getroffen  hat, 
oder  in  einzelnen  Fällen  reell,  indem  man  die  sich  aus 
der  künstlichen  und  gezwungenen  Einteilung  ergebenden 
Inkonsequenzen,  welche  ein  beherzigenswertes  Merkmal 
der  Fiktiv! tät  des  ganzen  Prozesses  sind,  durch  eine  In- 
konsequenz des  Systems  wieder  gut  macht;  den  streng 
methodischen  Regeln  zürn  Trotz  wird  dann  etwa  derselbe 
Einteilungsgrund  nicht  in  allen  Abteilungen  festgehaitem 


Weitere  künstliche ' Teilungen. 


186 


und  anstatt  der  schroffen  Durchführung  des  Prinzips 
kommen  die  empirischen  Ähnlichkeiten  zu  ihrem  Rechte. 
Außerdem  aber  haben  gerade  diese  Unzuträglichkeiten 
ihren  guten  heuristischen  Wert,  demi  wenn  die  künst- 
liche Einteilung  Arten  bildet,  in  denen  Heterogenes  zu- 
sammengestellt ist,  die  also  streng  genomen  auch  un- 
möglich, imaginär  sind,  werden  diese  Widersprüche  mit  der 
Whklichkeit  zu  einer  genauen  Untersuchung  anregen,  und 
die  bewußte  Abweichung  von  der  Wirklichkeit,  das  Un- 
wirkliche und  Unmögliche  dient  dann  zum  Vehikel,  um  die 
Wirklichkeit  zu  finden. 


§ 2. 

Weitere  künstliche  Teilungen. 

Man  kann  nicht  leugnen,  daß  es  viele  Fälle  gibt,  wo 
wir  willkürlich  Einschnitte  in  die  objektive  Natur  gemacht 
haben,  ohne  daß  wir  eine  hinlängliche  Berechtigung  dazu 
hätten.  So  z.B.  stehen  in  unserer  gewöhnlichen  Anschau- 
ung das  Tier  der  Pflanze,  das  Organische  dem  Unorgani- 
schen, das  Lebendige  dem  Toten  mit  großer  Bestimmt- 
heit und  schroff  gegenüber;  und  doch  verlaufen  bei 
genauer  Untersuchung  jene  Unterschiede  ineinander,  so 
daß  eine  Trennung  unmöglich  wird ; Beweis : die  vielen 
Grenzfälle,  bei  denen  die  Wissenschaft  zweifelt,  welchem 
Gebiet  sie  zuzuzählen  sind.  Zwischen  Tier  und  Pflanze, 
zwischen  Unorganischem  und  Organischem  gibt  es  Mittel- 
formen, welche  die  alten  Teilungen  zersprengen,  so  daß 
sie  nur  aus  Bequemlichkeit  beibehalten  werden  können. 
Alle  diese  Grenzstreitigkeiten  müssen  uns  daran  erinnern, 
daß  rncht  die  Natur  es  ist,  welche  jene  Abschnitte  und 
Linien  gezogen  hat,  sondern  daß  sie  nur  unserer  be- 
schränkten Auffassung  angehören.  Sobald  man  aus 
diesen  fingierten  Grenzen  wirkliche  Grenzen  macht,  dann 
ergeben  sich  jene  Streitigkeiten,  ob  eine  Form  diesem 
oder  jenem  Gebiete  zuzuzählen  sei,  dann  ergeben  sich 
jene  bekannten  Widersprüche,  welche  bei  allen  Eintei- 
lungen der  Objekte  wiederkehren,  sobald  man  nicht  zwi- 
schen dem  Faktischen  und  dem  Fiktiven  zu  trennen 
weiß.  Fast  die  meisten  Gruppen,  in  welche  wir  die 


186 


Zweiter  Teil : Spezielle  Ausführungen. 


Dinge  zusammenfassen,  indem  wir  sie  zugleich  von  ande- 
ren Gruppen  trennen  und  unterscheiden,  sind  von  der  fort- 
geschrittenen Wissenschaft  als  unberechtigt  nachgewiesen 
worden,  und  man  behält  sie  nur  noch  aus  Bequemlichkeit 
bei,  um  ihres  praktischen  Nutzens,  nicht  um  ihres  theoreti- 
schen Wertes  willen.  So  ist  es  z.B.  mit  der  Gruppe  „Metall“; 
während  man  früher  fest  daran  glaubte,  damit  eine  ganz  be- 
stimmte natürliche  Gruppe  der  Naturelemente  zu  bezeichnen, 
wird  der  Begriff  in  der  strengen  Wissenschaft  nur  noch  als 
ein  bequemer  Übersichtsname  beibehalten;  denn  neue  Er- 
scheinungen, welche  nach  dem  einen  Teil  ihrer  Merkmale 
unter  jene  Gruppe  zu  rechnen  waren,  widerstreben  mit 
einem  anderen  Teil  ihrer  Eigenschaften  dem  hergebrach- 
ten Begriffe,  und  es  zeigt  sich,  daß  die  Natur  selbst 
eine  solche  Einteilung  gar  nicht  kennt.  Kein  Merkmal 
hält  Stich  und  ist  durchgreifend,  Aveder  Schwere,  noch 
Härtegrad,  noch  Schmiedbarkeit  oder  Dehnbarkeil,  nocli 
Undurchsichtigkeit;  ja  sogar  die  Einfachheit  nichb  denn 
Berzelius  äußerte  bei  einem  entsprechenden  Falle,  daß 
es  kein  Widerspruch  wäre,  ein  „Metall“  zu  haben,  das 
kein  einfacher  Körper  wäre.  Man  kann  in  solchen  Fällen 
nie  vermeiden,  eine  willkürliche  Teilung  zu  machen  und 
Abschnitte  zu  treffen,  welche  die  Natur  selbst  nicht  ein- 
mal andeutet.  Die  Natur  hat  keine  Kasteneinteilung. 
Gerade  Berzelius  machte  in  bezug  auf  die  Erde,  Alkalien, 
Metalloxyde  usw.  darauf  aufmerksam  (Lehrbuch  I,  688), 
daß  alle  unsere  Einteilungen  nur  künstliche  seien,  daß 
man  keine  natürlichen  Grenzen  entdecken  könne.  Um 
auf  andere  Gebiete  überzugehen,  so  ist  z.  B.  der  Unter- 
schied von  Stoff  und  Kraft  der  neueren  Betrachtungs- 
weise so  schwankend  geworden,  daß  auch  hier  alle  Ab- 
grenzung nur  willkürlich  und  konventionell  ist.  Solche 
Teilungen  sind  Hilfsmittel  der  Wissenschaft,  aber  nicht 
AVissenschaft  selbst;  nur  die  untergeordneten  Arbeiter 
in  der  Wissenschaft  glauben  hier  absolutes  und  objek- 
tives Wissen  zu  haben;  die  eigentlichen  Forscher  sind 
sich  wohl  bewußt,  daß  solche  und  ähnliche  Bestimmun- 
gen nur  provisorische  Fiktionen  sind,  welche  nur  eine 
dienende  Rolle  als  Hilfsmittel  zu  spielen  haben.  Trotz 
ihrer  Ungenauigkeit  und  partiellen  Falschheit  leisten  sie 
der  Wissenschaft  doch  große  Vorteile. 


Adam  Smiths  nationalökoiiomische  Methode. 


187 


§3. 

Adam  Smiths  nationalökonomische  Methode. 

Adam  Smith  stellt  den  fiktiven  Satz  — es  ist,  als  ob 
alle  wirtschaftlichen,  geschäftlichen  Handlungen  nur  vom 
Egoismus  motiviert  wären  — als  ein  Axiom  an  die  Spitze 
seines  Systems  und  entwickelt  daraus  deduktiv,  mit  syste- 
matischer Notwendigkeit,  alle  Verhältnisse  und  Gesetze 
des  Handels  mid  Verkehrs  und  aller  Schwankungen  in 
diesen  komplizierten  Gebieten.  Bei  der  Wichtigkeit  des 
Gegenstandes  in  methodologischer,  aber  auch  in  materieller 
Hinsicht  mögen  über  diesen  Punkt  die  Stimmen  bedeu- 
tender Autoritäten  noch  hinzugefügt  werden.  Es  ist  der 
Punkt  um  so  interessanter,  als  sich  hier  gerade  um  die 
Frage,  ob  Smith  die  Annahme  hypothetisch  oder  fiktiv 
aufgestellt  habe  (wenn  auch  nicht  unter  diesen  Ter- 
minis,  doch  der  Sache  nach),  ein  heftiger  Streit  erhoben 
hat.  Aber  auch  abgesehen  von  dieser  historischen 
Frage  ist  die  Frage  an  sich  systematisch  von  größtem 
Interesse. 

Die  „Geschichte  des  Materialismus“  von  F.  A.  Lange, 
jenes  bewunderungswürdige  Werk,  das  ein  unvergäng- 
liches Denkmal  eines  reichen  und  reinen  Geistes  ist,  hat 
über  diese  Frage  einen  höchst  beherzigenswerten  Ab- 
schnitt, dessen  Gedanken  wir  hier  reproduzieren.  In 
dem  Kampf  gegen  die  „Dogmatik  des  Egoismus“  wird 
Lange  auf  Smith,  den  Begründer  der  modernen  National- 
ökonomie, geführt,  und  anstatt,  wie  so  viele  andere,  in 
unflätigen  Äußerungen  sich  über  diesen  großen  Geist  zu 
ergehen,  sucht  er  die  methodologischen  Grundlagen  des 
Gegenstandes  zu  untersuchen.  Es  ist  bekannt,  daß  Adam 
Smith,  der  schottische  Verfasser  der  Moralphilosophie, 
und  Freund  Humes,  außer  seiner  Inquiry  on  wealth  of 
nations  auch  ein  Werk:  Theory  of  moral  sentiments  ge- 
schrieben hat.  Man  hat  neuerdings  nachgewiesen,  daß 
der  Wealth  of  nations  strenggenommen  kein  selbstän- 
diges und  abgeschlossenes  Werk  war,  sondern  nur  der 
Teil  einer  vollständigen  Moralphilosophie.  Das  eine 
Werk  betrachtet  die  Menschen  vom  Standpunkt  des  Egois- 
mus aus,  das  andere  von  dem  der  Sympathie,  des  Wohl- 
wollens. Ebensowenig  als  Ökonomik  und  Politik,  wollte  er 


188 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Ethik  und  Ökonomik  absolut  trennen.  „Die  Trennung 
wurde  nur  in  der  Abstraktion  und  aus  methodi- 
schem Bedürfnis  von  ihm  vorgenommen.“ 

„In  der  Lehre  vom  NationaJireichtum,“  sagt  Lange 
(a.  a.  O.ll,  454),  „wird  das  Axiom  aufgestellt,  daß  Jeder, 
indem  er  seinem  eigenen  Vorteil  nacligeht,  zugleich  den 
Vorteil  des  Ganzen  befördert.  Die  Regierung  hat  weiter 
nichts  zu  tun,  als  diesem  Kampf  der  Interessen  möglichst 
Freiheit  zu  geben.  Von  diesen  Grundsätzen  ausgehend, 
brachte  er  das  Spiel  der  Interessen,  den  Marktverkehr 
von  Angebot  und  Nachfrage  auf  Regeln,  die  noch  heute 
ihre  Bedeutung  nicht  verloren  haben.  Ihm  war  immer- 
hin dieser  Markt  der  Interessen  nicht  das  ganze  Leben, 
sondern  nur  eine  wichtige  Seite  desselben.  Seine  Nach- 
folger jedoch  vergaßen  die  Kehrseite  und  verwechselten 
die  Regeln  des  Markts  mit  den  Regeln  des  Lebens,  ja 
mit  den  Grundsätzen  der  menschlichen  Natur.  Dieser 
Fehler  trug  übrigens  dazu  bei,  der  Volkswirtschaft  einen 
Anstrich  von  strenger  Wissenschaftlichkeit  zu 
geben,  indem  er  eine  bedeutende  Vereinfachung 
aller  Probleme  des  Verkehrs  mit  sich  brachte.  Diese 
Vereinfachung  besteht  nun  aber  darin,  daß  die  Menschen 
als  rein  egoistisch  gedacht  werden,  und  als  Wesen,  welche 
ihre  Sonderinteressen  mit  Vollkommenheit  wahrzunehmen 
wissen,  ohne  je  durch  anderweitige  Empfindungen  ge- 
hindert zu  werden.  In  der  Tat  wäre  nicht  das  mindeste 
dagegen  einzuwenden,  wenn  man  diese  Annahmen  offen 
und  ausdrücklichzu  dem  Zwecke  gemacht  hätte,  den 
Betrachtungen  über  den  gesellschaftlichen  Verkehr  durch 
Fingierung  eines  möglichst  einfachen  Falles 
eine  exakte  Form  zu  geben.  Denn  gerade  durch  die 
Abstraktion  von  der  vollen,  mannigfach  zu- 
sammengesetzten Wirklichkeit  sind  auch  andere 
Wissenschaften  dazu  gelangt,  den  Charakter  der 
Exaktheit  zu  erhalten  . . . Eine  relative  Wahrheit, 
ein  Satz,  der  nur  auf  Grund  einer  willkürlichen  Vor- 
aussetzung wahr  ist,  und  welcher  von  der  vollen 
Wirklichkeit  in  einem  sorgfältig  bestimmten 
Sinne  ab  weicht  — gerade  ein  solcher  Satz  ist  ungleich 
eher  fähig,  unsere  Einsicht  dauernd  zu  fördern,  als  ein 
Satz,  welcher  mit  einem  Schlage  dem  Wesen  der  Dinge 


Adam  Smiths  nalionalökoiiomische  Methode. 


189 


möglichst  nahe  zu  kommen  sucht,  und  dabei  eine  un- 
vermeidliche und  in  ihrer  Tragweite  unbekannte  Masse 
von  Irrtümem  mit  sich  schleppt.  Wie  die  Geometrie  mit 
ihren  einfachen  Linien,  Flächen  und  Körpern  uns  vor- 
wärts hilft,  obwohl  ihre  Linien  und  Flächen  in 
der  Natur  nicht  Vorkommen,  obwohl  die  Maße 
des  Wirklichen  fast  immer  inkommensurabel  sind,  so 
kann  auch  die  abstrakte  Volkswirtschaft  uns  vorwärts 
helfen,  obwohl  es  in  Wirklichkeit  keine  Wesen 
gibt,  welche  ausschließlich  dem  Antrieb  eines  be- 
rechnenden Egoismais,  und  zwar  diesem  mit  absoluter 
Beweglichkeit  folgen,  frei  von  allen  etwaigen  hemmenden 
Regungen  und  Einflüssen,  die  von  anderen  Eigenschaften 
herrüliren.  Freilich  ist  bei  der  Volkswirtschaft  die  Ab- 
straktion des  Egoismus  viel  stärker,  als  in  irgendeiner 
anderen  bisherigen  Wissenschaft,  da  sowohl  die  entgegen- 
stehenden Einflüsse  der  Trägheit  und  der  Gewohnheit, 
als  auch  diejenigen  der  Sympathie  und  des  Gemeinsinns 
höchst  bedeutend  sind.  Dennoch  darf  die  Abstraktion 
dreist  gewagt  werden,  solange  sie  als  solche  im 
Bewußtsein  bleibt.  Denn  wenn  erst  gefunden  wird, 
wie  jene  beweglichen  Atome  einer  dem  Egoismus 
huldigenden  Gesellschaft,  die  man  hypothetisch  an- 
nimmt, sich  der  Voraussetzung  gemäß  benehmen  müssen, 
so  wird  eben  damit  nicht  nur  eine  Fiktion  gewonnen 
sein,  die  in  sich  selbst  widerspruchslos  ist,  sondern  auch 
eine  genaue  Erkenntnis  einer  Seite  des  menschlichen 
Wesens  . . . Man  könnte  wenigstens  erkennen,  wie  der 
Mensch  sich  verhält,  insofern  die  Bedingungen  seines 
Handelns  jener  Voraussetzung  entsprechen,  wenn  dies 
auch  niemals  vollständig  der  Fall  sein  wird.“ 

In  diesem  Abschnitt  hat  Lange  mit  jener  methodologi- 
schen Klarheit,  welche  diesen  geistreichen  Kopf  überall 
auszeichnet,  das  Wesen  der  abstraktiven,  neglektiven 
Methode  wunderbar  charakterisiert  an  dem  Beispiel  der 
Volkswirtschaft.  Seinem  Herzen  macht  es  Ehre,  daß  er 
es  für  das  Wesen  des  praktischen  Materialismus  erklärte, 
diese  Abstraktion  mit  der  Wirklichkeit  zu  verwechseln. 

Buckles  Ansicht  ist,  daß  die  beiden  Hauptwerke 
Smiths,  die  „Theory“  und  die  „Inquiry“  als  zusammen- 
gehörige Abteilungen  desselben  Systems  zu  betrachten 


190 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausfülirungen. 


sind.  Um  die  Philosophie  dieses  bei  weitem  größten  aller 
schottischen  Denker  zu  verstehen,  müsse  man  beide  Werke 
zusammennehmen  und  als  eins  betrachten,  denn  sie  seien 
in  Wahrheit  zwei  Abteilungen  eines  und  desselben  Gegen- 
standes. Das  eine  Mal  untersuchte  er  die  menschliche 
Natur  in  ihrem  mitfühlenden  Wesen,  das  andere  J\lal 
in  ihrem  eigennützigen  Verhalten  i).  Da  wir  alle  sowohl 
mitfühlend  als  eigennützig  seien,  so  habe  diese  Trennung 
nur  der  einzig  richtige  Weg  sein  können,  um  vermittels 
der  deduktiven  Methode  das  Studium  der  mensch- 
lichen Natur  zu  einer  Wissenschaft  zu  erheben.  Diese 
selbständige  Behandlungen  Wahrheit  verbundener  Ele- 
mente beruhe  allerdings  auf  einer  Abstraktion,  einem 
logischen  Kunstgriff,  indem  wir  die  untrennbaren  Tat- 
sachen in  Gedanken  trennen  und  über  eine  Reihe 
von  Ereignissen  argumentieren,  die  keine  reelle  und 
unabhängige  Existenz  haben  und  nirgends  an- 
ders anzutreffen  sind  als  in  der  Vorstellung 
des  Forschers.  Aber  dieser  Kunstgriff  sei  vollkommen 
haltbar  und  überall  da  anzuwenden,  wo  ein  Gegenstand 
keine  Experimente  zulasse  oder  sich  zu  viel  verwirrendes 
Detail  um  denselben  angesammelt  habe. 

Was  die  Methode  Smiths  betrifft,  so  haben  diese  Be- 
merkungen, wie  Oncken  mit  Recht  bemerkt,  den  Nagel  auf 
den  Kopf  getroffen. 

Diese  Methode  ist  nach  Oncken  eine  kennzeichnende 
Eigentümlichkeit  von  Smith.  Es  handelt  sich,  sagt  eben 
derselbe^  bei  der  ganzen  Frage  um  nichts  anderes,  als  um 
das  Wesen  der  rationalen  Forschungsmethode  überhaupt, 
deren  charakteristische  Eigentümlichkeit  es  ist,  die  Dinge 
in  der  Einbildung  von  allen  äußeren  Einflüs- 
sen zu  trennen,  um  sie  ganz  isoliert  mit  Rück- 
sicht auf  einen  besonderen  ZAveck  zu  betrach- 
ten. Es  ist,  fügt  derselbe  richtig  hinzu,  die  Methode, 
welche  durch  Cartesius  für  die  Untersuchung  einzelner 
Objekte  in  die  Wissenschaft  eingeführt,  durch  Kant  und 
Smith  aber  auf  ganze  Abteilungen  der  Philosophie  aus- 
gedehnt worden  ist.  Er  hätte  noch  hinzufügen  können, 
daß  diese  Methode  im  18.  Jahrhundert  viel  gebraucht 

Gesch.  d.  Zivilisation  im  Engl.  TI,  422. 


Benlhams  staatswissenscliaftliclie  Methode. 


191 


war,  und  daß  im  Laufe  der  Zeit  und  besonders  im 
19.  Jahrhundert  nach  dem  „Gesetz  der  Ideenverschie- 
bung“ aus  Fiktionen  der  Meister  Dogmen  der  Schüler 
geworden  sind. 


§4. 

Benthams  staatswissenschaftliche  Methode. 

Ein  anderes,  ebenso  lehrreiches  Beispiel  für  die  fiktive 
Abstraktionsmethode  bietet  die  Benthamsche  Behand- 
lung der  siaatswissenschaftlichen  Probleme  dar.  Nur  ist 
bei  diesem  Falle  die  historische  Frage,  ob  Bentham  die 
Methode  mit  Bevoißtsein  angewandt  habe,  d.  h.  ob  ihm 
seine  Annahme  eine  Fiktion  und  nicht  eine  Hypothese 
gewesen  sei,  dahin  zu  beantworten,  daß  für  Bentham  seine 
Ausführungen  allerdings  Hypothesen  gewesen  zu  sein 
scheinen,  und  daß  erst  seine  Nachfolger  in  dieser  als 
Hypothese  falschen  Annahme  eine  wichtige  und  brauch- 
bare Fiktion  erkannt  haben.  Bentham  gründet  die  all- 
gemeine Lehre  vom  Staat  auf  die  umfassende  Voraus- 
setzung, daß  die  Handlungen  der  Menschen  immer  durch 
ihre  Interessen,  und  zwar  durch  ihre  rein  persönlichen, 
selbstischen  Interessen  bestimmt  werden.  Um  nun  den 
Konstitutionalismus,  den  Parlamentarismus  als  notwen- 
dige Regierungsform  darzustellen,  macht  Bentham  aus 
jenem  Axiom  folgende  Deduktion:  Wenn  die  Handlun- 
gen der  Menschen  im  wesentlichen  durch  ihre  selbst- 
süchtigen Interessen  bestimmt  werden,  so  sind  die  ein- 
zigen Herrscher,  welche  im  Interesse  der  Beherrschten 
regieren,  nur  diejenigen,  deren  selbstsüchtige  Interessen 
koinzidieren  mit  den  Interessen  des  Volkes.  Diese  Ko- 
inzidenz trete  aber  nur  dann  ein,  wenn  die  Interessen 
der  Herrscher,  durch  Verantwortlichkeit,  d.  h.  durch  Ab- 
hängigkeit der  Regierenden  von  dem  Willen  der  Regierten 
mit  den  Interessen  der  letzteren  in  Harmonie  gesetzt 
werden.  Daraus  folgt  also,  daß  das  Verlangen,  die  Ge- 
walt zu  behaupten  und  die  Furcht,  sie  zu  verlieren,  der 
einzige  Beweggrund  ist,  der  als  die  Quelle  eines  mit 
dem  Gesamtinteresse  des  Volkes  übereinstimmenden  Ver- 
haltens gelten  könne.  Das  Gefühl  der  Identität  des  Inter- 


192 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


esses  kann  nur  durch  die  Verantwortlichkeit  hervorge- 
rufen und  erhalten  werden.  Daraus  leitet  Bentham  die 
Regierungsform  der  Volksvertretung,  Verantwortlichkeit 
der  Minister  usw.  ab. 


§5. 

Abstrakt-fiktive  Methoden  in  Physik  und  Psychologie. 

Es  ist  bekannt,  daß  man  gerade  in  der  mathematischen 
Physik  die  abstractio  logica  sive  mentalis  in  Fällen  an- 
wendet, wo  eben  von  einer  abstractio  physica  sive  realis 
keine  Rede  sein  kann;  die  letztere  wird  angewandt,  wenn 
man  ein  Stück  Holz  in  Teile  spaltet,  die  erstere,  wenn 
man  z.  B.  von  Körpern  ohne  Schwere  redet  und  solche 
fingiert.  Sie  findet  aber  auch  statt,  wenn  man  von  dem 
erfüllenden  Medium  absieht  und  „zur  Bequemlichkeit  für 
den  Physiker  dahin  übereinkommt,  den  relativ  leeren 
Raum  als  absolut  leer  zu  betrachten“,  wobei  „der  Mathe- 
matiker namentlich,  welcher  gewohnt  ist,  allle  höheren 
Potenzen  einer  unendlich  kleinen  Größe  aus  seiner  Rech- 
nung wegzulassen,  nichts  Bedenkliches  finden  kann“. 
Wenn  die  wissenschaftliche  Naturerklärung  diskrete  Mas- 
senteilchen voraussetzt,  „welche  sich  in  einem'  wenig- 
stens vergleichsweise  leeren  Raume  bewegen“,  so 
sieht  sie  damit  eben  ab  von  den  Einflüssen,  welche  von 
dem  den  Raum  kontinuierlich  erfüllenden  Medium  aus- 
geübt werden;  und  diese  Neglektion  wirklich  vorhandener 
und  in  der  Tat  stets  untrennbarer  Elemente  der  Wirklich- 
keit dient  ungemein  zur  Erleichterung  der  Rechnung.  Und 
hierher  ist  es  doch  wohl  auch  zu  rechnen,  wenn  die  Physik 
die  Moleküle  „der  Einfachheit  halber  als  kugelförmig“ 
betrachtet,  eine  Annahme,  die  mit  den  Anforderungen  der 
Chemie  nicht  völlig  übereinzustimmen  scheint.  Es  werden 
daher  die  möglichen  Unregelmäßigkeiten  der  geometri- 
schen Gestalt  vernachlässigt,  und  eben  zur  Simplifizierung 
der  Sache  ein  einfacheres  Verhalten  zugrunde  gelegt,  als 
faktisch  stattfindet.  Wenn  die  theoretische  Mechanik  und 
Physik  deduktiv  verfahren  wollen,  ist  eine  andere  Be- 
handlungsweise des  Wirklichen  gar  nicht  möglich.  Denn 
gerade  hier  sind  die  empirischen  Erscheinungen  so  ver- 


Abslrnkt-fiktive  Methoden  in  Physik  und  Psychologie. 


193 


wickelt,  daß  mit  ilusscliluß  von  Nebenumständen,  welche 
aber  faktisch  immer  wirksam  sind  — abstrakte  Verhält- 
nisse zugrunde  gelegt  werden,  und  das  Verhalten  dann 
so  behandelt  und  berechnet  wird,  als  ob  es  nur  von 
jenen  abstrakten  Faktoren  abhinge  und  die  anderen  gar 
nicht  in  Betracht  kämen. 

Dieselbe  Methode  leistet  vortreffliche  Dienste  nicht  nur 
in  dem  Gebiete  der  angewandten  Psychologie  — als  was 
die  Sozialwissenschaften  seit  Adam  Smith  und  Bentham 
zu  betrachten  sind  — , sondern  auch  bei  der  Erforschung 
der  primären  psychischen  Phänomene.  Auch  hier  macht 
es  die  verwickelte  Natur  der  Phänomene  notwendig,  ab- 
sichtlich nur  einen  Bruchteil  der  lebendigen  Wirklichkeit 
an  Stelle  der  ganzen  Fülle  der  Ursachen  und  Tatsachen 
zu  setzen.  Die  psychologischen  Verhältnisse  sind  so  ver- 
wickelter Natur,  daß  gerade  hier  Fiktionen,  welche  zu- 
nächst nur  ein  Moment  zur  Geltung  bringen  und  andere 
vernachlässigen,  um  so  die  theoretische  Berechnung  leich- 
ter anstellen  zu  können,  sehr  gut  angebracht  sind.  Ins- 
besondere, seit  man  in  der  Psychologie  die  Analogie  der 
psychischen  Phänomene  mit  mechanischen  Vorgängen 
durchgeführt  hat,  hat  diese  Methode  auch  hier  um  sich 
gegriffen.  Speziell  hat  Lange  mit  feinem  methodologischen 
Auge  die  Formeln  der  Herbartschen  Psychologie  für 
bloße  Fiktionen  erkannt,  welche  als  Hypothesen  falsch, 
als  Hilfsformeln  aber  nicht  unbrauchbar  sind.  Herbart 
selbst  meinte  damit  nicht  die  volle  Wirklichkeit  getroffen 
zu  haben  — auch  er  selbst  schrieb  seinen  Formeln  z.  T. 
nur  methodologischen  CharalHer  zu.  In  der  trefflichen  Ab- 
handlung : „Die  Grundlegung  der  mathematischen  Psycho- 
logie, ein  Versuch  zur  Nachweisung  des  fundamentalen 
Fehlers  bei  Herbart  und  Drobisch“  (Duisburg  1865),  hat 
Lange  jenen  Nachweis  geführt,  wobei  er  freilich  schließlich 
nur  wenigen  der  Formeln  Herbarts  Brauchbarkeit  zumißt. 

Diese  Methode  hat  auch  Drobisch  befolgt;  auch  er  macht 
solche  fiktiven  Annahmen.  Er  spricht  es  in  der  Vorrede 
zu  den  „Grundlehren  der  mathematischen  Psychologie“ 
schon  aus,  daß  die  fundamentalen  Annahmen  der  mathe- 
matischen Psychologie  nur  vorläufige  Annahmen  seien, 
welche  der  Wirklichkeit,  wenn  auch  nahe  kommen,  so 
doch  nicht  entsprechen. 

Vaihingev  , PhiloBopbie. 


13 


194' 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausfühnmgen. 


In  späterer  Zeit  hat  sich  Steinthal  dieser  Methode 
bedient  und  theoretische  Formeln  in  der  Psychologie  auf- 
gestellt, welche  nur  durch  Vernachlässigung  vieler  empi- 
rischer Faktoren  gewonnen  sind:  er  nennt  sie  „abstrakte 
Bilder“  der  seelischen  Vorgänge. 


§6. 

Die  fingierte  Statue  Condillacs. 

Als  ein  hervorragendes  Beispiel  der  fiktiven  Abstrak- 
tionsmethode ist  hier  die  bekannte  C ondil lacsche  Fik- 
tion zu  erwähnen,  welche  den  Tratte  des  Sensations  so 
berühmt  und  verdienstlich  gemacht  hat.  Der  Zweck  dieser 
Fiktion  ist  die  Aufstellung  dessen,  was  man  später  „Ideo- 
logie'' nannte,  d.  h.  eine  Analyse  aller  Ideen,  eine  Re- 
duktion aller  Vorstellungen  und  Begriffe  auf  ihren  Ur- 
sprung aus  der  Erfahrung,  kurz  eine  Theorie  der  Ideen- 
bildung aus  den  Sensationen.  Zu  diesem  Zwecke  fingiert 
(imaginer^  sapposer)  Codillac  eine  Statue,  die  ähnlich 
wie  ein  lebender  Mensch  zu  denken  ist,  dessen  Seele  noch 
ohne  alle  Vorstellungen  ist.  Um  Eindrücke  auf  diese 
Seele  beliebig  abschließen  und  zulassen  zu  können,  läßt 
er  diesen  fingierten  Menschen  von  einer  Marmorhülle  um- 
geben sein,  die  ihm  den  Gebrauch  seiner  Sinnesorgane 
nicht  gestattet.  Dadurch  kann  Condillac  nun  die  Vor- 
stellungswelt isolieren,  welche  aus  jedem  Sinne  für  sich 
folgen  würde,  wenn  ein  solcher  Mensch  nur  je  auf  einen 
Sinn  beschränkt  würde.  Er  beschränkt  die  Statue  zuerst 
auf  den  Geruchssinn,  dann  auf  den  Gehörssinn,  dann  auf 
den  Geschmack,  dann  auf  den  Gesichtssinn  und  schließlich 
nur  auf  den  Gefühlssinn,  verbindet  dann  beliebig  die  ver- 
schiedenen Sinne  miteinander,  indem  er  die  Zugänge  zu 
dieser  Statue  je  nach  Bedürfnis  geöffnet  oder  geschlossen 
denkt.  Bei  dieser  Betrachtungsweise  abstrahiert  er  somit 
beliebig  von  einem  Teil  der  Faktoren,  welche  regelmäßig 
das  komplizierte  Gewebe  des  menschlichen  Seelenlebens 
bilden.  Durch  diese  fiktive  Abstraktion  kann  er  nun 
zeigen,  welchen  Beitrag  jeder  Sinn  zu  dem  menschlichen 
Seelenleben  liefert.  Er  konstniiert  so  sukzessive  einen 


Die  fingierte  Statue  Condillacs. 


195 


Geruchs-,  Gehörsmenschen  usw.  und  zeigt,  welche  Vor- 
stellungswelt in  einem  solchen  einseitig  sinnesbegabten 
Menschen  entstehen  wird  oder  würde.  An  dieser  Statue, 
organisiert  wie  ein  Mensch,  beseelt  von  einem  Geist,  der 
noch  keine  Ideen  hat,  an  welcher  die  Sinne  sukzessive 
erwachen,  zeigt  er  die  Entstehung  des  Bewußtseins,  der 
Aufmerksamkeit,  des  Gedächtnisses,  des  Urteilens,  der 
Einbildungskraft,  der  Abstraktion,  der  Reflexion  usw.  Es 
versteht  sich  von  selbst,  wie  durch  diese  geniale  Fiktion 
die  Untersuchung  erleichtert  wird.  „Man  weiß,“  sagt 
der  unbekannte  Verfasser  einer  kleinen  Abhandlung,  „Die 
Bildsäule“  in  Engels  „Philosoph  für  die  Welt“  (21.  Stück), 
„zu  welchem  Endzweck  Bonnet  und  sein  Vorgänger  Con- 
dillac  eine  solche  Bildsäule  erdichteten.  Sie  glaubten 
dadurch  die  Untersuchung  zu  simplifizieren  und  zu 
erleichtern,  wie  hei  Gelegenheit  der  sinnlichen  Ein- 
drücke sich  nach  und  nach  die  Kräfte  unserer  Seele  ent- 
wickeln.“ Selbstverständlich  ergibt  sich  daraus  eine 
Beihe  von  Unmöglichkeiten:  „Sprache  noch  vor  geöffne- 
tem Ohr,  Bewußtsein  gleich  auf  die  erste  Rührung  eines 
der  dunkelsten  Sinne“  usw.  Man  muß  jedoch  beachten, 
sagt  Condillac  selbst,  „daß  die  Unsicherheit  oder  selbst 
Unrichtigkeit  mancher  Vermutungen  der  Grundlage 
dieses  Werks  nicht  zu  schaden  vermag.  Wenn  ich  diese 
Statue  beobachte,  so  geschieht  es  weniger,  um  mich 
dessen  zu  versichern,  was  in  ihr  vorgeht,  als  um  zu  ent- 
decken, was  in  uns  vorgeht.  Ich  kann  mich  darin  täuschen, 
daß  ich  ihr  Operationen  zuschreibe,  deren  sie  noch  nicht 
fähig  ist,  allein  dergleichen  Irrtümer  bleiben  ohne  weitere 
Folgen,  wenn  sie  den  Leser  in  den  Stand  setzen,  zu 
beobachten,  wie  sich  jene  Operationen  in  ihm  selbst 
vollziehen.“ 

Condillac  bedient  sich  in  dem  genannten  Werke  noch 
mehrmals  der  fiktiven  Methode.  Ein  Fall  ist  noch  als 
hierhergehörig  anzuführen.  Er  setzt  jene  Fiktion  dahin 
fort,  daß  dieser  Statuenmensch,  diese  Menschenstatue 
einsam  lebe,  und  er  sucht  nun  zu  zeigen,  wie  die  Bedürf- 
nisse, Fertigkeiten  und  Vorstellungen  eines  solchen  Men- 
schen sich  gestalten  müßten,  wenn  z.  B.  die  Natur  für 
alle  oder  wenn  sie  nur  für  einige  oder  für  keine  Bedürf- 
nisse der  Statue  sorgen  würde.  Durch  die  Variierung  der 


196 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Aiisführungen, 


Möglichkeiten,  welche  er  für  diesen  sich  seihst  überlasse- 
nen Menschen  konstruiert,  ist  er  imstande,  eine  Reihe 
der  feinsten  psychologischen  Beobachtungen  zu  machen. 
Alles  dies  wird  mutatis  mutandis  auf  den  wirklichen 
Menschen  selbst  angewandt.  Diese  Fiktion  war  schon  im 
Altertum  und  Mittelalter  ausgebildet;  Arnobius  (p.  Chr. 

c.  300)  macht  schon  die  Fiktion  eines  von  der  Geburt  an 
in  völliger  Einsamkeit  aufgewachsenen  Menschen,  um 
Platos  Erkenntnistheorie  zu  widerlegen. 

Diese  Fiktion  des  Arnobius  wurde  im  18.  Jahrhundert, 
von  Lamettrie  wieder  aufgegriffen,  welcher  in  seiner 
Histoire  naturelle  de  Väme  (1745)  die  ,, belle  conjecture 

d. ^Ärnobe“  in  abgekürzter  Darstellung  wiedergibt  und  gegen 
die  Cartesianische  Doktrin  von  den  angeborenen  Ideen 
ausspielt.  „Man  nehme  an,  so  referiert  Lange  über  diese 
Fiktion,  daß  in  einem  schwachbeleuchteten  unterirdischen 
Gemach,  von  welchem  jeder  Schall  und  jeder  Sinnes- 
eindruck ferngehalten  wird,  ein  neugeborenes  Kind  von 
einer  nackten  und  einer  schweigenden  Amme  notdürftig 
gepflegt,  und  so  ohne  irgendeine  Pvenntnis  der  IVelt  und 
des  Menschenlebens  großgezogen  würde  bis  zum  Alter 
von  20,  30  oder  gar  40  Jahren.  Dann  erst  soll  dieser 
Mensch  seine  Einsamkeit  verlassen.  Man  frage  ihn  nur, 
was  er  in  seiner  Einsamkeit  gedacht,  und  wie  er  bis 
dahin  genährt  und  erzogen  worden  sei.  Er  wird  nichts 
antv.' orten,  nicht  einmal  wissen,  daß  die  an  ihn  gerichteten 
Laute  etwas  zu  bedeuten  haben.  Wo  ist  nun  jener  un- 
sterbliche Teil  der  Gottheit?  Wo  ist  die  Seele,  die  so 
gelehrt  und  aufgeklärt  in  den  Körper  eindringt?  Wie 
Condillacs  Statue,  zu  welcher  Lamettrie  den  Anstoß  ge- 
geben zu  haben  scheint,  so  soll  nun  dieses  Wesen,  wel- 
ches vom  Menschen  nur  die  Gestalt  und  die  physische 
Organisation  hat,  durch  den  Gebrauch  der  Sinne  Empfin- 
dungen erhalten  usw.“ 

Zu  religionsphilosophischen  Zwecken  benutzte  Avem- 
pace  (gest.  1138)  in  der  „Leitung  der  Einsamen“  und 
besonders  Abubacer  (1100 — 1,185)  in  dem  „Haji  Ibn 
Jokdhän“  diese  Fiktion.  Abubacer  zeigt  darin  die  stufen- 
weise Entwicklung  der  Fähigkeiten  des  Menschen  bis  zur 
Gemeinschaft  seines  Intellekts  mit  dem  göttlichen,  er  ver- 
selbständigt darin  auf  fiktive  Weise  seinen  „Einsamen“ 


Lotzes  hypothetisches  Tier. 


197 


I 

t 

I 


gegenüber  den  Institutionen  und  Meinungen  der  mensch- 
lichen Gesellschaft;  „er  läßt“,  wie  Überweg  sich  ausdrückt, 
„den  einzelnen  sich  aus  sich  selbst  entwickeln ; indem  er 
die  Selbständigkeit  des  Denkens  und  Wollens,  zu  welcher 
ihm  die  bisherige  Gesamtgeschichte  geholfen  hatte,  von 
dieser  (notwendigen)  Bedingung  ab  löst  und  sie 
in  seinem  Naturmenschen  als  außergeschichtliches  Ideal 
setzt“  (wie  im  18.  Jahrhundert  wieder  Rousseau).  Auch 
die  im  18.  Jahrhundert  so  beliebten  Robinsonaden 
gehören  hierher,  in  denen,  wie  Pfleiderer  sich  etwas  zu 
witzig  ausdrückt,  „der  Isolier schemel  des  abstrak- 
ten in  sich  reflektierten  Gedankens  sich  schematisch 
kleidet  in  das  Bild  der  einsamen  Insel  im  weiten  Welt- 
meer als  eines  trefflichen  Versuchsfeldes  der 
Theorie.“  Wie  bei  Condillac,  dient  auch  hier  die  Fiktion 
dazu,  durch  Abstraktion  von  regelmäßig  mitwirkenden 
Faktoren,  hier  besonders  von  der  Gemeinschaft  mit  ande- 
ren Menschenwesen,  eine  Untersuchung,  eine  Darstellung 
zu  vereinfachen,  und  die  Pädagogen  wie  die  Psychologen 
verwerteten  diese  fiktive  Abstraktion  sehr  häufig  für  ihre 
besonderen  Zwecke. 

Zu  den  künstlichen  Isolierungen  gehören  endlich  alle 
jene  Beispiele,  wo  nicht  bloß  der  einzelne  Mensch,  son- 
dern etwa  eine  ganze  Stadt  oder  ein  ganzer  Staat  (eine 
Insel  usw.)  isoliert  gedacht  werden,  z.  B.  auch  Fichtes 
geschlossener  Handelsstaat. 


§7. 

Lotzes  hypothetisches  Tier. 

Wie  gerade  die  Psychologie  diese  Methode  verwertet 
und  mit  Vorteil  verwertet,  zeigt  auch  jenes  bekannte 
„hypothetische  Tier“,  welches  Lotze  in  seiner  „medi- 
zinischen Psychologie  1)“  einführt:  dieses  soll  nur  einen 
einzigen,  zugleich  sensibeln  und  beweglichen  Hauptpunkt 
etwa  an  der  Spitze  eines  Fühlhorns  besitzen. 

Laas’^)  nennt  dieses  „hypothetische  Tier“  „eine  ge- 
sundere, organischere  und  aufklärsamere  Abstraldion  und 


1)  § 33,  S.  420. 

Kants  Analogien  297. 


198 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Fiktion^)  als  die  Condillacsche  Statue  mit  bloßem  Ge- 
ruchsinn, welcher  der  Tastsinn  erst  ganz  zuletzt  verliehen 
wird“.  Organisch  nennt  er  dieselbe,  weil  der  Tastsinn 
wirklich  in  der  Entwicklung  der  Tierreihe  der  erste  ist 
und  sich  allein,  ohne  die  anderen  Organe  findet  — wie 
schon  Aristoteles  2)  bemerkt.  Jene  Äußerung  von  Laas 
mag  zu  der  methodologischen  Bemerkung  Anlaß  geben, 
daß  solche  Fiktionen  eben  „organisch  und  gesund“  sein 
sollen,  d.  h.  daß  sie  — es  läßt  sich  dies  wohl  nur  negativ 
ausdrücken  — nicht  solche  Vorstellungsgebilde  formieren 
sollen,  welche  den  natürlichen  Verhältnissen  allzu  ferne 
stehen,  also  solche,  welche  sich  an  die  gegebenen  objek- 
tiven Tatsachen  möglichst  gewandt  und  geschickt  an- 
schließen. 

Der  Wert  dieser  Fiktion  besteht  darin,  daß  durch  die- 
selbe die  erkenntnistheoretisch-psychologische  Frage  er- 
leichtert wird,  durch  welche  Prozesse  die  Vorstellung  der 
Außenwelt  zustande  komme,  und  welchen  Anteil  die  bloße 
Sukzession  von  Perzeptionen  an  dem  Weltbild  besitzie. 
Die  Perzeptionen  dieses  Wesens  sind  nur  sukzessiv:  simul- 
tane Perzeptionen  sind  eben  durch  die  Natur  der  Fiktion 
ausgeschlossen.  Was  folgt  nun  aus  den  aufeinanderfolgen- 
den Perzeptionen  dieses  in  verschiedenen  Stellungen  über- 
gehenden und  bewegten  Fühlhorns?  „Ist  jenes  hypothe- 
tische Wesen  nun  psychisch  geartet  wie  wdr,  so  wird  es 
das,  was  seiner  willkürlichen  Entscheidung  parallel  läuft, 
als  „subjektiv“,  was  von  derselben  unabhängig  sich  ein- 
stellt, als  „objektiv“,  als  fremd,  als  außer  sich  beti’achten. 
Und  hat  es,  wie  wir,  die  Möglichkeit,  Perzeptionen  sowohl 
mit  ruhendem  als  mit  bewegtem  Organ  zu  erhalten,  und 
besitzt  es  wie  wir  Erimierungs-  und  Assoziationsver- 
mögen, sowie  das  Vermögen  räumlicher  Auslegungen:  so 
muß  es  auch  wie  wir,  trotz  seiner  dürftigen  sinnlichen 
Ausstattung,  zur  Unterscheidung  eines  sich  gleichbleiben- 
den und  sich  ändernden,  eines  ruhenden  und  bewegten 
Objekts  gelangen.“  Die  Fiktion  gewinnt  nach  Laas  da- 
durch einen  hohen  erkenntnistheoretischen  Wert,  daß  durch 
die  Ausführung  derselben,  durch  Ziehung  der  Konsequen- 

')  Der  Terminus  , hypothetisches“  Tier  („hypothetischer“  Fall  ih.  297) 
ist  daher  besser  zu  ersetzen  durch  fiktiv. 

»)  De  An.  U,  413b,  2,  37. 


Die  Fiktion  der  Kraft. 


199 


zen  aus  der  munöglichen  Annahme  in  diesem  Falle  eine 
falsche  Kantische  Doktrin  abgewiesen  werden  könne,  näm- 
lich, daß  es  eines  mit  Kategorien  ausgestatteten  spontanen 
Verstandes  bedürfe,  um  zu  jenen  objektiven  Erkeimt- 
nissen  zu  gelangen:  „das  Lotzesche  Tier,  mit  unserem 
Verstände  ausgerüstet,  wird  an  der  Hand  des  unmittelbar 
Gegebenen  sich  wohl  über  objektive  Ruhe  und  Bewegung 
ein  Urteil  verschaffen  kömien“,  ohne  jene  von  Kant  als 
notwendig  erachteten  kategorialen  Funl^tionen. 

Die  physiologische  Psychologie  bedient  sich  — wegen 
der  enormen  Kompliziertheit  ihres  Gegenstandes  — gern 
und  mit  Erfolg  solcher  Fiktionen,  zu  denen  z.  B.  auch 
jene  H elmhol tz sehe  Annahmen  eines  Wesens,  das  nur 
Auge  ist,  oder  eines  Menschen,  der  nur  ein  Auge  und 
dieses  in  der  Mitte  der  Stirne  hätte  (Fiktion  eines  Zyklopen- 
auges), zu  rechnen  sind.  Auch  der  fiktive  Mensch  mit 
mikroskopischen  Augen  gehört  hierher.  Helmholtz, 
Aubert  u.  a.  wenden  diese  Methode  sehr  häufig  an. 


§ 101). 

Die  Fiktion  der  Kraft. 

Eine  der  wichtigsten  Fiktionen,  welche  durch  isolie- 
rende Abstraktion  entstehen,  ist  der  Begriff  der  Kraft, 
jenes  berüchtigte  und  oft  so  verhängnisvolle  Produkt  der 
Phantasie.  In  einer  Kraft,  z.  B.  der  Lebensla*aft,  werden 
nicht  nur  viele  einzelne  Erscheinungen  summatorisch  zu- 
sammengefaßt, es  wird  auch  die  Vorstellung  darin  aus- 
gesprochen, daß  eine  solche  Kraft  etwas  besonders  Exi- 
stierendes sei. 

Wenn  zwei  Vorgänge,  von  denen  der  eine  vorangeht, 
der  andere  folgt,  durch  eine  konstante  Verbindung  ver- 
knüpft sind,  nennen  wir  die  Eigentümlichkeit  des  frühe- 
ren, von  dem  späteren  gefolgt  zu  sein,  seine  Kraft,  und 
man  mißt  diese  Kraft  an  der  Größe  des  Erfolges.  Wir 
haben  in  Wirklichkeit  nur  Sul^zessionen  und  Koexistenzen, 
und  wir  dichten  den  Dingen  „Kräfte“  an,  indem  wir  die 

1)  Die  Paragraphen  8 und  9 über  den  homo  alalus  und  andere 
Fälle  der  fiktiven  Isolierung  fielen  aus. 


200 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführujigeii. 


wirklichen  Phäuonienc  als  schon  mögliciie  an  sehen,  und 
diese  Möglichkeiten  und  Eigentümlichkeiten  hypostasieren 
und  als  reelle  Entitäten  loslösen.  Par  malheur,  sagt  Taino* *) 
de  cetie  particularite  qui  est  iin  rapport,  nous  faisons,  por 
iine  fiction  de  Vesprit,  une  substance:  nous  i'appelons  d'un 
nom  substantif,  force  ou  pouvoir;  nous  lui  attribuons  des 
qualites;  nous  disons  qu'elle  est  plus  ou  moins  grande;  nous 
remployons  dans  le  discours  comme  un  suJet;  nous  oublions 
que  son  etre  est  tout  verbal,  qu'elle  le  tient  de  nous,  qu'elle 
l'a  regu  par  emprunt  provisoirement,  pour  la  commoditi  de 
discours  et  qu'en  soi  il  n'est  rien,  puisqu'il  n'est  qu'un  rapport. 
Trompes  par  le  language  et  par  l'habitude,  nous  admettons 
qu'il  y a lä  une  chose  reelle,  et  reflictissant  ä faux,  nous 
agfandissons  ä chaqiie  pas  notre  erreur.  Dieses  betreffende 
Wesen  ist  ein  „bloßes  Nichts“;  durch  eine  „Illusion“  machen 
wir  daraus  ein  reines,  unkörperliches  Wesen;  wir  betrachten 
es  wie  ein  Wesen  höherer  Ordnung;  und  doch  ist  es  an 
sich  nur  ein  Charakter,  eine  Eigentümlichkeit,  eine  Be- 
ziehung, welche  von  dem  einen  Vorgang  zum  andern  waltet, 
detachee  par  abstraction,  posee  ä part  par  fiction, 
maintenue  ä l'etat  d'etre  distinct  par  un  nom  substantif  distinct, 
jusqu'ä  ce  que  l'esprit,  oubliant  son  origine,  la  juge  indipendante 
et  devienne  la  dupe  de  l'illusion  dont  il  est  l'ouvrier.  Taine 
spricht  von  dieser  Fiktion  häufig:  die  Kräfte,  welche  die 
Dinge  haben  sollen,  sind  nichts  anderes  als  die  konstanten 
Notwendigkeiten  der  Folge,  posees  ä part  considerees  isole- 
ment,  des  manieres  d'etre  extraites  de  l'evenement  et  isolees 
par  une  fiction  mentale'^).  Man  erhebt  sie  zu  Substanzen, 
setzt  sie  den  flüchtigen  Vorgängen  als  dauernden  Hinter- 
grund, als  konstante  Quelle  entgegen  und  gibt  ihnen  eine 
aparte  Existenz.  Indem  wir  die  Bedingungen  eines  Ge- 
schehnisses zusammenfassen,  nennen  wir  sie  die  Kraft, 
welche  zu  einem  Geschehen  notwendig  ist,  und  stellen  sie 
uns  als  etwas  Reelles,  Besonderes  vor:  la  condition,  degagee, 
isolie  par  une  fiction  de  l'esprit,  devient  ainsi  tout-ä-fait 
generale  et  abstraite^). 

Taine  betont  hier  nur  eine  Seite : er  weist  auf  die  theo- 
retische Wertlosigkeit  und  Falschheit  des  Begriffes  der 

Taine,  De  l’intelligence  l,  376. 

*)  n,  49.  cf.  ib.  32-33,  52-53,  176,  190. 

»)  U,  280. 


Die  Fiktion  der  Kraft. 


201 


Kraft  hin,  indem  er  seinen  psychologischen  Ursprung  auf- 
deckt: aber  er  betont  zu  wenig,  wie  praktisch  und  bequem 
dieses  Vorstellungsgebilde  für  den  wissenschaftlichen 
Hausgebrauch  ist,  und  über  den  Eifer,  zu  verhindern, 
daß  die  Fiktion  für  eine  Realität  genommen  werde,  ver- 
gißt er  die  Anerkennung  der  nützlichen  Dienste,  welche 
diese  Fiktion  dem  Denken  leistet.  Diese  zweite  Seite  der 
Sache  darf  aber  keineswegs  vernachlässigt  werden:  die 
kritische  Einsicht  in  die  theoretische  Wertlosigkeit 
und  Fehlerhaftigkeit  des  Kraftbegriffes  muß  durch  die 
methodologische  Einsicht  in  seine  praktische  Brauch- 
barkeit und  Bequemlichkeit  ergänzt  werden.  Daß  diese 
Abstraktion,  durch  welche  das  einseitig  Losgelöste  zu- 
gleich personifiziert  wird,  eben  eine  brauchbare  Fiktion 
sei,  dafür  sei  noch  eine  Belegstelle  von  einem  Schrift- 
steller angeführt,  welcher  den  kritischen  Geist  mit  dem 
Sinn  für  die  methodologischen  Bedürfnisse  der  Wissen- 
schaft verbindet. 

Bei  Moleschott  tadelt  es  Lange^)  sehr  lebhaft^  daß  er 
sagt:  „Wo  sich  auch  immer  Sauerstoff  befinden  mag, 
hat  er  Verwandtschaft  zum  Kalium,“  und  daß  er  damit 
die  Kraft  als  etwas  denkt,  das  im  Sauerstoff  dauernd  sitzt. 
Er  nennt  diese  Vorstellungsweise  „die  Verwüstungen  des 
Möglichkeitsbegriffes“;  er  tadelt  die  Verkörperung  einer 
menschlichen  Abstraktion.  Er  stimmt  Dubois-Reymond 
bei,  der  findet,  daß  es  im  Grunde  weder  Kräfte  noch 
Materie  gebe,  sondern  daß  beides  nur  Abstraktionen 
seien.  Aber  er  stimmt  auch  demselben  bei,  wenn  er  in 
jener  bekannten  Stelle  — die  Kraft  einen  rhetorischen 
Kunstgriff  unseres  Gehirns  nennt,  das  zur  tropi- 
schen Wendung  greife,  weil  ihm  zum  reinen  Ausdruck 
die  Klarheit  der  Vorstellung  fehle;  die  Kraft,  insofern  sie 
als  Ursache  der  Bewegung  gedacht  werde,  sei  nichts  als 
eine  versteckte  Ausgeburt  des  unwiderstehlichen  Hanges 
zur  Personifikation.  Diese  Vorstellung  der  Kraft,  als  eines 
Ausflusses  des  Stoffes,  als  eines  Werkzeuges,  gleichsam 
einer  Hand,  eines  Armes  desselben,  ist  allerdings  ein 
Kunstgriff,  gegen  dessen  Anwendung  aber  weder  Natur- 
wissenschaft noch  Methodologie  etwas  einzuwenden 


*)  Geschichte  des  Materialismus  II,  203. 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


haben,  sobald  man  sieb  der  tecbiiiscben  Natur  der  Vor- 
stellung bewußt  bleibt,  welche  uns  das  Denken,  das 
schnelle  Rechnen  mit  Gedanken  erleichtert.  Wenn  man 
sich  übersinnliche  Kräfte  hinzudenkt,  bringt  man  aller- 
dings, wie  Lange  sich  ausdrückt,  einen  falschen  Fak- 
tor in  Rechnung.  Jene  Vorstellungsweise  der  Kraft 
als  eines  zum  Stoff  hinzukommenden  und  auf  seine 
Äußerung  lauernden  Faktors  ist  durchaus  erlaubt,  so- 
lange man  sich  dieser  Vorstellung  nur  als  eines  Hilfs- 
mittels der  Gedankenbewegung  bedient,  und  wenn  man 
methodologisch  so  streng  geschult  ist,  um  den  falschen 
Faktor,  den  man  damit  in  die  Gedankenreihe  einführt,  zur 
rechten  Zeit  wieder  zu  entfernen. 


§11- 

Materie  und  Materialismus  als  Hilfsvorstellungsweisen. 

Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  einer  anderen  ein- 
seitigen Abstraktion,  deren  Tragweite  eine  unübersehbare 
ist:  die  ganze  naturwissenschaftliche  Betrachtungsweise, 
welche  eine  unabhängige  materielle  Außenwelt  ihren  Be- 
rechnungen zugrunde  legt,  ist  nur  eine  einseitige  Ab- 
straktion. Dies  wollte  Lange  sagen,  wenn  er  überall  das 
methodologische  Recht  des  Materialismus, 
aber  auch  ebenso  stark  sein  metaphy sisiches 
(oder  vielleicht  besser  — erkenntnistheore- 
tisches) Unrecht  betonte:  Die  materialistische  Betrach- 
tungsweise der  Welt  ist  eine  notwendige  und  nützliche 
Fiktion,  ist  aber  falsch,  sobald  man  in  ihr  eine  Hypo- 
these sieht.  Der  Kampf  Langes,  der  so  häufig  miß- 
verstanden wurde,  weil  er  einerseits  für  und  andererseits 
gegen  den  Materialismus  sich  ins  Zeug  warf,  gewinnt 
durch  diese  Formulierung  eine  neue,  und  wie  ich  glaube, 
auch  erhellende  Beleuchtung. 

Nicht  allein  die  Empfindungen  der  sogenannten  höheren 
Sinne,  auch  die  der  niederen  haben  wir  kein  Recht, 
auch  ohne  uns,  die  Subjekte,  absolut  existierend  an- 
zunehmen : nicht  bloß  die  farbige  und  tönende  Welt  be- 
steht nur  aus  und  in  unseren  Empfindungen,  auch  die 


Materie  und  Materialismus  als  Hilfsvorstellungsweisen.  203 


Aussagen  des  Tastsinnes  geben  einzig  und  allein  Modifi- 
kationen unseres  psychologischen  Organismus  an.  Die 
alte,  schon  von  Demokrit  zur  Geltung  gebrachte  Wahrheit, 
daß  die  sogenannten  sekundären  Eigenschaften  nur  rela- 
tive Vorgänge  sind,  ist  in  neuerer  Zeit  auf  die  primären 
Eigenschaften  ausgedehnt  worden ; wie  nun  aber  die 
Farbenlehre  eines  Goethe  von  den  Farben  spricht,  als 
wären  sie  objektiv  existierende  Eigenschaften,  so  spricht 
der  Materialismus  von  Materie,  Stoff  und  Handgreiflich- 
keit, als  wären  dies  reale  Dinge,  die  auch  ohne  unsere 
Empfindung  genau  so  da  sind,  wie  wir  sie  empfinden. 
Wie  aber  ferner  jene  Betrachtungsweise  der  Farben  eine 
bequeme  Abstraktion  von  dem  Beisatz  des  Subjekts 
sein  kann,  welche  z.  B.  zu  Zwecken  ästhetischer,  kunst- 
wissenschaftlicher Studien  wohl  unentbehrlich  ist,  so  muß 
auch  die  Naturwissenschaft  ihrerseits  von  jenen  Eigen- 
schaften reden,  als  wären  sie  objektiv  und  absolut. 
Sie  sieht  zum  Zweck  des  bequemeren  Vortrages  ganz  ab 
von  dem  Ichbeisatz,  von  dem  Subjekt,  davon,  daß  ja 
alle  diese  vermeintlich  objektiven  Eigenschaften  nur  rela- 
tiv in  bezug  auf  das  Subjekt  Geltung  haben,  und  spricht 
und  rechnet,  als  ob  wirkhch  die  materielle  Außenwelt 
so  fest  außer  uns  stünde,  und  a 1 s o b auch  ohne  das  Sub- 
jekt die  Dinge  so  wären,  wie  sie  uns  erscheinen.  Während 
faktisch  alles,  was  wir  erfahren,  nur  unsere  Sensationen 
sind,  die  daher  immer  nur  in  bezug  auf  das  Ich  Gültigkeit 
haben,  sehen  wir  bei  der  naturwissenschaftlichen  Be- 
trachtungsweise ganz  von  diesem  Tatbestände,  von  dem 
Subjekte  ab  und  legen  unseren  Berechnungen  viel  ein- 
fachere Verhältnisse  zugrunde,  als  die  genau  beobachtete, 
reine  Wirklichkeit  sie  uns  darbietet. 

Diese  Loslösung  unserer  Sensationen  von  dem  Mutter- 
boden unserer  Subjektivität  ist  in  neuerer  Zeit  im  An- 
schluß an  Berkeley  und  Hume,  insbesondere  von  Mi  11 
und  Taine  zum  Gegenstand  eingehender  Untersuchung 
gemacht  worden,  und  in  Deutschland  hat  in  Erneuerung 
Kantischer  Doktrinen  dasselbe  Lange  nachdrücklich  be- 
tont. Der  feine  analytische  Geist  der  Engländer  hat  ins- 
besondere jene  Loslösung  bis  in  ihre  feinsten  psychologi- 
schen Motive  verfolgt,  während  Lange  methodologisch  mid 
systematisch,  mehr  die  Notwendigkeit  und  das  Recht,  die 


204 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


losgelöste  materielle  Außenwelt  der  naturwissenschaft- 
lichen Betrachtungsweise  zugrunde  zu  legen,  gegenüber 
sinnlosen  Angriffen  verteidigte,  nicht  ohne  aber  dabei  eben 
stets  von  neuem  darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  der 
ganze  Materialismus  nur  eine  provisorische,  methodolo- 
gisch erlaubte,  aber  nicht  mit  einer  metaphysischen  Wirk- 
lichkeit zu  verwechselnde  Hilfsvorstellung  sei. 


§ 12. 

Die  abstrakten  Begriffe  als  Fiktionen. 

In  der  abstrakten  Vorstellung  wird  V/irklichkeitsfak- 
toren,  welche  faktisch  unselbständiger  Natur  sind^  „die 
Form  der  gegenständlichen  Selbständigkeit  geliehen, 
jedoch  mit  dem  Bewußtsein,  daß  dieselbe  nur  eine  fin- 
gierte, nicht  eine  reale  ist^)“.  Die  Einzelexistenz,  welche 
wir  an  selbständigen  Objekten  beobachten  und  auffassen, 
wird  auf  unselbständige  Teilvorstellungen  leihweise  über- 
tragen; diese  werden  substantiviert;  so  entstehen  alle 
jene  Begriffe  wie  Süßigkeit,  Röte,  Raum,  Kausalität,  Iden- 
tität, Grund,  Folge,  Verhältnis,  Tugend,  Schönheit,  Liebe, 
Allmacht,  Haß,  — also  ein  ungemein  wichtiger  und  zahl- 
reicher Bestandteil  unseres  Vorstellungsschatzes  verdankt 
dieser  Fiktion  seine  Entstehung.  „Abstraire“,  sagt  Con- 
dillac^),  „c’est  separer  une  idee  d’une  a.utre  ä laqueile 
eile  paroit  naturellement  unie  . . . voilä  l’artifice  des 
idees  que  nous  nous  formons  3).  Nous  pouvons  donc 
les  observer  comme  si  elles  existoient  sepa- 
rees  de  la  substance  qu’elle  modifient  . . . c’est  ce 
qu’on  nomme  une  idee  abstraite^).“  Wie  wir  die  uns  be- 
kannte Formel  der  Fiktion  bei  Condillac  finden  — ob- 
server comme  si  — so  sagt  Bachmann^):  „Abstrahie- 
ren von  etwas,  heißt  dasselbe  aus  dem  Bewußtsein  weg- 
lassen und  nur  das  andere  festhalten.  Wenn  A und  B au 


h Überweg,  Logik,  § 47. 

Tratte  des  sensations  96. 

Condillac,  L’art  de  Penser,  93,  94. 
h Condillac,  Grammaire  LXX,  LXXIl. 
Bach  mann,  Logik  1828,  § 44. 


Die  abslrakfen  Begriffe  als  Fiktionen. 


205 


sich  ZU  einem  Objekte  verbunden  sind,  so  abstrahieid  man 
von  A,  wenn  man  B allein,  in  seiner  Reinheit  denkt, 
gleich  als  ob  A gar  nicht  da  wäre.“ 

Condillac  bat  das  dabei  waltende  Gesetz  der  ent- 
gegengesetzten Operationen  vollständig  richtig  er- 
kannt, und  es  ist  daher  in  der  Ordnung,  wenn  wir  uns  mit 
seinen  Gedanken  über  diesen  Gegenstand  noch  näher  be- 
schäftigen. ^ 

Abstrahieren  ist  dekomponieren : es  ist  die  Trennung  u»- 
einer  Sache  von  einer  anderen,  deren  Teil  sie  ist:  die-JL 
abstrakten  Begriffe  sind  somit  Partialbegriffe, welche 
von  ihrem  Ganzen  losgerissen  sind.  Indem  wir  die 
Farbe  oder  die  Gestalt  logisch  loslösen  von  dem  köi^er- 
lichen  Substrat,  erhalten  wir  eigene  Wissenschaftssphären, 
welche  sich  mit  diesen  Qualitäten  allein  beschäftigen, 
ohne  die  Substanzen,  an  v/elchen  allein  sie  zur  Erschei- 
nung gelangen. 

Allein  dieser  Prozeß  birgt  eine  große  Gefahr  in  sich 
und  führt  leicht  zu  vielen  und  schweren  Irrtümern,  welche 
schlimme  Konsequenzen  nach  sich  ziehen.  „Viele  Philo- 
sophen sind  in  diesen  Irrtum  gefallen : sie  haben  alle  ihre 
Abstraktionen  realisiert  oder  haben  sie  als  Wesen  be- 
trachtet, welche  eine  reelle  Existenz  haben,  unabhängig 
von  derjenigen  der  Dinge.“  Pielationen,  Modifikationen 
und  Formen  werden  hypostasiert.  Da  unser  Geist  zu  be- 
schränkt ist,  um  eine  große  Anzahl  Modifikationen  zu 
gleicher  Zeit  der  Betrachtung  zu  untenverfen,  nimmt  er 
eine  nach  der  anderen  und  trennt  sie  daher  von  ihrer 
Substanz;  er  nimmt  ihnen  damit  eigentlich  ihre  Realität. 

Da  aber,  föhrt  Condillac  fort,  doch  diese  abstrakten  Quali- 
täten, welche  von  ihrem  Mutterboden  losgerissen  sind, 
Gegenstände  des  Geistes  werden  sollen,  so  ist  das  nur  so 
möglich,  daß  er  diese  unrealen  Qualitäten  doch  als 
Realitäten  betrachtet:  „Gewöhnt,  immer  wenn  er 
sie  an  ihrem  Objekt  betrachtet,  sie  mit  einer  Realität 
zusammenzusehen,  von  der  sie  dann  nicht  unterschieden 
sind,  behält  er  für  sie  so  sehr  wie  möglich  diese  Realität 
bei,  auch  wenn  er  sie  von  ihrem  Substrat  unterscheidet 
(oder  besser  aus  dem  immer  zusammenseienden  Qualitäten- 
verband willkürlich  in  der  Vorstellung  herauslöst).  Der 
Geist  widerspricht  sich  damit:  einerseits  faßt  er  diese 


206 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Modifikationen  ohne  irgendeine  Beziehung  zu  dem  reellen 
Objekte  auf,  und  dann  sind  sie  strenggenommen  nichts 
mehr;  auf  der  anderen  Seite,  weil  man  das  Nichts  nicht 
erfassen  kann,  betrachtet  er  sie  als  ein  Ding  und 
fährt  fort,  ihnen  dieselbe  Realität  zu  geben,  mit  welcher 
er  sie  anfangs  beobachtet  hat,  obgleich  sie  ihnen  nicht 
mehr  gebührt.  Mit  einem  Wort:  diese  Abstraktionen, 
obgleich  sie  nur  Teilvorstellungen  waren,  haben  sich  mit 
der  Vorstellung  eines  selbständigen  Dinges  verbunden.“ 

„Wie  fehlerhaft  auch  dieser  Widerspruch 
sein  mag,  er  ist  nichtsdestoweniger  not- 
wendig.“ 

Die  Abstraktionen,  welche  wir  als  etwas  Reales  zu 
betrachten  gezwungen  sind,  sind  somit  Kinder  der  Ein- 
bildungskraft; und  der  Fehler  aller  Scholastik  besteht 
darin,  daß  sie  aus  diesen  Fiktionen  selbständige  Wesen 
macht;  die  qualitates  occultae  (z.  B.  Lebenskraft)  sind 
Folgen  dieser  verhängnisvollen  Verwechslung:  „Les  ab- 
stractions  sont  donc  souvent  des  fantömes,  que  les  philo- 
sophes  prennent  pour  les  choses  memes.“ 

Ein  weiteres  Beispiel  sind  die  Seelenvermögen.  Schon 
Locke  spricht  die  Befürchtung  aus,  daß  die  Art  und 
Weise,  wie  man  von  diesen  Vermögen  spricht,  bei  vielen 
die  konfuse  Vorstellung  von  ebenso  vielen  gesonderten 
Agentien  in  uns  erwecke,  welche  als  besondere  Wesen 
verschiedene  Gebiete  beherrschen.  Es  hat  dies  eine  große 
Menge  nichtiger  Dispute,  dunkler  und  unsicherer  Unter- 
suchungen über  diese  vermeintlichen  Seelenvennögen  her- 
beigeführt, z.  B.  ob  das  Urteil  dem  Verstände  oder  dem 
Willen  angehöre,  ob  diese  beiden  gleich  frei  und  selb- 
ständig seien,  ob  der  Wille  der  Erkenntnis  fähig  sei,  oder 
ob  er  eine  blinde  Kraft  sei;  ob  der  Wille  den  Verstand 
oder  dieser  jenen  lenke  usw.  Auf  diese  Weise  ist  die 
Seele  vervielfacht  worden,  indem  man  aus  bequemen  Ab- 
straktionen Wirklichkeiten  machte:  denn  Abstraktionen 
sind  jene  Fakultäten,  da  in  Wirklichkeit  kein  einziger 
Willensakt  ohne  Vorstellungstätigkeit,  kein  Vorstellungs- 
akt ohne  Willen  oder  Gefühl  vor  sich  geht.  In  allen 
solchen  Fällen  ist  die  Hauptschutzmaßregel  gegen  Ge- 
fahren die  Vermeidung  der  Hypostasierung  und  der  Rück- 
gang zu  den  wirklichen,  elementaren  Vorgängen,  aus 


Die  abstrakten  Begriffe  als  Fiktionen. 


207 


denen  jene  Abstraktionen  sich  erst  gebildet  haben,  also 
zur  Beobachtung  des  Einzelnen  und  Wirklichen  in  seiner 
erscheinenden  Mannigfaltigkeit  und  seinen  unauflöslichen 
Verbindungen. 

Den  deutlichsten  Ausdruck  erhalten  diese  fiktiven  Ab- 
straktionen in  der  Sprache,  indem  wir  von  ihnen  durch- 
aus sprechen,  wie  von  Einzelsubstanzen:  wir  geben  ihnen 
. Adjektiva,  wir  fügen  ihnen  Verba  an;  wir  sagen:  der 
Raum  hat  drei  Dimensionen ; der  Krieg  rafft  die  Menschen 
hinweg ; wir  sprechen  von  Eigenschaften  und  Handlungen 
des  Ruhms,  der  Tugend,  der  Weisheit,  der  Gerechtig- 
keit WSW.  Wir  leihen  diesen  Abstraktionen  also  Sub- 
stantialität,  als  ob  sie  etwas  Besonderes,  selbständig 
Existierendes  wären  ohne  die  Objekte,  an  denen  wir  sie 
faktisch  finden. 

Dieser  Zusammenhang  der  Abstraktionen  mit  der 
Sprache  ist  insbesondere  von  Gruppe  (im  Anschluß  an 
Condillac)  betont  worden,  und  derselbe  hat  die  schlimmen 
Verheerungen,  welche  die  eben  durch  den  Sprachgebrauch 
begünstigte  Verwechslung  der  Abstrakta,  d.  h.  also  der 
Fiktionen  mit  Wirklichkeiten  in  der  Philosophie  ange- 
richtet hat,  einer  scharfen  Kritik  unterworfen. 

In  dem  „Antäus“,  dem  bedeutenden  Monument  eines 
trotz  der  Jugend  des  Verfassers  ungemein  unabhängigen 
und  selbständigen  Denkens,  — der  „Antäus“  erschien 
1831,  also  fünfzig  Jahre  nach  Kants  Kr.  d.  r.  V.  — hat 
sich  Gruppe  die  Aufgabe  gestellt,  „zu  untersuchen,  wel- 
chen Anteil  die  Sprache  und  deren  Mittel  und  Ausdrucks- 
weise am  Denken  habe“.  Wir  bedienen  uns  einer  Anzahl 
abstrakter  Ausdrücke,  und  nur  mittels  ihrer  ist 
Spekulation  möglich.  Lassen  sie  nun  ihrer  Natur 
nach  eine  solche  Anwendung  zu? 

In  der  gewöhnlichen  Sprechweise  (ibidem  276)  sind 
aber  die  Abstraktionen  nicht  nur  ohne  Irrung  und  Gefahr, 
sondern  auch  heilsam,  sowie  schnell  zum  Ziele  führend. 
Allein  die  spekulative  Philosophie  reißt  die  Abstrakta 
aus  ihrem  Zusammenhänge  heraus  und  macht  aus  ihnen 
Realitäten.  „Für  den  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  sind 
sie  nichts  als  geschickte  Abbreviaturen;  sie 
sind  aus  der  sprachlichen  Praxis  ent^rungen  und  leiden 
nur  praktische  Anwendung;  aus  ihnen  selbst  aber 


20« 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Austüljrungeii. 


ist  nichts  Theoretisches  abziileilen;  man  kann  nichts 
aus  ihnen  heraiisklauben ; sie  sind  nur  Mittel,  nicht  In- 
halt; nur  Abbreviaturen  und  Hilf  sau  s drücke.“ 
Es  sind  die  Abstrakta  Rechnungsvorteile  und  über- 
heben uns  vieler  Weitschweifigkeit.  Wir  können  mittels 
ihrer  in  die  Nuancen  der  Objekte  viel  feiner  eindringen, 
indem  wir  Merkmale  ohne  die  Objekte,  an  denen  sie  sich 
finden,  zum  Gegenstand  der  Aussage  machen.  Aber 
schließlich  muß  immer  wieder  auf  die  Konkreta  zurück- 
gegangen werden  datier  der  Name  Antäus  — , an  denen 
jene  Merkmale,  aus  welchen  wir  selbständige  Abstrakta 
gemacht  haben,  sich  vorfinden.  Sonst  bewegt  sich  das 
Denken  in  der  Luft,  statt  auf  dem  Boden  der  Erfahrung. 
Sobald  die  Abstrakta  zu  Aussagen  mißbraucht  werden, 
weiche,  sobald  man  die  konkreten  Dinge  und  ihre  Ver- 
hältnisse dafür  einsetzt,  sinnlos  werden,  hat  man  die  nöti- 
gen Vorsichtsmaßregeln  außer  Augen  gelassen.  Welchen 
Mißbrauch  hat  die  Hegelsche  Philosophie  mit  Abstraktis 
wie:  Zahl,  Größe,  Geschwindigkeit,  Quantität,  Qualität, 
Negation,  Nichts,  Sein,  Werden,  Einheit,  Unterschied  usw. 
getrieben.  Alles  das  sind,  sagt  Gruppe  treffend  (285), 
sehr  begreifliche  Abstraktionen,  „ganz  arglose,  grund- 
ehrliche Worte;  allein  man  vergesse  einen  Augenblick, 
was  es  mit  ihnen  zu  bedeuten  hat,  so  ist’s  nicht  mehr 
unsere  treue  Muttersprache,  sondern  ein  Rotwelsch,  eine 
Gaunersprache,  die  zu  unserem  Verrate  dient;  es  sind 
Irrlichter,  die  in  Sümpfe  führen.“  Durch  keine  philo- 
sophische Tortur  kann  man  ihnen  etwas  abfragen. 

So  notwendig  die  Abstrakta  zum  Denken  und  Sprechen 
sind,  so  wenig  Aufschluß  läßt  sich  aus  ihnen  über  die 
reale  Welt  gewinnen;  und  sobald  man  sie  hypostasiert 
und  sie  sich  vorstellt  als  besondere  Wesen,  ausgestattet 
mit  Leben  und  mit  Eigenschaften  — und  so  denkt  sie 
sich  alle  spekulative  Philosophie  mit  Hegel  — , so  hat 
m.an  den  Fundamentalirrtum  begangen,  Fiktionen  in 
Wirklichkeiten,  provisorische  logische  Mitte  1- 
gebildein  reale,  definitive  Wesen  zu  verwandeln. 
Aus  diesem  Irrtum  entstehen  dann  jene  „questions  frivoles"', 
wie  sie  Condillac  nennt,  jene  verz\vickten  und  anschei- 
nend tiefsinnigen  Fragen,  die  in  ihrer  Falschheit  mid 
Verkehrtheit  nur  erkennbar  sind,  wenn  man  auf  die  kon- 


Die  absfrakt.en  Begriffe  als  Fiktionen. 


200 


kreten  Dinge  zurückkehrt.  „Ein  bösartiger  Geist“,  ruft 
Gruppe  aus  (311),  „gab  dieses  Mittel  dem  Menschen,  — 
und  doch  war  es  eben  der  Geist  der  Kultur  selbst,  welche 
ohne  dieses  Mittel  kaum  einen  Schritt  tun  konnte.“  So- 
mit sind  die  Abstrakta  zwar  notwendige  Hilfsmittel  des 
Denkens,  und  sie  entsprechen  einem  praktischen  Bedürf- 
nis — aber  sie  geben  keine  theoretische  Erkenntnis,  man 
mag  sie  drehen  und  wenden,  definieren  und  distinguieren, 
wie  man  will.  Man  verwechselt  Faktum  und  Fik- 
tum,  Sache  und  Mittel,  wenn  man  aus  diesen  Hilfs- 
ausdrücken etwas  folgern  will.  Es  ist  ein  gänzliches 
Verkennen  des  Instrumentes,  dessen  man  sich  bedient: 
man  nimmt  das  Instrument  für  die  Sache,  zu 
deren  Bearbeitung  es  dient. 

Gruppe  spricht  das  Gesetz  der  Fiktionen  ganz  allgemein 
ans  mit  den  denkwürdigen  Worten:  „Unsere  for- 
schende Wissenschaft  ist  eine  stete  Regula 
falsi^  sie  muß,  um  nur  einen  Ansatz  ihres 
Exernpels  zu  haben,  von  irgendeiner  Voraus- 
setzung und  Annahme  ausgehen,  welche  sie 
dann  im  Verfolg  zu  korrigieren  und  modifi- 
zieren sucht.“  Als  ein  Beispiel  dieser  allgemeinen 
Regel  sind  die  Abstrakta  und  ihr  Gebrauch  zu  betrachten; 
wir  machen  hei  denselben  Fehler,  welche  nach- 
her wieder  zu  korrigieren  sind.  Wir  setzen  an 
Stelle  des  Konkreten  Abstraktes,  und  nachher  muß  für 
das  Abstrakte  wieder  Konkretes  eingesetzt  werden.  Was 
wir  bei  ihrer  Bildung  wegnehmen,  subtrahieren,  muß  bei 
der  definitiven  logischen  Rechnungsablage  wieder  hin- 
zugefügt, addiert  werden. 

Obgleich  Hegel  die  Leerheit  der  abstrakten  Begriffe  voll- 
ständig einsah,  obgleich  er  erkannte,  daß  das  Denken 
mit  ihnen  auf  Widersprüche  führt,  fand  er  gerade  darin 
das  Wesen  des  Realen.  Hatte  Platon  die  abstrakten  Sub- 
stantiva  als  höhere,  mit  bevorzugter  Realität  ausgestattete 
Wesen  betrachtet,  so  findet  Hegel  in  ihnen  wirksame  kos- 
mische Kräfte.  Es  sind  diese  Abstrakta  aber  nur  Rech- 
nungsvorteile, logische  Kunstgriffe;  „die  Frage  nach  ihrer 
Realität  hat“,  wie  Gruppe  ganz  richtig  bemerkt,  „hier 
gar  keinen  Sinn,  und  das  Unmögliche  kann  ebensogut 
als  vorübergehender  Ausdruck  das  Seinige  leisten,  wie 

Vaihinger,  Philosophie.  14 


210 


Zweiter  Teil;  Spezielle  Auslühriingen. 


in  der  Mathematik  der  Ausdruck  ^ — 1 ; ganz  wie  letzterer 
eine  imaginäre  Größe,  d.  h.  eine  bloße  Fiktion  ist,  so  auch 
mit  der  Sprache,  welche  man  in  vielen  Fällen  für  nichts 
anderes  als  ein  Papiergeld  zu  achten  hat.“  So  hat  Gruppe 
in  bezug  auf  die  abstrakten  Begriffe  die  Natur  der  Fik- 
tion sehr  richtig  eikannt,  ohne  damals  gehört  zu  werden. 


§13. 

Die  Allgemeinbegriffe  als  Fiktionen. 

Ein  beliebter  Kunstgriff  des  Denkens,  der  sich  an  die 
Abstraktion  unmittelbar  anschließt,  sind  die  Zusammen- 
fassungen, welche  zu  Allgemeinbegriffen  führen. 

Das  Wort  ist  ein  fruchtbares  Hilfsmittel  für  die  Fixie- 
rung von  Allgemeinbildern.  Das  Wort  unterstützt  den 
begrifflichen  Typus.  Dieser  bekommt  eben  eine  neue 
Art  Anschaulichkeit,  resp.  eine  sinnliche  Stütze  durch 
das  hörbare  Wort.  Aber  es  läßt  sich  z.  B.  für  das  Wort 
„Baum“  keine  deckende  Anschauung  nachweisen.  Die 
Anschauung  hat  immer  entweder  einen  grünen  oder  einen 
trockenen,  einen  hohen  oder  niedrigeren  usw.  Ba.um  zum 
Inhalt:  Das  Wort  „Baum“  dagegen  bezeichnet  ein  Etwas, 
welches  in  allen  Anschauungen  vom  Baume  vorkommt, 
welchem  aber  jede  nähere  Bestimmung  fehlt  = es  be- 
deutet einen  Baum,  welcher  nicht  belaubt  und  nicht 
blätterlos,  nicht  reich  und  nicht  arm  an  Zweigen  usw.  ist. 

Was  ist  nun  aber  im  Verhältnis  zur  realen  Wirklich- 
keit das  Allgemeinbild,  was  der  Begriff?  Objektiv  gibt  es 
nur  Einzelnes,  gibt  es  nur  Getrenntes.  Wir  sahen 
eben,  daß  der  Vorstellung  „Baum“  nichts  Reales  ent- 
spricht, was  sich  mit  ihr  deckt.  Also  weicht  auch  hier 
das  Denken  von  der  Wirklichkeit  ab.  Es  gibt 
nur  einzelne  „Sterne“,  keinen  „Stern“,  es  gibt  nur  ein- 
zelne „Hunde“,  keinen  „Hund“  überhaupt.  Es  gibt  nur 
einzelne  „Menschen“,  keinen  „Menschen“  überhaupt.  Alle 
diese  Vorstellungen  stellen  absolut  nichts  Wirkliches  dar: 
wirklich  ist  nur  das  einzelne  Geschehen,  welches  der 
Seele  zugetragen  wird,  welches  sie  aufnimmt  und  ver- 
arbeitet. In  diesem  allgemeinen  Flusse  bilden  sich  Knoten- 


Die  Allgemeinbegriffe  als  FikUonen. 


211 

punkte,  indem  sich  einige  prominente  Eigenschaften  als 
Kern  konstituieren. 

Also  „Stern“,  „Hund“,  „Mensch“  sind  Vorstellungen, 
denen  keine  Wirklichkeit  entspricht.  Diese  Be- 
griffe sind  demnach  psychische  Gebilde,  welche  das  Den- 
ken aus  dem  gegebenen  Material  herausarbeitet  vermöge 
des  dargelegten  psychischen  Mechanismus.  Allein  diese 
rein  mechanischen  Produkte  des  psychischen  Lebens  er- 
füllen einen  ungeheuer  wichtigen  Zweck.  Der  Begriff, 
die  Allgemeinvorstellung  für  sich  bedeuten  noch  keine 
Erkenntnis;  — abgelöst  und  isoliert  vom  Satz  sind  sie 
fiktive  Gebilde,  denen  nichts  Wirkliches  korrespondiert. 

Allein  an  die  Allgemeinvorstellung  knüpft  sich  der  Satz 
an,  sie  drängt  von  selbst  zum  Satz.  Vermittels  dieses 
an  die  Allgemeinvorstellung  angehefteten  Satzes  wird 
nun  der  eigentliche  Zweck  des  Denkens  erreicht;  nur  da- 
durch ist  das  allgemeine  Urteil  möglich;  und  darauf 
beruht  alles  Klassifizieren,  Ordnen,  alles  Begreifen,  Be- 
weisen und  Schließen. 

Was  ist  denn  aber  jenes  Allgemeinbild,  unter  das  der 
einzelne  Fall  subsumiert  wird?  Es  ist  eine  reine  Fik- 
tion — denn  ihm  läßt  sich  nichts  Wirkliches 
als  in  der  Außenwelt  existierend  und  ihm  kor- 
respondierend nachweisen.  Nichtsdestoweniger  ist 
doch  auch  hier  der  Gewinn,  welcher  durch  diesen 
Kunstgriff  des  Denkens,  nämlich  die  Bildung  von 
Allgemeinbildern  durch  Generalisation,  erreicht  wird,  ein 
sehr  erheblicher.  Es  werden  durch  die  Allgemeinvorstel- 
lungen auch  die  allgemeinen  Urteile  ermöglicht;  z.B. 
„der  Stein  ist  hart“,  „der  Hund  ist  treu“,  „der  Mensch  ist 
sterblich“.  Allein  bei  genauerer  Betrachtung  zeigt  sich, 
daß  diese  Redeweise,  diese  Denkweise,  so  sehr  sie  den 
Ausdruck  und  das  Denken  erleichtert,  doch  nur  auf  einem 
Kunstgriff  beruht.  Es  wird  hier  von  Dingen  ge- 
sprochen, und  es  werden  ihnen  Eigenschaften  zugefügt,  — 
aber  es  wird  von  Dingen  gesprochen,  welche  doch 
nimmermehr  existieren.  Es  wird  auf  diese  reinen 
Vorstellungsgebilde  die  Dingkategorie  angewandt,  sie  wer- 
den also  als  objektive  Wesen  behandelt,  denen  Eigen- 
schaften angehören.  Diese  Ausdrucksweise  ist  zwar  sehr 
bequem  und  fruchtbar;  denn  sie  gestattet  die  Zusammen- 


212 


Zweiler  Teil;  Spezielle  Ausfüliruiigen. 


fassung  vieler  Einzelnen,  nichtsdestoweniger  ist  daran 
festzuhalten,  daß  der  durch  Abstraktion  gebildete  Begriff 
nur  ein  Vorstellungsgebilde,  d.  h.  eine  Fiktion  ist. 

Es  wäre  unnötig,  hierüber  weiter  Worte  zu  verlieren, 
wenn  nicht  in  der  Philosophie  die  Meinung  aufgetreten 
wäre,  diesen  Vorstellungsgebilden  entspreche  etwas  Objek- 
tives, sie  seien  also  keine  Fiktionen,  sondern  Hypo- 
thesen, wenn  also  nicht  an  Stelle  des  allein  existieren- 
den Einzelnen  das  Allgemeine  und  Begriffliche  für  real  er- 
klärt Avorden  wäre.  Hier  ist  ein  Beispiel,  wie  ein  for- 
meller Kunstgriff  des  Denkens  zu  einem  Irrtum  Anlaß 
gegeben  hat. 

Vermittels  der  Fiktion  eines  allgemeinen  Din- 
ges ist  es  nun  dem  Denken  möglich,  viel  rascher  und 
sicherer  zu  operieren,  als  wmnn  es  alles  Einzelne  stets 
einzeln  aufzählen  müßte.  Nur  durch  diese  praktische  Zu- 
sammenfassung ist  der  eigentliche  Bau  der  Wissenschaft 
möglich:  Das  Beweisen,  Schließen,  Deduzieren,  die  durch 
die  Allgemeinbegriffe  erst  ermöglichten  allgemeinen  Sätze 
vermitteln  den  wissenschaftlichen  Verkehr.  Allein  es  darf 
nicht  vergessen  werden,  daß  die  allgemeinen  Urteile,  wenn 
an  ein  allgemeines  Subjekt  angeknüpft,  nur  eine  be- 
queme Ausdrucksweise  sind.  Ein  solches  Allgemein- 
subjekt existiert  ja  nicht. 

Die  schlimmen  Folgen  einer  entgegengesetzten  Auf- 
fassung machten  sich  geltend.  Aber  indem  die  Begriffe 
von  Philosophen,  von  Platon  bis  Hegel,  und  bis  über 
diesen  hinaus  weit  hinein  in  die  Gegenwart,  als  objek- 
tiv existierend  aufgefaßt  werden,  sollen  ihnen  Dinge 
an  sich  entsprechen;  sie  sollen  gegenüber  dem  Einzelnen 
das  bleibende  Wesen  ausdrücken;  dieses  bleibende 
Wesen  wird  zu  einem  Kraftding  hypostasiert,  welches 
dann  als  der  allgemeine  reale  Grund  der  einzelnen 
Erscheinungen  gefaßt  wird.  Zu  allem  Wahrgenommenen 
wird  nun  das  Ding  als  dessen  Grund  und  Wesen  hinzu- 
gedacht. Und  je  allgemeiner,  desto  mächtiger  und 
wirksamer  soll  dieser  Grund  sein,  der  immer  mehr 
hypostasiert  wird.  Die  Allgemeinbegriffe  gelten  nun  als 
das  subjektive  Gegenbild  wirklich  existierender 
kraft  begabt  er  Substanzen,  welche  als  die  hinter 


Die  Allgeineinbegriffe  als  FiklioneM, 


213 


und  über  den  Einzelnen  stehenden  Kräfte,  Quellen,  aus 
denen  das  Einzelne  fließen  soll,  aufgefaßt  werden. 

Hier  haben  wir  nun  den  Gipfel  des  ]\lißbrauches,  dei 
mit  den  logischen  Formen,  die  doch  bloße  Kunst- 
griffe des  Denkens  sind,  getrieben  wird.  Die  Pro- 
dukte des  Denkens  werden  hypostasiert,  und  das  wirklich 
Seiende  wird  verachtet.  Wirklich  sind  aber  nur  die  ein- 
zelnen Phänomene,  die  einzelnen  sukzedierenden  und 
koexistierenden  Phänomene.  So  werden  wiederum  die 
bloßen  Hülsen  des  Denkens  an  Stelle  des  Kerns  gesetzt. 
Es  wird  eine  wahre  Hierarchie  der  Begriffe  ge- 
bildet, wonach  die  niederen  sukzessive  in  höhere  ein- 
geschlossen werden,  bis  zuletzt  nur  ein  ganz  allgemeiner 
und  umfassender  Begriff,  der  des  Etwas,  übrig  bleibt.  Die 
künstlich  und  kunstreich  ausgedachten  Begriffe  bilden 
nicht  nur  ein  maschenreiches  Netz,  dessen  einzelne  Ringe 
ineinander  eingreifen,  sondern  auch  eine  Leiter,  deren 
Sprossen  Übereinanderliegen.  Das  Denken  schafft  sich  so 
ein  überaus  künstliches  Hand  w e r k s z e u g zur  Erfassung 
und  Bearbeitung  des  Wirklichkeitsstoffes,  aber  eben  ein 
bloßes  Werkzeug,  das  wir  oft  für  die  Sache  selbst  nehmen. 

Der  extreme  Nominalismus  verwirft  den  Gebrauch  von 
Denkformen,  auf  denen  doch  alle  menschliche  Wissen- 
schaft beruht,  und  verkennt  die  praktische  Brauchbarkeit 
solcher  logischen  Kunstgriffe.  Der  Begriffsrealismus  da- 
gegen folgt  dem  ebenso  unvernünftigen  als  unverwüst- 
lichen Hange  des  Menschengeschlechts,  alles  Subjektive 
zu  objektivieren,  alles  bloß  Logische  zu  hypostasieren. 
Jener  Personifikationstrieb  des  menschlichen  Geschlech- 
tes, den  Lange  in  seiner  „Geschichte  des  Materialismus“ 
häufig  gekennzeichnet  hat,  ist  auch  bei  der  Realisierung 
der  Allgemeinbegriffe  im  Spiele : wir  bringen  das  Allge- 
meine unter  die  beliebte  Substanzkategorie,  fassen  es  als 
Ding  mit  Eigenschaften  und  Kräften.  Der  unkritische 
Sprachgebrauch  hat  aus  dem  alles  personifizierenden 
Kindeszeitalter  der  Menschheit  diese  Redeweise  mit  her- 
übergenommen : wie  der  Astronom  noch  vom  Auf-  und 
Untergang  der  Sonne  spricht,  so  wenden  auch  wir  jene  be- 
quemen Hilfsausdrücke,  die  Allgemeinbegriffe  an^  als  ob 
das  Allgemeine  wirklich  etwas  Existierendes 
wäre.  Wenn  sie  die  Seele  des  Allgemeinen  als  ein  Ding  mit 


214 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Eigenschaften  betrachtet,  so  soll  ihr  das  bequeme 
und  brauchbare  Spiel  nicht  versagt  sein,  nur  soll 
sie  nicht  Ernst  daraus  machen  und  das  Als  ob 
nicht  in  ein  starres  Daß  verwandeln.  Sonst  wird  aus  den 
Hülsen  ein  Kern  gemacht,  und  das  wahrhaft  Kernhafte  am 
Dasein,  die  Einzelerscheinung  und  der  Einzelvorgang  wer- 
den als  bloße  Nebensache  angesehen.  In  diesem  Sinne  hat 
daher  Mill  mit  vollem  Recht  das  Allgemeine  nur  als 
logischen  Durchgangspunkt  für  das  Einzelne  be- 
trachtet: das  Allgemeine,  die  Bildung  von  Allgemein- 
hegriffen ist  ein  bequemes  Denk  mittel. 

Mit  dieser  Vermittlung  ist  die  Leistung  des  Allgemeinen 
zu  Ende,  und  es  wird  aus  der  Denkrechnung  herausf allen, 
wenn  es  gelungen  ist,  vermittels  desselben  das  Einzelne;, 
das  uns  interessiert,  zu  bestimmen.  Die  Allgemein- 
begriffe und  Allgemeingesetze  spielen  also  nur 
ein3  dienende  Rolle. 

Vieles  von  dem,  was  über  die  abstrakten  Begriffe  ge- 
sagt wurde,  gilt  auch  von  den  Allgemeinbegriffen“.  Be- 
sonders das  meiste  von  dem,  was  dort  von  Coiidillac 
angeführt  wurde,  ist  auch  für  diese  Art  von  Begriffen  be- 
stimmt, da  Condillac  beide  Gattungen  nicht  trennt.  Er 
nennt  die  Allgemeinbegriffe  des  idees  sornmaires  et  des 
expressions  abregees,  denen  man  nicht  mehr  Realität  zu- 
schreiben solle,  als  sie  haben;  sie  sind  notwendige 
Hilfsmittel  des  Denkens;  sie  sind  notwendig  wegen 
der  Enge  unseres  Geistes;  nur  der  diskursive  Verstand 
bedarf  ihrer,  nicht  der  intuitive,  göttliche.  Condillac  ver- 
gleicht die  Begriffe  mit  Hebeln,  welche  der  Verstand  an- 
wendet, um  sich  die  Natur  zu  unterwerfen;  mittels  ihrer 
nimmt  der  Geist  seinen  Aufschwung*,  erhebt  sich,  gelangt 
zum  Unbekannten  und  bringt  Ordnung  in  seine  Kennt- 
nisse. Darin  liegt  eben,  daß  die  Allgemeinbegriffe 
nur  fiktive  Hilfsmittel  des  Denkens  sind. 

Dieselben  Irrtümer,  welche  aus  dem  Mißbrauch  und 
der  Verkennung  der  Abstrakta  sich  ergeben,  finden  sich 
auch  hier.  Der  Begriffsrealismus  ist  heutzutage  noch 
nicht  ganz  überwunden,  und  man  denkt  sich  die  Arten 
häufig  genug  noch  als  selbstänclig  existierende  Kräfte  oder 
Substanzen. 


Die  Allgemeinbegriffe  als  Fiktionen. 


215 


Die  formae  substantielles ^ die  species  intentionales,  die 
Essentiae,  das  Wesen  usw.  sind  nach  Condillac  die  Fol- 
gen dieser  Verwechslung  von  Fiktion  und  Realität  ge- 
wesen. Die  Begriffe:  Körper,  Tier,  Mensch,  Metall,  Gold, 
Silber  usw.  enthüllen,  wie  er  bemerkt,  in  den  Augen  der 
Philosophen  Wesen,  welche  den  übrigen  Menschen  ver- 
borgen sind.  Es  entstehen  daraus  jene  questions  frivoles: 
ob  Eis  und  Schnee  Wasser  seien,  ob  eine  Mißgeburt  ein 
Mensch  sei,  ob  die  Geister  Substanzen  seien  usw.,  Fra- 
gen, welche  voraussetzen,  daß  die  Fragenden  an  die 
Existenz  gewisser Essentien,  gewisser  Realitäten  glauben, 
welche  mit  den  Allgemeinbegriffen  bezeichnet  werden. 
Auch  die  Meinung,  durch  subsummierende  Definition  eines 
Dinges,  durch  Angaben  seines  Gattungsbegriffes  eine  Er- 
kenntnis zu  gewinnen,  ist  — nach  Condillacs  richtiger 
Bemerkung  — einer  jener  daraus  resultierenden  Irrtümer. 

Ganz  so  betrachtete  schon  Locke  die  Allgemeinbegriffe. 
Die  Allgemeinvorstellungen  sind  Gebilde  oder  Erfindun- 
gen der  Seele.  Locke  hebt  hervor,  daß  diese  Allge- 
meinvorstellungen in  sich  widerspruchsvoller  Natur  seien, 
weil  z.  B.  ein  Dreieck  weder  schief-  noch  rechtwinklig, 
weder  gleichseitig  noch  ungleichseitig  sein  dürfe  und  doch 
zugleich  alle  diese  Formen  umfassen  müsse.  Somit  ist 
eine  Gesamtvorstellung  etwas,  was  nicht  bestehen  könne, 
denn  es  seien  darin  unverträgliche  Vorstellungen  verbun- 
den. Allerdings  aber,  setzt  er  hinzu,  „braucht  die  Seele, 
bei  ihrem  unvollkommenen  Zustande,  solche  Vorstellun- 
gen und  sucht  sie  wegen  der  Beweglichkeit  für  den  Ver- 
kehr und  der  Ausdehnung  des  Wissens  so  schnell  als 
möglich  zu  gewinnen“.  In  diesen  Worten  spricht  Locke 
das  Wesen  der  Fiktion  mit  klarem  Bewußtsein  aus: 
die  Allgemeinbegriffe  tragen  in  der  Tat  den  Charakter 
echter  Fiktionen  an  sich:  sie  sind  widerspruchsvolle  Ge- 
bilde, sie  sind  logisch  unmögliche  Erdichtungen,  aber  sie 
sind  unentbehrliche,  nützliche  Hilfsmittel  des  Denkens: 
sie  sind  logisch  nützlich,  weil  sie  logisch  unmöglich  sind. 
Das  Denken  kann  sie  nur  darum  für  seine  Zwecke  ge- 
brauchen, weil  sie,  vom  streng  logischen  Standpunkt  aus, 
theoretisch  widerspruchsvoll  sind.  Man  kann  mit  einem 
Oxymoron  sagen:  sie  sind  logisch  nur  darum  brauchbar, 
weil  sie  — logisch  unbrauchbar  sind. 


216 


Zweiter  Teil : Spezielle  Ausfüliruiigeii. 


§14. 

Summatorische  Fiktionen;  Nominalhktionen, 
Substitutionen. 

Derselbe  Prozeß,  welcher  der  Bildung  der  Allgeineiii- 
begriffe  zugrunde  liegt,  wird  in  wenig  veränderter  Weise 
auch  sonst  häufig  angewandt  und  gibt  dann  Anlaß  zur 
Entstehung  der  summatorischen  Fiktion.  Als  ein 
prominenter  Fall  dieser  Klasse  ist  der  Siibstanzbegriff 
anzuführen,  also  das  Ding.  Wir  sprechen  Von  Dingen  mit 
Eigenschaften:  wir  sagen,  der  Baum,  dieser  Baum,  der 
vor  mir  steht,  hat  die  Eigenschaften  der  Ausdehnung, 
Härte,  Glätte,  diese  oder  jene  Figur,  diese  oder  jene  Größe. 
Was  ist  nun  dieses  Ding,  das  diese  Eigenschaften  hat? 
Diese  Substanz,  sagt  Taine  richtig,  ist  der  unbestimmten 
Reihe  ihrer  bekannten  und  unbekannten  Eigenschaften 
vollständig  äquivalent.  Wenn  man  alle  Eigenschaften 
sukzessiv  wegnimmt,  so  bleibt  keine  Substanz  mehr;  sie 
ist  das  Zusammen,  die  Eigenschaften  sind  die  einzelnen 
Faktoren  dieses  Zusammen:  das  Subjekt  ist  die  Summe 
seiner  Attribute.  „Mein  Substanzbegriff  ist  also  nur  ein 
Resümee;  er  ist  äquivalent  der  Summe  der  Vorstellungen, 
welche  ihn  zusammensetzen,  wie  eine  Zahl  der  Summe 
der  Einheiten,  wie  ein  Abbreviatursymbol  den  Dingen,  für 
welche  es  als  abkürzendes  Zeichen  steht  i).“ 

Somit  ist  der  Begriff  eines  Dinges  nichts  als 
eine  summatorische  Fiktion,  und  die  Redeweise, 
daß  das  Ding  die  und  die  Eigenschaft  habe,  beruht  auf  der 
Hilf  s vor  Stellung,  als  ob  dieses  Zusammen  noch  etwas 
außer  und  neben  den  Eigenschaften  wäre,  wie  die  Gat- 
tung noch  als  etwas  außer  und  neben  der  Vielheit  der 
Einzeldinge  Existierendes  gedacht  wird. 

Solche  Abbreviaturen  vermittels  Hilfsworten,  die  man 
daher  auch  Verbalfiktionen  nennen  kann,  werden 
in  allen  Wissenschaften  angewandt.  Eine  ganze  Reihe 
wohlbekannter  Begriffe,  z.  B.  „Seele“,  „Kraft“,  die  ver- 
schiedenen „Seelenvermögen“  usw.  gehört  hierher.  Wäh- 
rend diese  Begriffsgebilde  früher  häufig  und  auch  jetzt 
noch  als  Ausdrücke  realexistierender  Entitäten  galten 


q Taine,  de  ITntelligence  II,  12. 


Summa  torische  Fiktionen,  Noniinalfiktionen,  Substitutionen.  217 

und  gelten,  sind  sie  in  Wahrheit  nur  zusainmenfassende 
Ausdrücke  für  eine  Reihe  zusammengehöriger  Phäno- 
mene und  zusammenhängender  Prozesse.  Ein  lehrreiches 
Beispiel  hierfür  ist  „die  Anziehungskraft“.  Newton  sagt 
ausdrücklich,  daß  er  ferne  davon  sei,  eine  solche  Kraft 
als  etwas  Besonderes  neben  den  Erscheinungen  anzu- 
iiehmen;  er  betrachtet  den  Ausdruck  nur  als  eine  summa- 
torische,  abkürzende  Redensart  für  das  Zusammen  aller 
hierhergehörigen  Erscheinungen  und  naturgesetzlichen 
Vorgänge. 

So  ist  auch  „Lebenskraft“  — im  Munde  der  neueren 
Naturwissenschaft  - - nur  eine  Abbreviatur  für  das  Ganze 
der  die  Lebenserscheinungen  beherrschenden  Ursachen, 
Nur  im  Kopfe  von  Dilettanten  spukt  die  Lebenskraft  noch 
als  eine  besondere  Realität,  so  daß  also  hier  das  Vorstel- 
lungsgebilde als  Hypothese  oder  gar  als  sicheres  Dogma 
gilt:  die  exakte  Physiologie  und  Medizin  gebraucht  deu 
Ausdruck  nur  als  ein  bequemes  Hilfswort.  Ein  solcher 
Begriff  hat  weiter  keinen  Wert  als  den  praktischen,  näm- 
lich um  der  Zusammenfassung  des  Vielen  und  der  Er- 
leichterung der  Ausdrucksweise  zu  dienen.  In  solchen 
Nominalfiktionen  ist  nichts  weiter  gesagt,  als  was 
die  einzelnen  Phänomene  selbst  sagen  können,  und  wenn 
man  durch  solche  Worte  etwas  begriffen  und  gesagt  zu 
haben  glaubt  — eine  Naivetät,  die  noch  weit  in  die 
Gegenwart  hineinreicht  — , so  vergißt  man,  daß  diese  Aus- 
drücke rein  t autologisch  sind. 

„Kraft  überhaupt“  ist  eine  solche  tautologische  Fiktion. 
Kraft  ist  nichts  als  eine  leere  Verdoppelung  der  Tatsachen, 
nämlich  der  kausalen  Sukzessionsverhältnisse.  Man 
schiebt  in  der  Phantasie  ' dieses  Gebilde  ein  und  glaubt 
damit  den  Sachen  genug  getan  zu  haben.  Für  die  posi- 
tive Wissenschaft  und  eine  auf  ihr  aufgebaute  Philo- 
sophie hat  daher  dieser  Begriff  nur  den  Wert  einer  be- 
quemen Fiktion,  welche,  wie  die  Vorstellungs-,  so 
die  Ausdrucksweise  erleichtert.  Die  Annahme  geheimer 
Kräfte,  welche  die  Sukzession  der  Phänomene  beherr- 
schen, hilft  zur  theoretischen  Erklärung  gar  nichts  und 
kann  deshalb  nicht  als  eine  Hypothese  anerkannt  werden, 
wenn  sie  auch  historisch  fast  immer  als  eine  solche  auf- 
getreten ist.  Mit  dem  Fortschritt  der  Kritik  dorren  solche 


218 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausfühniugen. 


Fehlzweige  am  Baume  der  Wissenschaft  ab  und  tun  nur 
noch  praktische  Dienste,  indem  sie  die  Vorstellung 
unterstützen.  Die  wahre  und  exakte  Wissenschaft  be- 
gnügt sich  damit,  die  Fakta  zu  sammeln,  um  in  ihnen 
die  gemeinsamen  Grundzüge  und  kausalen  Folgen  aufzu- 
finden. Die  Einbildung  früherer  Jahrhunderte^  daß  gewisse 
Erscheinungskreise  unter  der  Wirkung  gewisser  „Kräfte“ 
stehen,  diese  Einbildung  ist  als  solche  durchschaut,  und 
man  behält  die  ganze  Vorstellungsweise  nur  noch  bei, 
weil  sie  ein  bequemes  Vehikel  der  Darstellung 
und  des  Ausdruckes  ist.  Die  Verdoppelung  der  Er- 
scheinungen, indem  man  sie  nochmals  als  Kräfte  ansetzt, 
ist  wissenschaftlich  wertlos,  hat  aber  einen  gewissen 
praktischen  Nutzen. 

In  bezug  auf  die  „Seele“  ist  man  in  wissenschaftlichen 
Kreisen  jetzt  allgemein  darüber  einig,  daß  man  in  diesem 
Begriff  nur  eine  Fiktion  besitzt.  Man  spricht  von  einer 
Seele,  als  ob  es  wirklich  ein  getrenntes,  einheitliches, 
einfaches  Seelenwesen  gäbe,  obgleich  man  sich  wohl  be- 
wußt ist,  sich  dabei  nur  einer  Fiktion  zu  bedienen.  Auch 
die  „Seele“  ist  nur  eine  summatorische  Fiktion,  ohne 
eigene  Realität.  An  diesem  Begriff  läßt  sich  das  Gesetz 
der  Ideenverschiebung  sehr  gut  studieren:  zuerst  ist 
„Seele“  Dogma,  dann  Hypothese,  dann  Fiktion.  FürHume 
und  Kant  ist  die  Seele  nur  eine  Fiktion.  Kants  Nachfolger 
haben,  unfähig,  die  Fiktion  in  ihrem  labilen  Zustand  fest- 
zuhalten, und  aus  Bedürfnis  nach  stabileren  Begriffen, 
aus  der  Fiktion  vielfach  eine  Hypothese  oder  gar  ein 
Dogma  gemacht.  Für  den  Kritizismus  ist  „Seele“  nichts 
als  ein  bequemer  Hilfsausdruck  für  die  Gesamtheit  der 
psychischen  Vorgänge.  Man  spricht  so,  als  ob  es  eine 
Seele  gäbe. 

Für  diese  Hilf  sw  orte  gilt  der  Satz,  daß  eben,  wo 
Begriffe  fehlen,  die  Worte  sich  zur  rechten  Zeit  ein- 
stellen. Denn  wenn  z.  B.  die  Chemie  eine  Reihe  ihr  un- 
erklärlicher Prozesse  einer  „katalytischen  Kraft“  zu- 
schreibt, so  will  sie  mit  dieser  Nominalfiktion  nur 
einen  bequemen  Ausdruck  geschaffen  haben,  welcher 
einstweilen  dienend  fungieren  soll,  bis  die  richtige  Er- 
klärung gefunden  ist.  Solche  Worte  sind  nur  Schalen, 
welche  den  sachlichen  Kern  Zusammenhalten  und  auf- 


NaturkrUfte  und  Naturgesetze  als  Fiktionen. 


219 


bewahrea  sollen.  Und  wie  die  Scliale  sich  in  ihrer  Form 
dem  Kerne  anschmiegt  und  seine  Gestalt  verdoppelt 
wiedergibt,  so  sind  auch  diese  Hilfsworte  nur  lauter 
logische  Wiederholungen  ohne  sachlichen  Wert.  Die  be- 
kanntesten Beispiele  sind  ja  die  vis  dormitiva  und  der 
nisus  formativiis.  — Aber  solche  Ausdrücke  zu  ver- 
werfen, das  hieße  ihre  praktische  Brauchbarkeit  und 
Handlichkeit  verkennen  und  sich  ohne  Not  eines  be- 
quemen Mittels  berauben,  zumal  da  heutzutage  die 
Gefahr  des  Mißbrauches  nicht  mehr  so  nahe  liegt  und 
durch  methodologische  Einsicht  vollständig  überwunden 
werden  kann. 

Es  wird  bei  diesen  Ausdrücken  eine  Substitution 
vorgenommen,  indem  wir  an  Stelle  des  realen  Einzelnen 
den  summatorischen  Ausdruck  setzen.  Diese  Methode  der 
Substitution  dient  auch  sonst  als  bequemes  Hilfs- 
mittel des  Denkens.  Es  können  sogar  alle  Fiktionen  als 
Substitutionen  im  weiteren  Sinn  betrachtet  werden,  indem 
ja  an  Stelle  der  Wirklichkeit  irgendein  Unwirkliches  pro- 
visorisch gesetzt  wird.  Als  Substitutionen  im  engeren 
Sinn  sind  hier  solche  logischen  Operationen  aufzuzählen, 
bei  denen  eine  Vorstellung  stellvertretenderweise  als 
Symbol  für  ein  anderes  fungiert. 

Die  substitutive  Verwendung  ist  insbesondere  in  der 
Mathematik  gebräuchlich.  Es  ist  einer  der  häufigsten 
Kunstgriffe  der  Mathematik,  solche  stellvertretenden  Sym- 
bole zu  bilden.  Die  ganze  Algebra  beruht  auf  solcher 
substitutiven  Verwendung  der  Buchstaben  an  Stelle  der 
Zahlen,  und  wenn  dann  weiterhin  z.B.  für  x y etwa  u 
gesetzt  \vird  — zur  Erleichterung  der  Rechnung  — so  ist 
dies  ebenfalls  ein  substitutiver  Kunstgriff. 


§15. 

Naturkräfte  und  Naturgesetze  als  Fiktionen, 

Im  Gebiete  der  Naturerscheinungen  bedarf  es  häufig 
zusammenfassender  Ausdrücke,  welche  eine  b e - 
queme,  handliche  Formel  für  eine  Reihe  — an  sich 
Linerforschlicher  oder  auch  bekannter  — Phänomene  bil- 


220 


Zvveiler  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


den.  So  ist  es  z.  ß.  mit  dem  ßegriff  der  Affinität.  Für 
die  wissenschaftliche  Chemie  ist  dieser  Ausdruck  „nur  ein 
zusammenfassender  Oberbegriff  für  eine  Klasse  von  genau 
beobachteten  und  streng  begrenzten  Erscheinungen^).“ 
Ursprünglich  war  die  Affinität  eine  echt  scholastische 
Qualität,  die  zum  Lieblingsapparat  der  Alchimisten  ge- 
hörte. ,,Im  Anfänge  des  18.  Jahrhunderts  erhoben  sich 
viele,  namentlich  die  Physiker  jener  Zeit,  gegen  diesen 
Ausdruck,  indem  sie  in  dem  Gebraucli  desselben  die  An- 
erkennung einer  neuen  vis  occiilta  fürchteten.  In  Frank- 
reich besonders  waltete  zu  dieser  Zeit  x\bneigung  gegen 
den  Ausdruck  „Affinität“  vor,  und  St.  Geoffroy,  um  diese 
Zeit  (1718  und  später)  eine  der  bedeutendsten  Autoritäten, 
was  chemische  Verwandtschaft  angeht,  vermied  den  Ge- 
brauch desselben.  Statt  zu  sagen:  zwei  vereinigte  Stoffe 
werden  zersetzt,  wenn  ein  dritter  dazukommt,  der  zu 
einem  der  beiden  vorigen  mehr  Verwandtschaft  hat, 
als  diese  unter  sich,  drückte  er  sich  aus : „wenn  er  zu  einem 
derselben  mehr  rapport  hat  2).“ 

Der  Kraftbegriff  überhaupt  ist,  neben  seiner  abstrak- 
tiven  Funktion,  welche  früher  zur  Sprache  kam,  ein 
Hilf  saus  druck,  wie  dies  insbesondere  Fechner  mit 
Energie  betont  hat.  „Weiter  ist  nichts  gegeben  als  Sicht- 
bares und  Fühlbares,  Bewegungen  und  Gesetze  der  Be- 
wegungen. Wo  ist  denn  da  von  Kraft  die  Rede?  Kraft  ist 
der  Physik  überhaupt  weiter  nichts  als  ein  Hilfsaus- 
druck  zur  Darstellung  der  Gesetze  des  Gleichgewichts 
und  der  Bewegung,  und  jede  klare  Fassung  der  physischen 
Kraft  führt  hierauf  zurück.  Wir  sprechen  von  Gesetzen 
der  Kraft;  doch  sehen  wir  näher  zu,  sind  es  nur  Gesetze 
des  Gleichgewichts  und  der  Bewegung,  welche  beim 
Gegenüber  von  Materie  und  Materie  gelten.  Sonne  und 
Erde  äußern  eine  Anziehungskraft  aufeinander,  heißt 
nichts  weiter  als : Sonne  und  Erde  bewegen  sich  im 
Gegenübertreten  gesetzlich  nacheinander  hin:  nichts  als 
das  Gesetz  kennt  der  Physiker  von  der  Kraft;  durch  nichts 
sonst  weiß  er  sie  zu  charakterisieren . . . Alles,  was  der 
Physiker  aus  Kräften  ableitet,  ist  nur  eine  Ableitung  aus 
Gesetzen  mittels  des  Hilfs Wortes  Kraft.“ 

h Lange  a.  a.  0.  II,  186. 

Ko  pp,  Geschichte  der  Chemie  II,  209. 


Die  AtomisUk  als  Fiklion. 


2*21 


Auch  „das  Gesetz“  ist  schließlich  nur  ein  Hilf  saus - 
druck  für  die  Gesamtheit  der  Relationen  unter  einer 
Gruppe  von  Erscheinungen  i).  Das  „Gesetz“  steht  formell 
durchaus  dem  Gattungsbegriffe  gleich,  den  wir  schon 
als  eine  zusammenfassende  Fiktion  erkannt  haben.  Wenn 
die  bezüglichen  Erkenntnisobjekte  Vorgänge  sind,  so  heißt 
der  Begriff  Gesetz.  Der  Gattungsbegriff  geht  auf  das 
Gebiet  des  (relativ  beharrend  erscheinenden)  Seins^  auf 
Reihen  gleichartiger  oder  ähnlicher  Individuen,  das  Ge- 
setz auf  das  Gebiet  des  Geschehens,  auf  die  Gleichförmig- 
keiten regelmäßig  wiederkehrender  Veränderungen.  Das 
„Gesetz“  ist  weiter  nichts  als  die  Zusammenfassung  kon- 
stanter Relationen,  wobei  von  den  Zufälligkeiten  und 
scheinbaren  Unregelmäßigkeiten  im  einzelnen  abgesehen 
wird:  das  „Gesetz“  ist  somit  eine  summatori- 
sche Fiktion.  Ist  dies  der  Fall,  so  muß  dasselbe  auch 
die  Eigenschaften  einer  solchen  an  sich  tragen;  es  muß 
ein  praktisch  Vv'ertvolles  und  unentbehrliches,  theoretisch 
dagegen  ziemlich  wertloses  Gebilde  sein;  und  ferner  wird 
es,  wie  alle  Fiktionen,  der  Verwechslung  mit  Realitäten 
leicht  ausgesetzt  sein. 


§18. 

Die  Atomistik  als  Fiktion.^) 

Ein  vorzügliches  Beispiel  der  illustrativen  Fiktion 
ist  die  Atomistik.  Die  Beobachtung  zeigt,  daß  die  che- 
mischen Verbindungen  nach  bestimmten,  sehr  einfachen 
Zahlenverhältnissen  zustande  kommen.  Dieses  Faktum 
erfordert  eine  theoretische  Bearbeitung,  und  es  fragt  sich, 
worauf  diese  quantitativen  Erscheinungen  beruhen  mögen. 
Dal  ton  stellte  die  Theorie  auf,  daß  jene  einfachen  Zahlen 
der  Verbindungsgewichte  auf  der  atomistischen  Natur  der 
Elemente  beruhen  möchten.  Jene  auffallende  Regelmäßig- 
keit glaubte  er  am  besten  durch  eine  entsprechende 
Gruppierung  der  Atome  anschaulich  vorstellig  machen  zu 
können.  Wenn  man  sich  je  ein  Atom  der  einen  Substanz 


b Die  weggelassenen  p 16  u.  17  handeln  von  der  , schematischen“ 
bzw.  „illusorischen“  Fiktion. 


222 


Zweiter  Teil : Spezielle  Ausführungen. 


mit  einem  Atom  der  anderen,  oder  auch  mit  mehreren  ver- 
bunden denlct,  so  gewinnt  jene  Regelmäßigkeit  eine  sinn- 
lich klare  und  einfache  Deutung.  F.A.  Lange  bemerkt  nun 
zu  diesem  Beispiel,  daß  das  Bedürfnis  der  sinnlichen  An- 
schaulichkeit eine  unentbehrliche  Bedingung  für  unsere 
Orientierung  in  den  Erscheinungen  sei,  und  daß  diese 
anschauliche  Vorstellungsweise  fast  immer  glänzende  Er- 
folge erziele,  „so  oft  sich  auch  schon  gezeigt  habe,  daß 
alle  diese  Vorstellungsweisen  nur  Hilfsmittel  zur  durch- 
gängigen Herstellung  des  Kausalzusammenhanges  seien 
und  daß  jeder  Versuch,  in  ihnen  eine  definitive  Erkenntnis’ 
der  Konstitution  der  Materie  zu  finden,  alsbald  scheitert. 

Wenn  man  hierzu  die  Äußerung  von  Li e big  herbei- 
zieht, welcher  mit  dürren  Worten  bemerkt,  „wie  man  sich 
die  Elemente  in  der  chemischen  Verbindung  gruppiert 
denke,  beruhe  nur  auf  Übereinkunft,  die  bei  der  herr- 
schenden Ansicht  durch  die  Gewohnheit  geheiligt  sei“, 
wenn  man  ferner  das  Urteil  Schönleins  damit  ver- 
gleicht, welcher  sich  so  äußert:  „Wo  die  Begriffe  fehlen, 
da  stellt  ein  Wort  zur  rechten  Zeit  sich  ein,  und  sicher- 
lich ist  ganz  besonders  in  der  Chemie  mit  Molekülen  und 
ihrer  Gruppierung  seit  Cartesius’  Zeiten  ein  arger  Miß- 
brauch getrieben  worden  in  dem  Wahn,  durch  derartige 
Spiele  der  Einbildungskraft  für  uns  noch  durchaus  dunkle 
Erscheinungen  erklären  und  den  Verstand  täuschen  zu 
können“  — wenn  man  diese  Urteile  zweier  Fachautori- 
täten überlegt,  so  kann  man  jener  Auffassimg  Langes 
nicht  ohne  weiteres  die  Berechtigung  versagen.  Lange 
hat  außerdem'  zu  diesem  Punkte  noch  eine  wichtige  metho- 
dologische Bemerkung  hinzugefügt,  deren  Berücksichti- 
gung wir  hier  nicht  umgehen  können.  Gegenüber  dem  ver- 
werfenden Tadel  Schönleins  macht  er  mit  Recht  darauf  auf- 
merksam, daß  tatsächlich  „diese  Spiele  der  Einbildungs- 
kraft“ gewiß  nicht  dazu  dienen,  „den  Verstand  zu  täu- 
schen, sondern  eher  ihn  zu  leiten  und  zu  stützen  nach  der 
tief  in  der  Erkenntnistheorie  begründeten  Maxime,  daß 
nur  die  strenge  Durchführung  sinnlicher  Anschaulichkeit 
imstande  sei,  unsere  Erkenntnis  vor  dem  weit  gefähr- 
licheren Spiel  mit  Worten  zu  bewahren“.  Und  dazu  die 
höchst  wichtige  Bemerkung,  daß  eine  streng  durchgeführte 
Anschauung,  selbst  wenn  sie  materiell  falsch  sei, 


Die  Atomistik  als  Fiktion. 


228 

oft  in  ausgedehntem  Maße  als  Bild  und  einstweiliger 
Ersatz  der  richtigen  Anschauung  diene. 

Schon  die  Analogie  Gay-Lussacs,  der  die  Atome  nach 
Analogie  der  Differentiale  sich  vorstellte  und  auffaßte^ 
wies  darauf  hin,  daß  wir  es  hier  nur  mit  einer  Fiktion  zu 
tun  haben;  denn  wenn  irgendein  Vorstellungsgebilde,  so 
ist  das  Differential  eine  methodologische  Fiktion. 

Wenn  man  mit  Cauchy,  Ampere,  Segnin  und  Moigno  die 
Atome  als  ausdehnungslose  Zentra  bestimmt,  so  hat  man 
damit  nur  den  Kraftbeziehungen  einen  substantiellen  Unter- 
grund gegeben,  der  aber  bei  schärferer  Untersuchung  sich 
als  ein  höchst  sonderbares  Gebilde  enveist.  Denn  etwas 
Ausdehnungsloses,  das  substantieller  Träger  von  Kräften 
sein  soll  — das  sind  nur  Wortverbindungen,  ohne  daß  wir 
damit  einen  bestimmten  Sinn  verbinden  könnten.  „Ein- 
fache Atome“,  die  also  doch  noch  etwas  Materielles  sein 
sollen,  können  nicht  causae  verae^  können  keine  realen 
Dinge  sein.  Da  nun  aber  der  Physiker  doch  zu  seinen 
Konstruktionen  die  Atome  braucht,  wie  lösen  wir  den 
Zwiespalt,  wie  erretten  wir  die  Wissenschaft  aus  diesem 
Dilemma?  Und  dazu  kommt  noch  der  Unbegriff  eines 
leeren  Raumes  oder  leerer  Zwischenräume  zwischen  den 
Atomen,  in  dem  man  wohl  eine  äußerst  anschauliche  Vor- 
stellung erblicken  kann,  der  aber  nichtsdestoweniger  in 
logischer  Beziehung  an  den  ärgsten  Widersprüchen  krankt. 

Es  ist  wohl,  was  man  bisher  nicht  erkannt  hat,  Kant, 
welcher  zum  erstenmal  auf  den  Ausweg  geriet,  die  atomi- 
stische  Vorstellung  als  eine  bequeme  Hilfsvorstellung 
gelten  zu  lassen,  im  übrigen  aber  definitiv  die  dynamische 
Ansicht  der  stetigen  Raumerfüllung  anzunehmen. 

Kant  vertritt  in  den  „Metaphysischen  Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaft“  die  dynamische  Theorie  der  Ma- 
terie und  nimmt  eine  unendliche  Teilbarkeit  derselben  an ; 
damit  wird  natürlich  auch  der  leere  Raum  verworfen,  da 
seiner  Anschauung  nach  jene  dynamische  Raumerfüllung 
eine  stetige  ist.  Kant  war  aber  doch  andererseits  zu  sehr  an 
physikalisches  Denken  gewöhnt,  als  daß  ihm  nicht  der 
auffallend  methodologische  Vorteil  bekannt  gewesen  wäre, 
der  darin  besteht,  sich  die  Materie,  statt  kontinuierlich, 
sie  als  ein  Zusammen  getrennter  Teilchen  vorzustellen. 
Die  mechanische  Erklärungsart,  sagt  er  daher  (Met.  Auf. 


224 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausfüliningen. 


d.  Nat.  ü.  Hauptst.  Allgem.  Anni.  4),  ist  „der  Mathematik 
am  fügsamsten“.  Allein  (ib.  11.  Hauptst.  Lehrs.  4.  Anm.  1) 
„man  verfehlt  gänzlich  den  Sinn  der  Mathematiker  und 
mißdeutet  ihre  Sprache,  wenn  man  das,  was  zum  Ver- 
fahren der  Konstruktion  eines  Begriffes  notwendig  gehört 
(hier  nämlich  die  Entfernung  der  Teilchen  der  Materie 
voneinander),  dem  Begriffe  im  Objekte  selbst  beilegt; 
denn  nach  jenem  kann  eine  jede  Berühr img  als  eine 
unendlich  kleine  Entfernung  vorgestellt  werden,  welches 
in  solchen  Fällen  auch  notwendig  geschehen  muß,  wo  ein 
großer  oder  kleiner  Raum  durch  eben  dieselbe  Quantität 
der  Materie  als  ganz  erfüllt  vorgestellt  werden  soll. 
Bei  einem  ins  Unendliche  Teilbaren  darf  darum  noch  keine 
wirkliche  Entfernung  der  Teile,  die  bei  aller  Erweite- 
rung des  Raumes  des  Ganzen  immer  ein  Kontinuum  aus- 
macheii,  angenommen  werden,  obgleich  die  Möglichkeit 
dieser  Erweiterung  nur  unter  der  Idee  einer  unendlich 
kleinen  Entfernung  anschaulich  gemacht  werden  kann.“ 

Sonach  unterscheidet  Kant  eine  mathematische  (mecha- 
nischej  Vorstellung  der  Materie,  welche  er  nur  methodisch, 
nicht  aber  ernsthaft  verwerten  will,  und  eine  dynamische, 
welche  er  für  die  wahre  hält,  welche  aber  für  die  mathe- 
matische Rechnung  nicht  so  bequem  ist. 

Dieser  von  Kant  hier  eröffnete  Ausweg,  die  mathe- 
matisch-mechanische Vorstellungsweise  für  bloße  Rech- 
nungshilfe zu  erklären,  ist  von  da  an  sehr  häufig  von 
den  Philosophen  eingeschlagen  worden. 

Nach  Fechner  gibt  es  Physiker  und  Chemiker,  welche, 
„weil  sie  die  höheren  Vorzüge  und  Vorteile  der  Atomistik 
nicht  anzuerkennen  wissen,  ihr  abgeneigt  sind,  die  aber 
zugestehen,  daß  sie  die  bequemste  Weise  sei,  die  Dinge 
darzustellen,  und  man  sich  ihrer  Ausdrücke  wohl  bedienen 
könne,  die  Verhältnisse  vorstellig  zu  machen;  dieselben 
wollen  aber  keine  Konsequenz  daraus  gezogen,  der 
V^orstellungsweise  keine  Realität  beigelegt  wissen“. 
Fechner  kann  es  nicht  unterlassen,  hierzu  folgende  spöt- 
tische Bemerkung  zu  machen ; diese  Leute  erscheinen  ihm 
wie  Personen,  die  sich  zwar  ihrer  natürlichen  Beine  be- 
dienen, weil  sie  die  „bequemsten“  Mittel  sind,  vorwärts 
zu  kommen,  doch  ohne  damit  im  mindesten  zu  behaupten, 
daß  das  auch  ihre  wahren  Beine  sind,  die  vielmehr  noch 


Dio  Atomistik  uis  Fiktion. 


‘i25 

ganz  im  Verborgenen  ruhen  und  hoffentlich  einmal  an  das 
Licht  kommen  werden.  Ich  möchte  dafür  ein  anderes 
Bild  setzen:  mir  scheinen  jene  Leute  vielmehr  da,  wo 
ein  unwegsames  Terrain  ist,  es  so  zu  machen,  wie  jene 
Bewohner  einer  französischen  Gegend,  welche,  anstatt 
auf  ihren  natürlichen  Beinen  zu  gehen  — weil  dies  bei 
dem  Terrain  schwierig  ist  — , auf  künstlichen  gehen,  näm- 
lich auf  Stelzen,  durch  welche  das  Gehen  erleichtert  und 
beschleunigt  wird. 

In  seiner  „Anthropologie“  (1856)  hat  J.  H.  Fichte  die 
mechanische  Atomistik  heftig  bekämpft.  Im  Anschluß  an 
einzelne  Naturforscher  erklärt  Fichte  der  „gemeinen  Ato- 
mistik“ den  Krieg;  sie  ist  ihm  eine  in  sich  gänzlich 
widerspruchsvolle  Hypothese,  also  als  Hypothese  zur 
Erklärung  der  Wirkliclikeit  völlig  unbrauchbar.  Aber 
Fichte  gesteht  ausdrücklich  zu,  daß  sie  eine  sehr  bequeme, 
brauchbare  Fiktion  sei:  er  gibt  zu  (S.  204),  „daß  sie  eine 
bequeme,  an  sich  unschädliche  Fiktion  sei,  sofern  sie  nur 
für  nichts  anderes  und  für  nichts  mehr  erkannt  werde“; 
„sie  ist  eine  zulässige  Fiktion  zum  Behufe  mathematischer 
Messung  und  Berechnung“  (205);  sie  ist  zwar  „eine  will- 
kürliche Voraussetzung“  (216),  aber  eine  „zulässige  An- 
nahme“ (215);  daher  sagt  Fichte,  die  echte  Naturwissen- 
schaft „wendet  die  xVtomistik  bloß  einstweilen  als  zu- 
lässige Fiktion  an,  bis  die  rechte  Erklärung  gefunden  ist“ 
(22);  um  jene  Fiktion  brauchbar  gestalten  zu  können, 
muß  die  Naturforschung  sogar  noch  Hilfsfiktionen  (308) 
ausdenken.  Zur  Erläuterung  und  Rechtfertigung  dieser 
Auffassung  beruft  sich  Fichte  (203)  auf  die  „dem  Geo- 
meter gestattete  Fiktion“,  „die  gerade  Linie  aus  unend- 
lich vielen  aneinandergerückten  Punkten  bestehen  zu 
lassen,  den  Kreis  als  ein  Vieleck  von  unendlich  vielen 
Seiten  zu  betrachten  u.  dgl.  Es  ist  überall  Stetigkeit,  als 
unendlich  Unterscheidbares,  Diskretes  auf  gefaßt“. 

Viele,  welche  also  die  Schwierigkeiten  oder  vielmehr  die 
Widersprüche  der  atomistischen  Theorie  erkennen,  be- 
dienen sich  ihrer  doch  als  eines  Surrogates  der  Erklärung; 
die  meisten  Physiker  und  Chemiker  unserer  Zeit  halten  die 
Atome  für  provisorische  Hilfsmittel  der  Veranschaulichung 
und  Rechnung.  So  sagt  Preyer:  „Man  mag  den  BegriH 
des  Atoms  fassen,  wie  man  will,  immer  bleibt  er  nicht 

Vaihinger,  Philosophie.  15 


22« 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


etwa  eine  Hypothese,  die  man  hoffen  dürfte,  dermaleinst 
zu  beweisen,  sondern  eine  Fiktion,  die  schon  deshalb  un- 
beweisbar ist,  weil  sie  in  jeder  ihrer  bisherigen  Gestalten 
in  unvermeidliche  Widersprüche  verwickelt.  Nur  darum 
hat  sich  der  Atombegriff  so  lange  erhalten  und  hält  sich 
noch,  weil  wir  kein  besseres  Aushilfsmittel  besitzen,  um 
zahlreiche  Erscheinungen  in  Zusammenhang  zu  bringen. 
Hierdurch  allein  fristet  die  Atomistik  als  ein  Provisorium 
ihr  Dasein.  Die  ungeheure  heuristische  und  mnemotech- 
nische Leistungsfähigkeit  der  Atomistik  hat  oft  genug  zu 
einer  Venvechslung  der  Untersuchungs mittel  und  Unter- 
suchungsobjekte geführt  und  ihr  eine  Bewunderung  ein- 
getragen, welche  sie  nicht  verdient.“ 

Die  Atomistik  dient  besonders  dazu,  unsinnlichen  Be- 
griffen, z.  B.  dem  der  Kraft  eine  sinnliche  Grundlage  zu 
geben,  und  noch  geheimnisvolle  Vorgänge,  z.  B.  chemische 
Mischung,  Kohäsion,  Krystallisation  usw.  in  der  Phantasie 
vorstellig  zu  machen,  ohne  daß  bei  dieser  Verwendung 
aus  dem  subjektiv-methodologischen  Hilfsmittel  eine  ob- 
jektiv-metaphysische Realität  gemacht  würde.  Man  darf 
das  Versinnlichungs-  und  Rechnungsmittel  — so  betrach- 
ten auch  Faraday,  Schönlein,  Magnus,  Dubois-Reymond, 
Fick  die  Atomistik  — nicht  als  ein  objektives  Verfahren 
der  Natur  ansehen.  Viele  Naturforscher  sprechen  von 
Atomen,  ohne  doch  solche  in  eigentlicher  Meinung  anzu- 
nehmen; einige  verwerfen  sogar  die  Realität  eines  leeren 
Raumes  und  fahren  doch  fort,  von  Atomen  zu  sprechen, 
obgleich  die  Annahme  des  leeren  Raumes  das  notwendige 
Korrelat  der  Atomistik  ist:  die  Vorstelhmgsweise  ist  un- 
leugbar die  bequemste,  Avas  aber  kein  Beweis  für  ihre 
objektiv-metaphysische  Gültigkeit  ist. 

Nach  der  neueren  Auffassung  der  Physiker,  z.  B.  Kirch- 
hof fs,  werden  alle  Erscheinungen  auf  Kräfte  und  relative 
Kraftwirkungen  reduziert.  Für  den  Physiker  von  Fach  ist 
die  Materie  selbst  gar  nicht  abhängig  von  der  Annahme 
ausgedehnter  kleinster  Körperchen.  Der  Stoff  bildet  zu 
den  Kräften  ein  an  und  für  sich  ganz  leeres  und  nichtiges 
Subjekt,  und  es  ist  nur  eine  ungenaue  Nachwirkung  der 
an  die  Vorstellung  ausgedehnter,  getrennter  Körper  ge- 
wöhnten Anschauung,  wenn  man  auch  den  elementaren 
Kräften  Stoffe  als  Träger  unterschiebt.  Aber  aus  diesem 


Fiktionen  der  mathematischen  Physik. 


227 


Grunde  dient  diese  Vorstellungsweise  zur  Erleichterung 
der  Theorie,  nicht  allein  indem  überhaupt  Stoff teilchen 
als  Träger  dieser  Kräfte,  sondern  auch  indem  sie  als 
unendlich  klein  angesetzt  werden.  Jenes  dient  mehr 
zur  Veranschaulichung  des  abstrakten  Gedankens  der 
Kraft,  dies  mehr  zur  Erleichterung  der  Rechnung.  Aus 
diesem  Grunde  läßt  man  die  Atome  stehen,  obwohl  doch 
alles  Seiende  in  den  Kräften  seinen  adäquaten  Ausdruck 
gefunden  hat.  Man  schiebt  diese  Hilfsvorstellung  ein  und 
unter,  weil  sie  zu  unserer  Bequemlichkeit  dient.  Es  ist 
buchstäblich  ein  hypostasiertes  Nichts,  mit  dem  wir  es 
bei  dem  Atom  zu  tun  haben;  denn  wenn  alles  in  Krä,fte 
aufgelöst  und  verdampft  ist,  wo  bleibt  da  der  Stoff?  Und 
wenn  die  Atome  als  unendlich  klein  vorgestellt  werden 
sollen,  wie  unterscheiden  sie  sich  dann  noch  vom  mathe- 
matischen Punkt,  der  doch  auch  nur  ein  hypostasiertes 
Nichts  ist? 


§ 19- 

Fiktionen  der  mathematischen  Physik. 

In  der  Physik,  besonders  der  mathematischen,  sowie 
in  der  Mechanik  bedient  man  sich  einer  Anzahl  von  fik- 
tiven Vorstellungsgebilden,  welche  teils  nur  zweckdienlich, 
teils  sogar  unentbehrlich  sind.  So  sind  z.  B.  die  Fara- 
day  sehen  „Kraftlinien“  ohne  Masse  und  Trägheit  als 
bloße,  zur  Veranschaulichung  dienende  Hilfsvorstellungen 
zu  betrachten.  Maxwell  wollte  in  diesen  Kraftlinien  Fa- 
radays  mehr  als  bloß  mathematische  Symbole  sehen. 

Daß  Maxwell  aber  mit  dieser  Interpretation  den  Inten- 
tionen Faradays,  des  Erfinders  dieses  Begriffs,  wider- 
spricht, daß  er  also  den  alten  und  häufigen  Fehler  begeht, 
eine  Fiktion  in  eine  Hypothese,  eine  mathematische  Hilfs- 
vorstellung in  eine  physikalische  Theorie  zu  verwandeln, 
dafür  sind  Faradays  eigene  Worte  das  beste  Zeugnis.  Die 
Linien  der  magnetischen  Kraft  der  Gravitation,  die  Linien 
der  elektrostatischen  induktiven  Kraft  und  die  gekrümm- 
ten Kraftlinien  sind  nach  seiner  eigenen  Erklärung  nur 
imaginär.  Man  solle  mit  diesen  Ausdrücken  keinen  spe- 
zielleren Sinn  verbinden;  er  ist  überzeugt,  damit  nicht  die 


228 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


reale  Naturwahrheit  au szu sprechen,  trotzdem  diese  Vor- 
stellungsweise scheinbar  zutreffe  und  schön  sei.  Er 
wünscht  die  Bedeutung  des  Wortes  Kraftlinie  (line  of 
force)  derartig  einzuschränken,  daß  dasselbe  nichts  ande- 
res als  den  Zustand  der  Kraft  hinsichtlich  ihrer  Größe  und 
Richtung  bezeichne,  und  nicht  irgendeine  Vorstellung  von 
der  Beschaffenheit  der  physischen  Ursache  der  Erschei- 
nungen involviere;  wie  z.  B.  die  magnetische  Kraft  durch 
die  Körper  oder  durch  den  Raum  übertragen  wird,  wissen 
wir  nicht.  Nach  diesen  Äußerungen  Faradays  ist  Zöllner 
ohne  Zweifel  im  Recht,  wenn  er  die  Maxwellsche  Inter- 
pretation dieser  Kraftlinien  als  physischer  Wesen  als  ein 
grobes  Mißverhältnis  zurückweist,  und  es  ist  kein  Zweifel, 
daß  Maxwell  diese  Vertauschung  aus  Mangel  an  metho- 
dologischer Einsicht  in  den  Unterschied  der 
Fiktion  von  der  Hypothese  begangen  hat.  Es  liegt 
das  um  so  klarer,  als  Faraday  in  einem  Brief  an  TyndaJl 
(14.  März  1855)  sich  ganz  unumwunden  so  äußert;  Sie 
wissen  es,  daß  ich  die  Kraftlinien  nur  als  Repräsentanten 
(repräsentations)  der  magnetischen  Kraft  hingestellt  habe 
und  nicht  zu  wissen  behaupte,  welche  physische  Vorstel- 
lung sie  später  präzisieren  oder  worin  sie  sich  selber  auf- 
lösen  werden.  Faraday  ließ  sich  durch  die  große  mathe- 
matische Nützlichkeit  und  Brauchbarkeit  seiner  neuen  Vor- 
stellung, welche  zur  analytischen  Herleitung  der  phy- 
sikalischen Erscheinungen  außerordentlich  z^veckdienlich 
war,  keineswegs  verleiten,  in  derselben  mehr  als  eine 
„repräsentative“  Vorstellung  zu  sehen.  Er  wies  die  Miß- 
verständnisse schon  seiner  Zeitgenossen  energisch  zurück, 
so  des  holländischen  Mathematikers  Van  Rees,  der  in 
dieser  Vorstellung  auch  eine  physikalische  Hypothese  zu 
finden  schien,  entgegen  den  deutlichen  Erklärungen  Fa- 
radays selbst. 

Mit  der  Unterscheidung  von  Hypothese  und  Fiktion 
deckt  sich  auch  die  von  Wilhelm  Weber  gemachte 
Unterscheidung  realer  und  idealer  Hypothesen. 

Ein  ingeniöser  Kunstgriff  des  Denkens  ist  nun  ferner  die 
Durchschnittsfiktion  {the  fictitions  mean  nach  der 
Bezeichnung  von  Jevons:  The  principles  of  Science,  an 
die  wir  uns  im  folgenden  anschließen),  welche  in  mehr- 
facher Weise  Verwendung  findet.  Sehr  beliebt  ist  sie  in 


Fiktionen  der  mathematischen  Physik. 


229 


der  inatliematischen  Physik  in  Fälleri,  wo  ein  Bündel  oder 
eine  Pteihe  zusammengehöriger  Kräftebeziehungen  in  einem 
idealen  Durchschnittspunkte  vereinigt  gedacht  wird,  um, 
wenn  es  die  Umstände  erfordern,  mit  jenem  Zusammen  auf 
einmal  in  die  Rechnung  einzutreten;  da  die  Berücksichti- 
gung jeder  einzelnen  Beziehung  eine  komplizierte  Berech- 
nung abgeben  würde,  wird  an  die  Stelle  der  vielen  Ein- 
zelnen ein  Einziges  gesetzt,  in  dem  die  Vielen  verbunden 
gedacht  werden. 

Es  ist  Archimedes,  dem  man  die  erste  Anwendung 
dieser  fiktiven  Methode  verdankt.  Er  kam  auf  die  inge- 
niöse Idee,  in  einem  Körper  einen  Punkt  zu  konstruieren, 
in  dem  das  Gewicht  der  sämtlichen  Teile  desselben  kon- 
zentriert gedacht  werden  könne,  so  daß  das  Gewicht 
des  ganzen  Körpers  exakt  durch  das  Gewicht  dieses 
Punktes  repräsentiert  wird.  Das  Gravi tätszentmm  tritt  so 
an  die  Stelle  der  Gewichte  der  unzählig  vielen,  unendlich 
kleinen  Partikeln,  deren  jedes  an  einem  besonderen  Orte 
wirkt;  um  die  durch  letzteren  Umstand  bedingte  unge- 
meine Komplexion  der  Rechnung  zu  vermeiden  — denn  das 
einfachste  mechanische  Problem  löste  sich  sonst  in  eine 
unendliche  Anzahl  besonderer  Probleme  auf  — wird  eben 
jenes  Gravitätszentrum  fingiert,  welches  — ein  Punkt  — 
so  gedacht  und  behandelt  wird,  als  ob  in  ihm  alle  Kräite 
der  einzelnen  Teile  vereinigt  wären.  Die  Methode,  dieses 
Zentrum  aufzufinden,  hat  Archimedes  gezeigt.  So  tritt  an 
Stelle  einer  Kugel  als  Gravitätszentrum  der  unteilbare 
Mittelpunkt  derselben,  der  also  hier  noch  innerhalb  des 
Gesamtkörpers  gelegen  ist.  Allein  schon  beim  Ringe  ist 
dieses  Gravitätszentrum  vollständig  imaginär,  indem  an 
Stelle  der  kreisförmig  lozierten  Kräftepunkte  der  in  den 
leeren  Zwischenraum  fallende  Mittelpunkt  tritt.  Dasselbe 
ist  der  Fall  bei  zwei  oder  mehreren  Körpern,  mögen  diese 
verbunden  oder  getrennt  sein;  auch  hier  kann  ein  Punkt 
gefunden  werden,  der  so  behandelt  werden  kann,  als  ob 
in  ihm  die  vereinigte  Kraft  der  beiden  Kräftebündel  kon- 
zentriert wäre : so  z.  B.  kann  man  ein  gemeinschaftliches 
Gravitätszentrum  der  Erde  und  der  Sonne  fingieren,  d.h. 
einen  Punkt,  welcher  so  betrachtet  und  in  die  Rechnung 
eingeführt  werden  kann,  als  ob  an  Stelle  jener  beiden 
Himinelskörper  dieser  Punkt  als  unteilbares  Zentrum  träte. 


230 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


welches  nun  genau  dieselben  Wirkungen  etwa  auf  einen 
dritten  Punkt  ausüben  würde,  als  jene  beiden  Körper 
faktisch  ausüben. 

Als  eine  eigentümliche  und  wertvolle  Hilfsvorstellung 
ist  hier  auch  die  Fiktion  eines  absolut  festen  Punk- 
tes zu  erwähnen. 


Das  empirische  Wahrnehmen  aller  Veränderung  und  Be- 
wegung ist  stets  gebunden  an  empirische  Beziehungs- 
punkte, in  bezug  auf  welche  erst  die  Bewegung  uns  als 
Bewegung  erscheinen  kann;  m.  a.  W.  alle  beobachtete 
Bewegung  ist  relativ,  relativ  zu  uns,  dem  Vorstellungs- 
zentrum,  relativ  weiterhin  zum  festen  Hintergrund,  relativ 
etwa  weiterhin  zur  (scheinbar)  ruhenden  Erde,  zur  Sonne 
— es  sind  das  lauter  Beziehungspunkte,  welche  wir  der 
Reihe  nach  annehmen  müssen;  der  Mensch  fängt  mit  sich 
selbst  als  Beziehungspmikt  an,  und  die  Wissenschaft  setzt 
immer  andere  Beziehungspunkte  ein,  weil  die  anfänglich 
angenommenen  sich  als  illusorische  erweisen,  insofern  sie 
selbst  in  Bewegung  sich  befinden.  Um  eine  Bewegung  de- 
finitiv, endgültig  zu  konstatieren,  müssen  wir  einen  abso- 
lut festen  Punkt  haben,  in  bezug  auf  welchen  Geschwin- 
digkeit und  Richtung  jener  Bewegung  gemessen  werden 
kann.  Da  nun  nach  moderner  Anschauung  im  ganzen 
Weltall  kein  solcher  absolut  starrer  Körper  gefunden 
Vvmrden  kann,  so  befindet  sich  die  Wissenschaft  in  einer 
eigentümlichen  Schwierigkeit. 

Neumann^)  hat  das  Verdienst,  hierauf  hingewiesen  zu 
haben.  Galilei  und  Newton  formulieren  ihre  Gesetze  so, 
daß  sie  eine  absolute  Bewegung  voraussetzen.  Das  Ga- 
lileische  Trägheitsgesetz  kann  nach  Neumann  als  Aus- 
gangspunkt mathematischer  Deduktionen  unmöglich  stehen 
bleiben.  Denn  man  weiß  ja  nicht,  was  unter  einer  Be- 
wegung in  gerader  Linie  zu  verstehen  ist;  man  weiß  sogar, 
daß  diese  Worte  in  sehr  verschiedenartiger  Weise  inter- 
pretiert werden  können,  unendlich  vieler  Bedeutungen 
fähig  sind.  Denn  eine  Bewegung,  welche  mit  Bezug  auf 
einen  Himmelskörper  geradlinig  ist,  wird  mit  Bezug 

*)  Neumann,  Über  die  Prinzipien  der  Gallilei-Newtonschen Theorie. 

Leipzig  1870, 


Fiktionen  der  mathematischen  Physik. 


231 


auf  jeden  anderen  Himmelskörper  krummlinig  er- 
scheinen. Also  muß  uns  irgendein  spezieller  Körper  im 
Weltall  gegeben  sein,  als  Basis  unserer  Beurteilung,  als 
derjenige  Gegenstand,  mit  Bezug  auf  den  alle  Bewegun- 
gen zu  taxieren  sind  — nur  dann  erst  würden  wir  mit 
jenen  Worten  einen  bestimmten  Inhalt  zu  verbinden  im- 
stande sein. 

Welcher  Körper  ist  es  nun,  dem  wir  diese  bevorzugte 
Stellung  einräumen  sollen?  Bei  Galilei  und  Newton  erhält- 
man  hierauf  keine  Antwort.  Sie  setzten  eben  die  absolute 
Bewegung  voraus,  ohne  sich  klarzumachen  und  ohne 
sich  bewußt  zu  werden,  daß  diese  Voraussetzung  die  Exi- 
stenz eines  solchen  absolut  festen  Beziehungspunktes  in- 
volviert. Diese  notwendig  involvierte  Bedingung  ist 
von  Neumann  zum  erstenmal  zum  klaren  Bewußtsein  er- 
hoben worden,  obgleich  indessen  schon  Cartesius  eine  be- 
stimmte Hinweisung  auf  dieselbe  gibt.  Deshalb  stellt  nun 
Neumann  als  erstes  Prinzip  der  Galilei-Neiwtonschen 
Theorie  den  Satz  auf,  daß  sämtliche  im  Universum  vor- 
handenen (Oder  überhaupt  denkbaren  Bewegungen  zu  be- 
ziehen sind  auf  ein  und  denselben,  absolut  starren  Körper, 
dessen  Figur,  Stellung  und  Dimensionen  für  alle  Zeiten 
unveränderlich  sind.  Er  nennt  diesen  Körper  „den  Körper 
Alpha“.  Unter  Bewegung  eines  Punktes  ist  nun  nicht  etwa 
seine  Ortsveränderung  in  bezug  auf  Erde  oder  Sonne,  son- 
dern seine  Ortsveränderung  in  bezug  auf  jenen  Körper 
Alpha  zu  verstehen. 

Was  ist  nun  durch  diese  Vorstellung  erreicht?  Die 
Bestimmung  der  Geradlinigkeit  in  dem  Galileischen 
Gesetz  hat  dadurch  erst  einen  deutlich  erkennbaren  Inhalt 
bekommen:  die  geradlinige  Bev/egung  ist  zu  verstehen 
mit  Bezug  auf  jenen  Körper  Alpha;  mit  anderen 
Worten  ist  dies  dahin  zu  erläutern,  daß  nunmehr  jede  Be- 
wegung als  absolut  gedacht  werden  kann.  Der  Charakter, 
das  eigentlich  Wesentliche  der  sogenannten  absoluten  Be- 
wegung besteht  eben  darin,  daß  alle  Ortsveränderungen 
bezogen  werden  auf  ein  und  dasselbe  Objekt,  und  zwar 
auf  ein  Objekt,  das,  wie  Neumann  sich  ausdrückt,  räum- 
lich ausgedehnt  und  unveränderlich,  im  übrigen  nicht 
näher  angebbar  ist.  Nimmt  man  aber  keine  absolute  Be- 
wegung an,  so  fällt  die  ganze  Galilei-Newtonsche  Theorie; 


232 


Zweiter  Teil : Spezielle  Ansfühningen. 


denn  dann  konnte  man,  da  sich  faktiscli  jeder  Körper  in 
der  Welt  in  Bewegung  befindet,  jede  Bewegung  nur  als 
eine  relative  Ortsveränderung  zweier  Punkte  gegen- 
einander definieren,  und  dadurch  würde  man  zu  einer 
Theorie  gelangen,  welche  von  der  Galilei-Newtonschen 
wesentlich  verschieden  ist,  und  deren  Übereinstimmung 
mit  den  beobachteten  Erscheinungen  sehr  zweifelhaft  sein 
dürfte.  Folglich  ist  die  absolute  Bewegung  im  absoluten 
Raum  eine  notwendige  Voraussetzung  des  Galileischen 
Trägheitsgesetzes.  Um  diese  Vorstellung  der  absoluten 
Bewegung  zu  erleichtern,  dazu  dient  der  Körper  Alpha. 

Ein  empirischer  Punkt,  der  diesen  oben  dargestellten 
Erfordernissen  entspricht,  läßt  sich  nimmermehr  finden. 
Also  fingiert  man  einen  ideellen  Punkt,  der 
dieselben  Dienste  leistet.  So  allein  versteht  auch  Neumann 
seinen  Körper  Alpha. 

Es  ist  somit  eine  eigentümliche  Fiktion,  mit  welcher  wir 
es  bei  diesem  Gebilde  zu  tun  haben.  Es  ist  ein  Zusatz 
zur  Wirklichkeit,  ein  Einschiebsel,  das  die  Vorstellungs- 
bewegung, die  Bestimmung  der  Begriffe  erleichtern  soll. 
Bei  der  definitiven  Betrachtung  der  Wirklichkeit  muß  da- 
her dieses  Einschiebsel  wieder  herausfallen,  wieder  eli- 
miniert werden;  sobald  die  Anknüpfung  und  Vermittlung 
geschehen  ist,  um  derentwillen  die  Fiktion  gebildet  und 
eingeschoben  wurde,  so  verliert  diese  damit  auch  ihre  Be- 
deutung imd  fällt  daher  aus  dem  Schlußergebnis  der 
Rechnung  heraus.  In  der  empirischen  Physik  ist  somit 
von  diesem  Körper  Alpha  auch  gar  keine  Rede  mehr,  der 
wegfällt,  sobald  die  mathematischen  Formeln  gefunden 
und  angewandt  sind.  So  dienen  auch  andere  Hilfsvor- 
stellungen  der  Mechanik  und  Physik  eben  nur  zur  Ver- 
anschaulichung und  zur  Anknüpfung  der  Rechnung,  und 
das  Intermediäre  fällt  weg,  nachdem  die  Vermittlung  zu- 
stande gekommen  ist.  Diese  Zwischenhändler  werden  bei 
der  definitiven  Feststellung  der  Wicklichkeitsbeziehungen 
nicht  zu  Rate  gezogen  und  aus  den  engeren  und  eigent- 
lichen Prinzipien  wie  provisorische  Hilfspersonen  aus- 
geschlossen. 


Die  Fiktion  des  reinen  absoluten  Raumes. 


233 


§20. 

Die  Fiktion  des  reinen  absoluten  Raumes. 

Von  der  falschen  Annahme,  daß  die  Mathematik  in 
einem  anderen  Sinne  a priori  verfahren  könne,  als  jede 
andere  Wissenschaft,  und  daß  in  ihr  alles  aus  dem  Geiste 
selbst  hervorgezaubert  werde,  hängt  unmittelbar  eine  ver- 
kehrte Anschauung  über  die  logische  Bedeutung 
der  Raumvorstellung  ab.  Die  Frage  ist:  Was  ist  der 
Raum,  seinem  logischen  Werte  nach  betrachtet? 
Welchen  logischen  Rang  nimmt  der  mathematische 
Raum  ein^)?  Er  ist  die  Voraussetzung  der  Mathematik. 
Aber  „Voraussetzung“  ist  ein  zweideutiges  Wort,  daskeinen 
bestimmten  logischen  Wert  ausdrückt.  „Voraussetzung“ 
kann  sein  so  viel  als  etwas  empirisch  Gegebenes, 
auf  dem  die  Mathematik  als  erstem  fußt;  es  kann  aber 
auch  heißen,  der  Raum  sei  eine  Hypothese,  ohne 
welche  die  Mathemaiik  nicht  bestehen  könne.  Ohne 
Zweifel  ist  der  mathematische  Raum  eine  notwendige 
Voraussetzung,  aber  weder  in  jenem  noch  in  diesem 
Sinne,  d.  h.  eine  reine  Ausdehnung  nach  drei  Di- 
mensionen — daß  diese  Vorstellung  nicht  etwas  em- 
pirisch Gegebenes,  also  kein  Faktum  sei,  ist  unschwer 
zu  erweisen.  Empirisch  sind  uns  immer  nur  einzelne 
Körper  gegeben,  welche  die  fundamentale  Eigenschaft  der 
Ausgedehntheit  besitzen,  niemals  aber  der  allgemeine  und 
reine  Raum.  Freilich  der  Umstand,  daß  sich  die  Gegen- 
stände von  einem  einfarbigen  (meist  helleren)  Hintergrund 
abheben,  sowie  die  Durchsichtigkeit  und  Farblosigkeit  der 
Luft  geben  den  Anschein,  als  ob  die  Einzeldinge  in  einem 
gleichsam  wahrnehmbaren  leeren  Raum  sich  befänden. 
Dieser  eigentümliche  Umstand  hat  ohne  Zweifel  die  Los- 
reißung  der  unabhängigen,  absoluten  Raumvorstellung 
sehr  begünstigt;  allein  er  kann  nicht  dahin  ausgebeutet 
werden,  daß  der  mathematische  Raum  ein  empirisch  Ge- 
gebenes sei.  Es  ist  darum  auch  noch  niemand  eingefallen, 
dies  im  Ernste  zu  behaupten.  Den  logischen  Wert  einer 
Erfahrung  hat  also  die  mathematische  Raiimvorstel- 

Es  handelt  sich  also  hierbei  nicht  in  erster  Linie  um  die 
psychologische  Frage  und  auch  nicht  um  die  erkenntnistlieo- 
rethische  Frage,  sondern  vielmehr  um  ein  rein  logisches  Problem. 


234 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


lung  nicht.  Dann  also  vielleicht  den  einer  Hypothese; 
allein  damit  gelangen  wir  auf  noch  größere  Schwierig- 
keiten. Wie  kann  eine  Vorstellung,  welche  so  absurd,  so 
widerspruchsvoll  ist,  auf  den  Rang  einer  Hypothese  An- 
spruch machen?  Der  mathematische  Raum  ist  ein  Etwas, 
welches  ein  Nichts  ist^  ein  Nichts,  welches  ein  Etwas  ist. 
Die  Widersprüche,  welche  in  dem  Begriff  des  leeren,  des 
mathematischen  Raumes  liegen,  sind  ja  bekannt.  Ein 
leerer  Raum  wäre  ein  Neben-  und  Außereinander,  in  wel- 
chem nichts  neben-  und  auseinander  ist.  Ist  der  Raum 
das  Verhältnis  der  Koexistenz  von  realen  Dingen,  so 
kann  er  eben  ohne  diese  selbst  nichts  sein,  er  fällt  mit 
diesen  selbst  hinweg.  Da  aber  das  Haupterfordernis  einer 
brauchbaren  Hypothese  ihre  Widerspruchslosigkeit  ist,  so 
kann  eine  so  widerspruchsvolle  Vorstellung  wie  die  des 
absoluten,  leeren,  mathematischen  Raumes  keine  Hypo- 
these sein.  Und  eben  diese  widerspruchsvolle  Beschaffen- 
heit gestattet  nun  auch  nicht,  uns  ohne  weiteres  mit  der 
beliebten  Wendung  der  Mathematiker,  diese  und  ähnliche 
Begriffe  seien  „Postulate“,  zu  begnügen;  denn  letzterer 
Begriff  ist  selbst  unklar  und  unbestimmt.  Wir  müssen 
vielmehr  die  scharfe,  die  peinliche  Frage  stellen : Welche 
logische  Stellung  kann  die  Raumvorstellung  demnach  noch 
einnehmen  ? 

Bei  der  fundamentalen  Wichtigkeit  dieses  Punktes  für 
alle  folgenden  Argumentationen  und  bei  der  großen  Klar- 
heit, mit  welcher  Leibniz  diesen  Punkt  im  Wesentlichen 
behandelt  hat,  müssen  wir  bei  ihm  und  bei  seinem  Streit 
mit  Clarke  verweilen.  Der  Streit,  um  den  es  sich  hier 
handelt,  ist,  was  den  Raum  betrifft,  ob  die  Vorstellung 
des  absoluten,  geometrischen  oder  leeren  Raumes  eine 
berechtigte  sei,  d.  h.  ob  ihr  in  der  Wirklichkeit  ein  leerer 
Raum  entspreche.  Aus  hier  nicht  weiter  diskutierbaren 
theologischen  Gründen  ist  Clarke  mit  Newton  für  die 
Existenz  eines  absoluten  Raumes  (und  datier  auch  einer 
absoluten  Bewegung).  In  diesem  absoluten  Raum  befindet 
sich  an  einer  beliebigen,  aber  bestimmten  Stelle  das  Uni- 
versum, d.  h.  die  Körpenvelt;  und  zwischen  den  Körpern, 
die  im  Raume  gleichsam  schwimmen,  befindet  sich  noch 
leerer,  absoluter  Zwischenraum.  Diese  Theorie  bekämpft 
Leibniz. 


Die  Fiktion  des  reinen  absoluten  Raumes. 


235 


„11  n’y  a point  de  vuide  du  tont“  (Erdm.  748),  dies  ist 
die  These,  welche  Leibniz  mit  theologischen,  physi- 
kalischen, mathematischen  und  logischen  Gründen  zu 
beweisen  bestrebt  ist.  „L’espace  reel  absolut“  ist  (751) 
eine  „idole  de  quelques  Anglois  modernes.  Je  cfis  , Idole , 
non  pas  dans  un  sens  Theologique,  mais  Philosophique 
comme  le  Chancelier  Bacon  disoit  autrefois,  qu’il  y a 
Idola  Tribus,  Idola  Specus.“  Er  zählt  mehrfach  die  grari- 
des  difficultes  und  die  contradictions  auf,  auf  welche 
diese  Vorstellung  führt.  Es  ist  insbesondere  das  „Prin- 
cipe de  la  raison  suffisainte“,  auf  welches  gestützt  er  die 
Gegner  und  ihre  „imaginations“,  ihre  „suppositions  chi- 
meriques“,  ihre  „fictions  impossibles“  zu  widerlegen 
sucht.  Faktisch  führt  auch  die  Vorstellung  des  absoluten 
Raumes  und  der  absoluten  Zeit  auf  sonderbare  Wider- 
sinnigkeiten, und  Leibnizens  Widerlegung  ist  vollständig 
gerechtfertigt.  Wiederholt  nennt  er  daher  jene  Vorstellun- 
gen von  absoluter  Zeit  und  absolutem  Raum  „chim^res 
toutes  pures“  et  „imaginations  superficielles“.  Es  sind 
„fictions  impossibles“  (771).  Man  könnte  jede  beliebige 
Raumstelle  der  Welt  im  absoluten  Raum  mn  eine  beliebige 
Entfernung  verrückt  denken;  da  man  nun  aber  diese  beiden 
Punkte  nicht  unterscheiden  könnte,  darum  sind  sie  eben 
nur  ideell,  imaginär,  und  die  Voraussetzung,  daß 
diese  Verschiebung  möglich  wäre,  d.  h.  die  Voraussetzung 
des  absoluten  Raumes  ist  eine  bloße  Fiktion.  Gerade  die 
Tatsache,  daß  es  keinen  zureichenden  Grund  dafür  gibt, 
daß  Gott  die  Welt  in  einem  früheren  Moment  geschaffen 
hätte,  als  er  sie  schuf,  beweist,  daß  diese  ganze  Betrach- 
tungSAveise  und  die  Voraussetzung  der  absoluten  Zeit, 
auf  welche  sie  gestützt  ist,  falsch  ist  — und  was  von  der 
Zeit  gilt,  gilt  auch  vom  Raume.  Dieser  Gedanke,  daß 
der  absolute  Raum  eine  chimärische  Supposition,  eine 
unmögliche  Fiktion  sei,  zieht  sich  durch  diese  ganze, 
für  die  Leibnizsche  Philosophie  so  wichtige  Korrespon- 
denz in  allen  möglichen  Variationen  hindurch. 

Wir  müssen  sogleich  darauf  hinweisen,  inwiefern  sich 
dieser  Streit  durch  eine  einfache  methodologische  Unter- 
scheidung löst,  denn  um  den  logischen,  methodologischen 
Wert  der  Vorstellung  des  absoluten  Raumes  handelt  es 
sich.  Da  er  jedenfalls  kein  Objekt  der  Erfahrung  ist. 


236 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausfülirungcn. 


SO  kann  es  sich  nur  darum  handeln^  ist  er  eine  berech- 
tigte Hypothese  oder  eine  berechtigte  Fiktion, 
Fiktion  in  unserem,  anfänglich  festgestellten  Sinne.  Wir 
sehen,  wie  Leibniz  nachweist,  daß  die  bezügliche  Vor- 
stellung widerspruchsvoll,  unmöglich  sei,  weshalb  er  die- 
selbe eben  verwirft.  Wir  werden  andererseits  sehen,  daß 
Clarke  ihre  praktische  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit 
betont,  gestützt  auf  Newtons  mathematische  Naturphilo- 
sophie. Schon  Leibniz  nennt  die  Vorstellung  eine  Fik- 
tion, freilich  im  tadelnden  Sinne.  Er  gebraucht  diesen 
Begriff  überhaupt  sehr  häufig,  und  zwar  in  den  zwei 
unterschiedenen  Bedeutungen,  der  guten  und  der 
schlechten  Fiktion.  Hätte  hier  nicht  die  Parteiwut 
gegen  die  Newtonianer  und  die  dabei  beiderseits  ent- 
standene Leidenschaftlichkeit  und  Animosität  Leibnizens 
klares  Auge  getrübt,  wäre  der  Briefwechsel  mit  Clarke 
nicht  in  jene  späte,  durch  allerlei  Mißgeschick  getrübte, 
äußerlich  und  innnerlich  vereinsamte  Periode  Leibnizens 
gefallen,  so  hätte  er  wahrscheinlich  die  schon  früher  in 
anderen  Punkten  ihm  aufgegangene  fundamentale  Er- 
kenntnis, daß  es  notwendige  und  berechtigte  Fiktionen 
gäbe,  auch  hier  angewandt,  und  die  einzig  richtige  Lösung 
ausgesprochen,  daß  die  Vorstellung  des  absoluten  Rau- 
mes eine  unentbehrliche  Hilfsvorstellung  sei,  d.  h.  daß 
diese  Vorstellung  zwar  widerspruchsvoll  und  darum  ima- 
ginär, ideal  sei,  daß  sie  aber  zur  Konstruktion  der  Mathe- 
matik und  mathematischen  Physik  notwendig  gebildet 
werden  müsse. 

Diese  einfache  Lösung  erhellt  mit  einem  Male  jenen 
durch  Leidenschaft  so  getrübten  Streit  zwischen  Leib- 
niz und  dem  Newtonianer.  Alle  Gründe  Leib- 
nizens beziehen  sich  darauf,  daß  die  Vorstellung  imaginär 
sei;  .alle  Gegengründe  Clarkes  darauf,  daß  sie  notwendig 
sei.  Wie  so  oft,  sehen  wir  eine  solche  widerspruchsvolle 
V^orstellung  (deren  exakte  Definition  wir  in  diesem  Falle 
Newton  verdanken),  anfänglich  bekämpft  ob  ihrer  logi- 
schen Härten ; wir  sehen  sie  dann  ins  allgemeine  Bewußt- 
sein übergehen,  zu  einer  alltäglichen  Vorstellung  werden, 
bis  sie  aufs  neue  bekämpft  wird,  so  daß  ihr  schließlich 
zwar  ihre  Realität  genommen,  ihr  aber  ihre  Unentbehr- 
lichkeit gelassen  und  zugestanden  wird. 


Die  Fiktion  des  reinen  absoluten  Raumes,  2.M7 

In  der  Zweideutigkeit  und  Zweischneidigkeit  des  Be- 
griffes „Supposition“  erkennen  wir  wieder  jene  Dualität 
der  logischen  Bedeutungen,  welche  diesen  Vorstellungen 
des  absoluten  Raumes,  des  Atomes  usw.  ein  so  schillern- 
des und  schwankendes  Ansehen  gibt.  Clarke  stützt  sich 
auf  die  Notwendigkeit  dieser  Supposition,  auf  die  Tat- 
sache, daß  Leibniz  sie  selbst  mache,  Leibniz  aber  nennt 
sie  chimärisch,  sophistisch,  imaginär.  In  der  von  uns 
entwickelten  Bedeutung  der  „Fiktion“  ist  dies  beides 
vereinigt;  die  Vorstellung  ist  widersinnig,  aber  sie 
ist  fruchtbar. 

Diese  Lösung  hatte  Leibniz  schon  an  der  Hand,  ohne 
sie  jedoch  ganz  deutlich  auszusprechen.  Weist  er  doch 
selbst  darauf  hin,  daß  solche  „choses  purement 
ideales“  doch  (trotzdem  man  ihre  Irrealität  einsehe) 
nützlich  seien  („dont  la  consideration  ne  laisse 
pas  d’etre  utile“).  Damit  haben  wir  eben  den  wahren 
Begriff  der  methodologischen  Fiktion,  und  es  ist  nur  aus 
der  Leidenschaftlichkeit  Leibnizens  zu  erklären,  daß  er 
diesen,  ihm  sonst  so  geläufigen  Gedanken  hier  nicht  gänz- 
lich durchgeführt  hat,  sondern  ihn  bloß  gelegentlich 
hinwirft.  Dann  hätte  er  eben  in  ruhiger  Diskussion  die 
Supposition en  Clarkes  als  notwendige  und  nützliche  Fik- 
tionen anerkannt. 

Bei  der  grundlegenden  Wichtigkeit  dieses  Punktes  ist 
es  von  Interesse,  noch  andere  Stellen  von  Leibniz  her- 
beizuziehen, aus  denen  seine  Meinung  unzweideutig  her- 
vorgeht. So  bemerkt  er  z.  B.  in  der  Replique  aux  Re- 
flexions de  Bayle  (Erdm.  189;  sie  ist  17  Jahre  vor  dem 
Streit  mit  Clarke  geschrieben},  daß  die  mathematischen 
Vorstellungen  Zeit,  Ausdehnung,  Bewegung  und  Konti- 
nuum nur  seien:  des  choses  ideales.  Er  stimmt 
Hobbes  bei,  nach  dem  der  Raum  nur  ist:  ein  Phan- 
tasma existentis.  Die  Ausdehnung  ist  „die  Ordnung  der 
möglichen  Koexistenzen“.  Besonders  bemerkenswert  ist 
aber  die  Stelle  (190),  daß,  obgleich  die  meditations  der 
Mathematiker  ideal  seien,  dies  ihnen  nichts  von  ihrer 
utilite  nehme.  So  wußte  er  denn  also  wohl  den  Nutzen 
solcher  Vorstellungen  zu  schätzen,  wenn  er  auch  sich 
wohl  bewußt  ist  (191),  daß  Mathematik  noch  nicht  die 
tiefste  Erkenntnis  sei  und  gebe,  sondern  daß  diese  im 


28S 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


wichtigeren  Kalkül  der  Metaphysik  zu  suchen  sei,  in 
der  „Analyse  der  Ideen“,  an  deren  Stelle  wir  — ohne  zu 
erheblich  von  Leibniz’  Meinung  abzuweichen  — wenig- 
stens in  einer  Richtung  die  Erkenntnistheorie  und  eine 
mit  ihr  liierte  Methodologie  zu  setzen  haben. 

Der  reine,  mathematische  Raum  ist  eine 
Fiktion.  Der  Begriff  desselben  enthält  die  Merkmale  der 
Fiktivität:  der  Gedanke  einer  Ausdehnung  ohne  Aus- 
gedehntes, eines  Außereinander  ohne  Dinge,  welche  außer- 
einander sind,  ist  ein  Ungedauke,  ist  absurd  und  unmög- 
lich. Der  Begriff  ist  aber  für  die  Mathematik  notwendig, 
nützlich  und  fruchtbar,  weil  der  Mathematiker  nur  die 
Eigenschaften  und  Gesetze  der  ausgedehnten  Objekte  als 
Ausgedehntes,  nicht  aber  ihre  Materialität  und  sonstigen 
physischen  Eigenschaften  zum  Gegenstände  der  Unter- 
suchung macht.  Der  Begriff  des  reinen  Raumes  entsteht, 
indem  das  Verhältnis  der  Dinge  festgehalten  wird,  wäh- 
rend die  Dinge  seihst  weggedacht  werden;  während  wir 
die  Materie  und  ihre  Intensität  allmählich  bis  zu  0 ab- 
nehmen lassen,  behalten  wir  das  bloße  Verhältnis  der 
materiellen  Dinge  zurück.  Während  der  Raum  streng- 
genonamen  in  demselben  Moment  mit  verschwinden  sollte, 
in  welchem  die  Materie  zu  0 abgenommen  hat  und  ver- 
schwindet, behalten  wir  das  Verhältnis  zurück,  während 
die  bezogenen  Dinge  verschwunden  sind.  Betrachtet 
man  ein  kontinuierlich  ausgedehntes  Ding,  und  läßt 
man  in  Gedanken  die  Materie  sich  immer  mehr  verdünnen 
und  zu  0 ahnehmen,  so  ist  der  reine  Raum  die  Grenze, 
wo  die  Materie  im  Verschwinden  begriffen  ist,  wo  die  In- 
tensität der  erfüllenden  Materie  im  Aufgezehrtwerden, 
Verfließen  begriffen  ist,  — diesen  Moment  halten  wir  fest; 
im  nächsten  Sloment  träte  schon  das  Nichts,  die  Null  an 
Stelle  der  Materie  ein,  die  in  dem  letzten  Momente  ihres 
Verfliegens  und  Verfließens  erhascht  wird. 

Wir  haben  in  dem  bisherigen  Verlauf  unserer  Unter- 
suchung als  Resultat  gefunden,  daß  der  Raumbegriff, 
d.  h.  der  Begriff  des  reinen,  mathematischen  Raumes 
durch  einen  eigentümlichen  Prozeß  unseres  Vorstellungs- 
vermögens gebildet  wird,  in  welchem  Abstraktion 
und  Imagination  auf  eine  merkwürdige  Weise  Zu- 
sammenwirken. Auf  der  einen  Seite  löst  die  Abstrak- 


Die  Fiktion  des  reinen  absoluten  Raumes. 


tion  etwas,  was  wir  nur  an  einem  Anderen  erfahren 
(sei  es  als  Eigenschaft,  sei  es  als  Verhältnis),  los  von 
diesem  Anderen,  an  welches  es  doch  so  fest  und  unzer- 
reißlich  gebunden  ist,  daß,  wenn  man  das  Losgerissene 
genau  logisch  analysiert,  man  sich  gestehen  muß,  man 
habe  eben  nichts  mehr  in  der  Hand.  Die  Abstraktion 
nimmt  die  Eigenschaft,  nimmt  das  Verhältnis  weg  vom 
Substrat,  von  den  Elementen,  und  genau  genommen 
haben  diese  losgerissenen  Stücke  ohne  das,  wovon  sie 
losgerissen  sind,  keinen  Sinn,  sie  verfließen  in  das  Nichts, 
sie  führen  auf  das  Absurde.  Der  Abstraktion,  welche 
auf  diese  Weise  das  Gegebene  gleichsam  in  Nichts  auf- 
löst, so  daß  sie  diesem  Ergebnis  ihrer  Tätigkeit  ratlos 
gegenübersteht,  kommt  die  Imagination  zu  Hilfe, 
welche  vermittelst  ihrer  eigentümlichen  Gaben  Rettung 
bringt.  Die  Imagination  schiebt  dem  losgelösten  Ver- 
hältnis die  Vorstellung  der  in  Verhältnis  stehenden  Ele- 
mente wieder  unter,  aber  in  einer  Form,  in  welcher  sie 
gleichsam  nur  noch  ein  Schatten  dessen  sind,  als  was 
sie  in  Wirklichkeit  sich  uns  darstellen.  So  gibt  sie  dem 
Abstraktionsprodukt  eine  Stütze,  so  daß  es  nicht  im  Ab- 
grund des  Nichts  verschwindet. 

Es  kommt  darauf  an,  sich  klar  zu  machen,  daß  der 
Raum  des  Mathematikers  schlechterdings  nichts  anderes 
ist,  als  ein  wissenschaftliches,  künstliches  Präparat,  wel- 
ches sich  von  den  künstlichen  Präparaten,  von  schema- 
tischen Hilfsgebilden  usw.  anderer  Wissenschaften  nur 
durch  die  Art  des  zu  untersuchenden  Gegenstandes,  nicht 
aber  durch  die  Methode  unterscheidet.  Die  Einheit 
der  Methode  ist  es,  welche  stark  betont  werden  muß. 
Nur  diese  methodische  Betrachtimgsweise  vermag  die 
alten  Vorurteile  über  die  Objekte  der  Mathematik  aus- 
zurotten. Nur  der  Methodologe  kann,  indem  er  den 
verschlungenen  Gängen  des  menschlichen  Verstandes 
nachgeht,  zeigen,  wie  auch  in  der  Mathematik  genau  die- 
selben methodologischen  Prinzipien  walten,  wie  in  den 
anderen  Wissenschaften.  Die  Objekte  der  Mathematik 
sind  künstliche  Präparate,  Kunstgebilde,  fiktive  Abstrakta, 
abstrakte  Fiktionen,  wie  dies  unten  noch  von  den  ein- 
zelnen mathematischen  Gebilden  erwiesen  wird.  Hier 
handelte  und  handelt  es  sich  um  den  Raumbegriff  im 


244) 


Z\v(4ler  Teil:  Spezielle  Ausfüliriingen. 


allgemeinen,  nm  den  reinen,  absoluten  Raum,  ein  Muster- 
beispiel einer  normalen,  wissenschaftlichen  Fiktion.  Eben 
deshalb  hat  es  keinen  Zweck,  die  in  diesem  Begriff  liegen- 
den eklatanten  Widersprüche  hinwegdisputieren  zu  wollen. 
Als  echte  Fiktion  muß  die  Raumvorstellung  in  sich  selbst 
widerspruchsvoll  sein.  Wer  die  Raum  Vorstellung  von 
diesen  Widersprüchen  „befreien“  will,  der  nimmt  ihr  ihr 
Charakteristikum,  sozusagen  ihre  Ehre  als  Musterfall 
einer  echten  und  gerechten  Fiktion. 


§ 21. 

Fläche,  Linie,  Punkt  usw.  als  Fiktion. 

Was  vom  reinen,  absoluten  Raume  gilt,  das  gilt  — 
mutatis  miitandis  — nun  auch  von  den  einzelnen  mathe- 
matischen Räumen  und  Raumteilen,  zunächst  von  der  Vor- 
stellung der  sog.  mathematischen  Körper,  wie  Kugel, 
Zylinder,  Kubus,  Prisma  usw.  Die  Grundlagen  für  die 
psychologisch-logische  Entstehung  dieser  Gebilde  sind 
die  entsprechenden  empirischen  körperlichen  Gegenstände. 
Aber  Aviederum  sind  Abstraktion  und  Imagination  in  der- 
selben Weise  tätig,  wie  es  oben  beschrieben  wurde.  Das 
Körperliche  wird  auf  ein  Mimimum,  zuletzt  auf  Null  redu- 
ziert; damit  mußten  nun  streng  logisch  die  Umgrenzungen 
jener  körperlichen  Gegenstände  ebenfalls  Avegfallen  und 
sozusagen  in  sich  zusammenfallen.  xAber  indem  eben 
nur  vom  erfüllenden  Inhalt  abstrahiert  wird,  wird  die 
Form  noch  festgehalten,  und  ehe  jene  Umgrenzungen, 
alles  Gehaltes  entleert,  in  sich  selbst  zusammenbrechen, 
werden  sie  von  der  Imagination  gestützt,  welche,  ent- 
sprechend der  Evakuation  des  Inhalts  und  Reduktion 
desselben  auf  eine  unendliche  Verdünnung,  die  Umgren- 
zungen als  unendlich  dünne  Schalen,  als  leere  Hülsen, 
als  Haut,  als  Deckblatt,  ja  als  bloße  Gestelle  aufrecht 
erhält.  Solche  Formen  ohne  Inhalte  sind  an  sich  nichts, 
ja  schlimmer  als  nichts,  denn  sie  sind  widerspruchsvolle 
Gebilde,  ein  Nichts,  das  doch  noch  als  ein  Etwas  vor- 
gestellt wird,  ein  Etwas,  das  schon  in  ein  Nichts  über- 
geht — aber  eben  diese  widerspruchsvollen  Gebilde, 


Fläche,  Linie,  Punkt  usw.  als  Fiktion. 


241 


diese  fiktiven  Wesenheiten  sind  die  unentbehrlichen  Grund- 
lagen des  mathematischen  Denkens.  Die  Umgrenzungen 
des  empirischen  Körpers  werden  für  sich  genommen, 
werden  abstrahiert  und  hypostasiert,  und  mit  diesen 
imaginativen  Gebilden  operiert  die  Mathematik,  speziell 
die  Geometrie. 

Dasselbe  ist  — wiederum  mutatis  matantis  — der 
Fall  mit  Fläche,  Linie,  Punkt.  Daß  die  Fläche  die  Grenze 
des  Körpers  sei,  ist  eine  uralte  Definition.  Geschichtlich 
und  psychogenetisch  kommen  natürlich  zuerst  nur  wirk- 
liche „Flächen“,  d.  h.  flache  Umgrenzungen  in  Betracht: 
der  Begriff  der  krummen  Fläche  entsteht  erst  später. 
Flache,  also  wirklich  ebene  Gebilde  gibt  es  in  der  Natur, 
sowie  schon  durch  primitives  Eingreifen  des  Menschen 
sehr  viele : aber  hier  wird  nun  abstrahiert  von  demjenigen 
Material,  das  die  Fläche  bildet,  die  formale  Beschaffen- 
heit wird  allein  für  sich  genommen  und  von  der  Imagi- 
nation verselbständigt.  Auch  hier  ist  es  an  sich  ein 
Widerspruch,  von  einer  Fläche  als  solcher  zu  sprechen, 
aber  über  solche  und  noch  viel  härtere  Widersprüche 
geht  das  wissenschaftliche  Denken  unbedenklich  seinen 
Weg.  Würde  das  Denken  sich  über  alle  derartigen  Wider- 
sprüche aufhalten,  so  käme  es  nie  vom  Fleck. 

Und  so  ist  es  auch  mit  der  Linie  — als  „Grenze 
der  Fläche“.  Auch  Linien  zeigt  uns  die  Natur,  sowie 
die  primitive  Kunst  genug  in  Wirklichkeit,  aber  doch, 
sozusagen,  ins  Körperliche  versenkt.  Erst  die  Abstrak- 
tion reißt  diese  Linien  heraus  als  etwas  Besonderes, 
für  sich  Seiendes,  und  ruft  die  Imagination  zu  Hilfe, 
um  diese  Gebilde  nun  zu  hypostasieren.  Daß  nun  diese 
Gebilde  nur  fiktive  Vorstellungen  sind,  liegt  auf  der 
Hand.  Was  der  Mathematiker,  was  der  Geometer  auf 
die  Tafel  zeichnet,  aufs  Papier  zieht  als  Linie,  das 
ist  ja  keine  Linie  im^  mathematischen  Sinne,  denn  es  hat 
immer  noch  eine,  wenn  auch  auf  ein  Minimum  reduzierte 
zweite  (ja  sogar  dritte!)  Dimension.  Eine  Linie  im 
mathematischen  Sinne  kann  nie  sinnlich  dargestellt  wer- 
den, sie  ist  eine  Sache  der  Abstraktion  und  der  Imagi- 
nation, und  sie  bleibt  auf  alle  Fälle  ein  widerspruchs- 
volles Gebilde. 

Dasselbe  gilt  schließlich  natürlich  auch  vom  Punkte, 

Vfti h ir< 8ro ?,  Phllosop])!©.  16 


242 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen, 


den  man  die  Grenze  der  Linie  zu  nennen  pflegt.  Auch 
hier  hat  die  Mathematik  im  Anschluß  an  gewisse  sinn- 
liche Erfahrungen,  deren  es  ja  genug  in  Natur  und  Men- 
schenwelt gibt,  die  unsinnliche,  ja  übersinnliche  Idee 
eines  nach  jeder  Dimension  hin  ausdehnungslosen  Punk- 
tes gebildet  — eine  in  sich  haltlose  und  widerspruchs- 
volle Idee,  einen  trotz  seines  Minimums  monströsen  Be- 
griff eines  Etwas,  das  schon  ein  Nichts  ist,  eines  Nichts, 
das  doch  noch  ein  Etwas  sein  soll.  Der  mathematische 
Punkt  ist  vollends  eine  vollendete  echte  Fiktion  der  mathe- 
matischen Wissenschaft. 

Der  Punkt  als  ein  null-dimensionales  Gebilde  ist  eine 
in  sich  gänzlich  widerspruchsvolle  Idee,  aber  ebenso 
notwendig  als  absurd.  Ein  Gebilde  ohne  jegliche  Di- 
mension ist  ein  Nichts  in  sich  selbst.  Aber  auch  das  ein- 
dimensionale Gebilde  der  Linie,  das  zwei-dimensionale 
Gebilde  der  Fläche  sind  widerspruchsvolle  Ideen.  In 
Wirklichkeit  kennen  wir  nur  materielle  körperliche  Dinge, 
aus  deren  ausgedehnter  Eigenart  wir  die  drei  Dimen- 
sionen abstrahiert  haben.  Das  zwei-dimensionale  Gebilde 
der  Fläche  und  das  ein-dimensionale  Gebilde  der  Linie, 
das  wir  an  diesen  Körpern  gelegentlich  zu  beobachten 
glauben,  sind  nur  Abstraktionen,  durch  die  Imagination 
verselbständigt,  also  Fiktionen,  mit  denen  wir  rechnen,  als 
ob  ihnen  Wirklichkeiten  entsprächen,  notwendige  Vorstel- 
lungshilfen und  Hilfsvorstellungen,  die  uns  wohl  im 
Denken  unterstützen,  die  uns  aber  keinen  realen  Auf- 
schluß gewähren  können.  Wir  rechnen  hier  mit  Un- 
dingen, statt  mit  Dingen,  aber  es  sind  nützliche  und  un- 
entbehrliche Undinge.  Wir  aber  halten  diese  Undinge 
für  Dinge,  weil  wir  gewöhnt  sind,  alles,  dem  wir  einen 
Namen  geben,  für  real  zu  halten,  ohne  zu  bedenken,  daß 
wir  nicht  bloß  Reales,  sondern  auch  Irreales  durch  Namen 
fixieren  können.  Wer  letzteres  einsieht,  und  wer  weiter 
einsieht,  daß  gewisse  irreale  Vorstellungen  uns  notwendig 
und  nützlich  sind,  der  hat  den  wahren,  wissenschaftlichen 
Begriff  der  Fiktion  erfaßt. 

Bei  der  Betrachtung  von  Fläche,  Linie  und  Punkt 
kann  nun  noch  ein  anderer  Gesichtspunkt  angewendet 
werden.  Bisher  nahmen  wir  diese  Gebilde  als  Grenzen 
in  dem  Sinne,  daß  'die  Grenzen  durch  unsere  Imagination 


Die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen. 


243 


verselbständigt  sind,  obgleich  sie  doch  nur  Grenzen 
an  einem  Etwas  sind,  die  nur  durch  unsere  Ab- 
straMion  von  ihren  realen  Gegenständen  losgelöst  wer- 
den. Aber  wir  können  auch  hier  den  Begriff  des  Fließens, 
des  fließenden  Abnehmens  vom  Realen  bis  zu  Null  ein- 
führen, und  die  betreffenden  Gebilde  dann  so  entstehen 
lassen,  daß  wir  den  Verschwindungsprozeß  im'  letzten 
Augenblick  aufhalten,  wie  wir  das  schon  früher  bei  der 
Entstehung  des  reinen,  mathematischen  Raumes  getan 
haben. 


§ 22. 

Die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen. 

Um  die  Funktion,  welche  das  Unendlich-Kleine  spielt, 
zu  ermessen,  müssen  wir  die  Natur  der  Objekte,  bei  denen 
es  ins  Spiel  kommt,  näher  betrachten.  Die  mathemati- 
schen Gebilde  sind  die  abstrakten  Formen  des  räumlichen 
und  zeitlichen  Nebeneinander-  und  Nacheinanderseins. 
Eine  fundamentale  Eigentümlichkeit  derselben,  die  in 
letzter  Linie  etwas  durchaus  definitiv  Gegebenes  ist,  ist 
ihre  Einteilung  in  Gattungen  und  Arten.  So  haben  wir 
z.  B.  die  Gattung  der  Kegelschnitte,  welche  sich  in  die 
verschiedenen  Arten:  Kreis,  Ellipse,  Parabel,  Hyperbel 
teilt.  Es  sind  ganz  bestimmte  und  genau  definierbare 
Modifikationen  der  allgemeinen  Form  des  Begriffs,  welche 
aus  der  Gattung  einzelne  Arten  machen.  Man  kann  von 
der  einen  Art  zur  anderen  nur  durch  einen  begrifflichen 
Sprung  gelangen. 

Nun  haben  die  mathematischen  Gebilde  freilich  eine 
Eigenschaft:  die  Möglichkeit  der  unaufhörlich  fortgesetzten 
Verkleinerung  und  Vergrößerung.  Und  dazu  kommt  die 
Eigenschaft,  haß  durch  fortgesetzte  Verkleinerung  (oder 
Vergrößerung)  eines  Elementes  eines  solchen  Arthegriffes 
sich  derselbe  einem  benachbarten  immer  mehr  nähert. 
Die  begriffliche  Formel  der  Ellipse  verlangt  z.  B.  das 
Vorhandensein  zweier  Brennpunkte,  welche  sich  also 
auch  in  einer  endlichen  Entfernung  befinden  müssen. 
Diese  Entfernung  selbst  aber  ist  unbestimmt,  und  sie 
kann  beliebig  groß  oder  beliebig  klein  sein;  solange 


2+4  Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 

die  Bedingung  noch  innegehalten  ist,  haben  wir  eine 
Ellipse.  Es  ist  nun  aber  eine  objektiv^e  und  unleugbare 
Tatsache,  daß  sich,  je  näher  sich  die  Brennpunkte  rücken, 
die  Ellipse  desto  mehr  dem  Kreise  nähert.  Daraus  folgt, 
daß,  wenn  jene  Entfernung  ganz  verschwunden  ist,  die 
Ellipse  in  einen  Kreis  übergegangen  ist.  Allein  dieser 
Übergang  von  der  einen  zur  anderen  Art  ist  zuletzt  doch 
nur  möglich  durch  einen  plötzlichen  Sprung,  der  auf  ein- 
mal in  ein  ganz  neues  Gebiet  führt.  Die  Definition  der 
Ellipse  verlangt,  daß  sie  eine  Exzentrizität,  daß  sie  zwei 
Brennpunkte  F und  F’  besitze,  welche  die  Entfernung  m 
haben.  Es  entsteht  eine  durchaus  anders  geartete  Ge- 
stalt, wenn  diese  Entfernung  wegfällt.  Zwischen  Vor- 
handensein von  m und  Fehlen  von  m gibt  es  nun  aber 
absolut  kein  Drittes.  Der  Begriff  der  Ellipse  besitzt  m 
als  variables  Element. 

Tatsache  ist  also,  die  Ellipse  wird  durch  sukzessivef 
Verkleinerung  von  m dem  Kreis  stets  genähert;  wird  jene 
Distanz  m zu  0,  so  tritt  an  Stelle  der  Ellipse  der  Kreis. 
Aus  diesen  Tatsachen  macht  nun  aber  die  Vorstel- 
lung noch  ein  Weiteres,  was  aber  rein  im  Gebiete  der 
Vorstellung,  der  Imagination  bleibt.  Je  mehr  ich  m teile, 
desto  kleiner  wird  es.  Diese  Teilung  kann  ich  ins  Uiv 
endliche  fortsetzen;  wie  wenn  ich  es  nun  wagte,  mir 
vorzustellen,  d.  h.  die  Fiktion  machte,  diese  ins  Unend- 
liche fortschreitende  Teilung  — sei  vollendet?  Freilich 
begehe  ich  damit  einen  recht  krassen,  logischen  Wider- 
spruch, aber  ich  erhalte  doch  auch  dadurch  einen  Vorteil. 
VVäre  nämlich  — was  ich  freilich  nur  imaginativ, 
fiktiv  setzen  kann  — jene  unendliche  Teilung  vollendet, 
so  wäre  der  letzte  Teil  nicht  mehr  endlich,  sondern  eben 
— unendlich  klein.  Wemi  nun  dadurch  jene  Distanz 
m unendlich  gering  würde,  so  würden  ja  auch  F und  F' 
zusammenfallen  und  doch  eigentlich  nicht  zusammen- 
fallen. Es  wäre  noch  eine  Distanz  da,  die  aber  doch 
keine  eigentliche  Distanz  mehr  wäre,  weil  sie  eben  nicht 
mehr  endlich  ist.  Fingieren  wir  einmal  diesen  ganz  chi- 
märischen Fall.  Was  hätte  ich  damit  bezweckt,  w^as 
erreicht  ? 

Es  war  uns  dabei  darum  zu  tun,  einen  stetigen  Über- 
gang zwischen  Ellipse  und  Kreis  zu  statuieren  oder  mit 


Die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen. 


245 


anderen  Worten,  es  war  uns  darum  zu  tmi,  den  Kreis 
als  einen  Spezialfall  der  Ellipse  zu  denken. 
Wir  wollten  nicht  aus  den  Artgrenzen  heraus,  um'  zum 
Kreis  zu  gelangen.  Was  kann  denn  das  aber  für  einen 
Wert  haben  ? Ist  das  nicht  eine  bloße  Spielerei  ? Keines- 
wegs. Denn  wenn  ich  sagen  kann,  der  Kreis  ist  als  eine 
Ellipse  zu  betrachten,  so  habe  ich  auch  das  Recht, 
die  Gesetze  dieses  Gebildes  auf  jenen  anzuwenden. 

Man  kann  die  Sache  auch  so  ausdrücken:  ich  mache 
mit  der  Behauptung,  der  Kreis  sei  eine  Ellipse,  einen 
Fehler.  Denn  bei  der  Ellipse  sind  zwei  Brennpunkte, 
beim  Kreise  ist  nur  ein  Mittelpunkt : aber  ich  mache  jenen 
Fehler  immer  kleiner,  indem  ich  rn  immer  verkleinere; 
der  Fehler  wird  unendlich  klein  sein,  wenn  ich  m auch 
als  „unendlich  klein“  setze.  Freilich  bediene  ich  mich 
dabei  eines  sehr  widerspruchsvollen  Begriffes  und  mache 
eben  damit  einen  zweiten  Fehler;  aber  ich  erreiche  da- 
mit doch  mein  Ziel,  den  Kreis  nach  Analogie  einer  Ellipse 
fassen  und  behandeln  zu  können. 

Es  handelt  sich  also  um  eine  erzwungene  und  ge- 
zwungene Analogie,  um  eine  unberechtigte  Übertragung, 
ich  tue,  als  ob  der  Kreis  eine  Ellipse  wäre,  ich  erreiche 
dies  durch  die  Vorstellung,  als  ob  es  eine  unendlich 
kleine  Distanz  gäbe  — ich  bewege  mich  also  in  lauter 
fingierten  Vorstellungen,  aber  es  sind  fruchtbare  Fiktionen. 

Betrachten  wir  nunmehr  die  Funktion  des  „Unendlich- 
Kleinen“  allgemeiner,  so  sehen  wir,  daß  dieser  Begriff 
dazu  dient,  Gebilde,  welche  nahe  verwandt  sind  und  deren 
Eines  durch  eine  Verminderung  (oder  Vermehrung)  eines 
seiner  Begriffselemente  sich  dem  Anderen  stets  nähert, 
ohne  doch  jemals  mit  ihm  zusamenzufaJlen,  solange 
jenes  Begriffselement  noch  überhaupt  da  ist,  als  gleich- 
artig fassen  zu  können.  Wo  aber  eine  Art  auf 
eine  andere  und  auf  deren  Gesetze  reduziert  werden 
kann,  wird  die  Aufgabe  des  Denkens  vereinfacht.  Somit 
dient  der  Begriff  durch  Stiftung  einer  gezWun- 
genenAnalogie,  eines  Bandes  zwischen  verschiedenen 
Arten  zur  Vereinfachung  des  Denkens. 

Der  Begriff  des  „Unendlich-Kleinen“  muß 
freilich  eben  darum  widerspruchsvoll  sein.  Da, 
wie  wir  feststellten,  zwischen  den  mathematischen  Arten 


246 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


ein  begrifflicher  Sprung  ist,  weil  zwischen  Nichts  und 
Etwas  eine  emge  Kluft  bleibt,  so  muß  der  besagte  Be- 
griff selbst  ein  Zwitterding  zwischen  Etwas  und 
Nichts  sein.  Wenn  er  zwei  Arten  vermitteln  soll, 
welche  sich  durch  Anwesenheit  und  Abweserjieit  eines 
Elementes  unterscheiden,  wenn  es  gelingen  soll,  die  eine 
Art  als  Spezialfall  der  anderen  zu  fassen,  so  muß  ent- 
weder die  Anwesenheit  jenes  Elementes  als  Abwesenheit, 
oder  die  Abwesenheit  als  Anwesenheit  aufgefaßt,  vor- 
gestellt, fingiert  werden  können.  Diese  widerspruchs- 
volle Aufgabe  übernimmt  jener  Begriff,  indem  er  aller- 
dings die  Abwesenheit  eines  Elementes  als  die  Anwesen- 
heit eines  unendlich  kleinen  Teiles  dieses  Elementes 
faßt.  Im  „Unendlich-Kleinen“  steckt  eben  das  Nichts 
und  das  Etwas  zugleich.  Als  Vermittelungsbegriff 
muß  das  Unendlich-Kleine  jene  kontradikto- 
rischen Bestimmungen  in  sich  vereinigen  — 
das  „Unendlich-Kleine“  ist  somit  eine  echte  und  rechte 
Fiktion. 

Es  gibt  auch  Fälle,  wo  jene  fiktive  Betrachtungsweise 
mehr  als  bloße  dialektische  Spielerei  und  unnötige  Ver- 
mittelung ist,  nämlich  dann,  wenn  die  direkte  Ableitung 
einer  Formel  nicht  gelingen  will;  dann  ist  dieser  indirekte 
Weg,  dieser  Schleichweg,  das  einzige  Mittel,  um  zmn  Ziele 
zu  gelangen.  Schon  bei  der  Berechnung  der  Kreisfläche 
tritt  dieser  Fall  ein.  Aus  der  Betrachtung  des  Kreises  als 
Kreis  können  wir  wohl  niemals  zu  der  Flächenformel 
gelangen,  schon  deshalb  nicht,  weil  ja  das  Verlangen,  die 
Fläche  des  Kreises  zu  bestimmen,  auf  der  fiktiven 
Vorstellung  berulit,  es  lasse  sich  ein  gemeinschaft- 
liches Maß  für  geradlinige  und  krummlinige  Figuren  fin- 
den. Wo  wir  also  eine  solche  Formel  nicht  direkt  ableiten 
können,  da  tut  jener  bezeichnete  Umweg  durch  das  Un- 
endlich-Kleine vortreffliche  Dienste;  indem  wir  in  diesem 
Falle  bekanntlich  den  Kreis  als  einen  Spezialfall,  als  den 
Grenzfall  eines  Vieleckes  betrachten,  erhalten  wir  jene 
Formel  durch  diese  fiktive  Behandlung  desselben.  Wir 
tun,  wir  sprechen,  wir  denken,  wir  rechnen  — als  ob  der 
Kreis  ein  regelmäßiges  Vieleck  mit  unendlich  vielen,  un- 
endlich kleinen  Seiten  wäre.  Wir  machen  also  die  Fiktion 
unendlich  ^^eler,  unendlich  kleiner  Seiten.  Somit  ist 


Die  Fiktion  (ies  Unendlich-Kleinen. 


247 


hier  die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen  nicht  nur 
eine  wertlose  Spielerei,  sondern  sie  hat  ihren  guten  Sinn 
und  ihr  gutes  Recht,  und  sie  ist,  wie  gezeigt,  wenigstens 
eine  bequeme  Rede-  und  Vorstel- 
lungsweise. Aus  der  Formel  der  Viel- 

ecksfläche  F =-h  CM  (AB + BC + CD 

-f-  N A)  (wo  G M = dem  Radius 
des  eingeschriebenen  Kreises  ist)  er- 
halten wir  die  Formel  für  die  Kreis- 
fläche durch  die  Erwägung,  daß  in 
diesem  Falle,  wenn  wir  den  Kreis  N 
als  ein  regelmäßiges  Vieleck  von 
unendlich  vielen,  kleinen  Seiten  be- 
trachten, der  Radius  des  umschriebenen  Kreises  (Seite  der 
Dreiecke,  in  die  man  das  Vieleck  zerlegt)  und  der  des  ein- 
geschriebenen Kreises  (Höhe  derselben  Dreiecke)  unendlich 
wenig  differieren,  und  wir  also  das  Recht  haben,  an  Stelle 
des  Faktors  GM  den  Radius  des  bezüglichen  Kreises  selbst 
zu  setzen,  wodurch  wir  nebst  den  übrigen  Modifikationen 
die  bekannte  Formel  F = rV  erhalten. 

Diese  Reispiele,  welche  sich  beliebig  vermehren  ließen, 
weisen  alle  darauf  hin,  daß  das  „Unendlich -Kleine“ 
und  ebenso  auch  das  „Unendlich-Große“  Vermittelungs- 
begriffe zwischen  ungleichartigen  Gebilden  sind,  hinter 
denen  keineswegs  etwas  Mysteriöses  zu  suchen  isU).  Der 
„Durchgang  durchs  Unendliche“,  wie  man  diesen  Kunst- 
griff getauft  hat,  ist  ein  durchaus  durchschaubarer  metho- 
discher Vorgang,  wie  unsere  Analyse  desselben  gezeigt 
hat.  Der  Widerspruch  ist  für  diese  beiden  Be- 
griffe eben  darum  unentbehrlich,  weil  sie  Ge- 
biete vermitteln  sollen,  die  ungleichartig  sind,  deren  De- 
finition sie  einander  ausschließt,  weil  in  dem  Begriff  des 
einen  ein  Element  fehlt,  das  in  dem  anderen  enthMten  ist. 


h In  bezug  auf  das  Unendliche  sei  hier  noch  angeführt,  was 
Gauß  darüber  sagt  (Briefwechsel  II,  271).  Er  sagt,  das  Unendliche 
sei  nur  ,eine  Fa^on  de  'parier^  indem  man  eigentlich  von  Grenzen 
spricht,  denen  gewisse  Verhältnisse  so  nahe  kommen,  als  man  will, 
während  anderen  ohne  Einschränkung  zu  wachsen  verstattet  ist“  usw. 
Wagon  de  parier  — ganz  so  bezeichnet  schon  Leibniz  das  Unendliche 
in  ieder  Hinsicht:  als  einen  modus  dicendi. 


248 


Zweifer  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Aber  wir  bilden  trotzdem  jene  widerspruchsvollen  Begriffe 
mit  vollem  Bewußtsein  ihrer  widerspruchsvollen  Natur: 
mit  vollem  Bewußtsein  bilden  wir  falsche,  unmögliche  Be- 
griffe um  eines  praktisch-wissenschaftlichen  Zweckes 
willen  — Fiktionen. 


Wenn  man  die  Frage  aufwirft,  wie  sich  denn  das 
Rätsel  erkläre,  daß  man  gerade  durch  solche  unlogischen, 
ja  unsinnigen  Begriffe  richtige  Rechnungsresultate  er- 
halte, so  liegt  die  Antwort  hierauf  schon  in  dem,  was  wir 
bei  den  früheren  Fiktionen  als  gemeinsames  Gesetz  fan- 
den, nämlich  in  der  Korrektur  der  gemachten  Fehler. 

Das  Denken  macht  offenbar  einen  Fehler,  der  in  dem 
zuletzt  betrachteten  Falle  eklatant  genug  ist.  Dieser  Fehler 
besteht  einfach  darin,  daß  der  Kreis  überhaupt  als  ein 
Vieleck  betrachtet  wdrd.  Da,  wie  aus  den  elementaren 
Definitionen  leicht  erhellt,  jene  beiden  Gebilde  — Kreis 
und  Vieleck  — spezifisch  verschieden  sind,  so  ist  schlech- 
terdings logisch  unmöglich,  das  eine  Gebilde  unter  die 
andere  Spezies  zu  subsumieren.  Der  Fehler  besteht  somit 
offenbar.  Es  ist  aber  selbstverständlich,  daß  sich  ein 
irgendwo  eingeführter  Fehler  in  dem  Schlußergebnis  stö- 
rend geltend  machen  muß;  da  nun  aber  im  vorliegenden 
Falle  dies  nicht  stattfindet,  indem'  ja  das  Resultat  und  die 
daraus  gezogenen  Konsequenzen,  speziell  die  Flächen- 
berechnung, zutreffen,  so  kann  das  nur  so  erklärt  wer- 
den, daß  jener  Fehler  wieder  auf  irgendeine  Weise  rück- 
gängig gemacht  worden  ist.  Das  ist  denn  auch  der  Fall. 
m V Betrachten  wir  das  Bogenstück  m n, 

welches  als  äquivalent  mit  der  Ecke  m p n 
angesehen  wird  (m  n = m p -f-  P n),  so 
P liegt  der  Fehler  auf  der  Hand  und  das 

Gleichheitszeichen  ist  hier  positiv  falsch.  Der  Fehler  wird 
aber  dadurch  rückgängig  und  unschädlich  gemacht,  daß 
beide  Seiten  der  Gleichung  unendlich  klein  angenommen 
werden,  sowohl  das  Bogenstück  als  die  Ecke,  und  daß, 
wie  schon  oben  bemerkt  war,  daraus  dann  als  Folge  sich 
ergibt,  daß  jener  Kreis  als  ein  Vieleck  mit  unendlich 
vielen,  unendlich  kleinen  Seiten  betrachtet  wird.  Durch 


Die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen. 


249 


die  stetige  Verkleinerung  von  m n und  durch  entsprechende 
Vervielfachung  der  Zahl  der  Ecken  des  eingeschriebenen 
Vielecks  wird  der  gemachte  Fehler  ebenso  stetig  verklei- 
nert; und  weil  dies  ins  Unendliche  fortgesetzt  gedacht 
w'ird,  wird  eben  der  begangene  Fehler  dadurch  selbst  un- 
endlich klein,  oder  vielmehr  = Null.  Somit  besteht  das 
ganze  Geheimnis  hierbei  in  der  Kompensation  des 
gemachten  Fehlers.  Diese  Korrektur  spezifiziert  sich 
nun  in  diesen  und  in  ähnlichen  Fällen  dahin,  daß  der 
eine  Fehler  durch  einen  anderen  Fehler  kompensiert  wird, 
weshalb  man  dieses  ganze  Verfahren  die  „Methode  der 
doppelten  Fehler“  zu  nennen  berechtigt  ist.  Dieser  zweite 
Fehler  ist  hier  eben  die  unlogische  Annahme  eines  Un- 
endlich-Kleinen oder,  wenn  man  will,  eines  Unendlich- 
Großen  (jenes  bezieht  sich  auf  die  Größe  der  Vielecks- 
seiten, dieses  auf  ihre  Zahl,  was  beides  voneinander 
abhängig  ist).  Jene  obige  Gleichung  ist,  so  wie  sie  dasteht, 
falsch;  sie  verliert  an  Unrichtigkeit  mit  der  zunehmenden 
Kleinheit  und  Anzahl  der  Seiten,  bleibt  aber  eine  endliche, 
solange  die  beiden  betreffenden  Größen  selbst  endliche 
bleiben.  Sie  wird,  wie  bemerkt,  unendlich  klein,  d.  h. 
= Null,  sobald  jene  Größen  selbst  ins  Unendliche  über- 
gehen; nur  daß  diese  Setzung  eines  Unendlich-Kleinen,  wie 
bemerkt,  ein  neuer  Fehler  ist,  der  aber  den  ersteren  kom- 
pensiert. Nachdem  so  die  beiden  Fehler  sich  gegenseitig 
gleichsam  vertilgt  haben,  wird  die  Rechnung  von  beiden 
zugleich  befreit;  das  Resultat  wird  ein  richtiges,  nach- 
dem der  erste  Fehler  durch  einen  zweiten  gutgemacht  ist. 
Jetzt  lassen  sich  viele  Sätze,  die  von  Vielecken  gelten, 
mutatis  mutandis  auf  den  Kreis'  übertragen,  wenigstens 
diejenigen,  welche  diese  Umwandlung  ertragen  und  zu- 
lassen. Durch  die  fiktive  Analogie  ist  also  ein  bestimm- 
ter, sehr  nützlicher  Zweck  erreicht.  Die  Betrachtung  des 
Kreises,  als  ob  er  ein  Vieleck  w'äre,  hat  sich  als  eine 
fruchtbare  Vorstellungsweise  erwiesen;  ich  tue,  spreche, 
denke,  rechne,  als  ob  es  unendlich  kleine  Vielecksseiten 
gäbe,  als  ob  es  unendlich  viele  solcher  gäbe,  und  als  ob 
die  unendlich  große  Anzahl  derselben  doch  in  einer  end- 
lichen Größe  vollendet  summiert  wäre:  durch  alle  diese 
falschen  Vorstellungen  hindurch  komme  ich  zu  einem 
schließlich  doch  richtigen  Resultat. 


250 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Bekanntermaßen  steht  dieses  Beispiel  — die  Reduk- 
tion des  Kreises  auf  ein  Vieleck  — nicht  isoliert  da.  Viel- 
mehr wird  dieselbe  fiktive  Analogiemethode  sehr  häufig 
angewendet.  Nach  ganz  denselben  Prinzipien  betrach- 
tet man  den  Zylinder  als  ein  regelmäßiges  Prisma  von 
miendlich  großer  Seitenzahl,  und  vermöge  dieser  Fiktion 
ist  die  Jnhaltsformel  des  Prisma:  V = h*F  in  der  Form 
V — h*r^7r  auch  auf  den  Zylinder  anwendbar.  So  kann 
man  den  Kegel  als  eine  regelmäßige  Pyramide  von  u|n- 
endlicher  Seitenzahl  betrachten,  und  die  Inhaltsformel 

der  Pyramide  V = h • F gilt  unter  der  Form  V = h • r^/r 

vom  Kegel.  Genau  so  ist  es  bei  der  Kugel,  deren  Ober- 
fläche berechnet  werden  soll.  Man  sucht  zu  diesem 
Zwecke  zuerst  die  Fläche,  welche  ein  um  eine  Achse 
rotierendes  Vieleck  beschreibt,  und  überträgt  das  hier 
gefundene  Gesetz  auf  die  von  einem  Halbkreis  beschrie- 
bene Fläche.  Um  den  Inhalt  zu  berechnen,  kann  man 
sich  die  Kugel  in  eine  unendliche  Anzahl  um  den  Mittel- 
punkt herumliegender  dreiseitiger  Pyramiden  von  unend- 
lich kleiner  Grundfläche  zerlegt  denken. 

Wir  finden  hier  überall  dasselbe  Prinzip  der  fik- 
tiven Analogie,  nach  dem'  das  Krumme  als  aus'  un- 
endlich vielen,  unendlich  kleinen  geraden  Linien  zusam- 
mengesetzt gedacht  wird.  Nach  streng  logischen  Re- 
geln könnte  man,  wie  bemerkt,  niemals  das  Krumme 
unter  das  Gerade  subsumieren.  Alle  Gesetze  geradliniger 
Figuren  gelten  nur  für  solche,  und  die  geradlinigen  Figu- 
ren bleiben  geradlinig,  auch  wenn  man  die  Zahl  der 
Ecken  ins  Unbestimmte  vermehrt.  Man  kommt  damit 
nie  zu  einer  Grenze,  und  es  gibt  keinen  angebbaren  Punkt, 
wo  das  Geradlinige  plötzlich  umspränge  und  krummlinig 
würde.  Freilich  werden  sich  beide  immer  mehr  nähern, 
aber  Näherung  ist  noch  keine  Berührung,  ist  noch  kein 
Zusammenfallen.  Keine  Vervielfältigung  der  Seiten  kann 
zu  einem  Zusammenfallen  führen.  Der  Fehler,  den 
man  also  mit  der  Identifiziermig  macht,  ist  da.  Wie  er 
korrigiert  wird,  wurde  schon  oben  bemerkt. 

Es  gibt  noch  mehrere  belehrende  Beispiele  derselben 
Methode.  Es  kann  nämlich  z.  B.  auch  umgekehrt  von 
Wert  sein,  das  Gerade  unter  das  Krimime  zu  subsumieren. 


I 


Die  Fiktion  des  Unendlich-Kleinen. 


251 


I Da  nun  eine  Kreislinie  von  sehr  großem  Durchmesser  sich 
sehr  dem  Geradlinigen  annähert,  so  läßt  sich  das  letztere 
als  Ausschnitt  eines  Kreises  mit  unendlichem  Durch- 
messer betrachten;  eine  Gerade  wird  so  betrach- 
tet und  behandelt,  als  ob  sie  Teil  der  Peripherie  eines 
S Kreises  mit  unendlich  großem  Durchmesser  wäre. 

Ähnlich  ist  es  mit  dem  Punkte,  d.  h.  dem  mathe- 
! matischen,  bei  dem  es  von  Interesse  sein  kann,  ihn  als 
' Fläche  (oder  Körper)  zu  betrachten.  Man  betrach- 
i tet  den  mathematischen  Punkt  zu  diesem  Zweck,  als 
ob  er  ein  Kreis  oder  eine  Kugel  von  unendlich  kleinem 
I Durchmesser  wäre. 

Dieselbe  Vermittlerrolle,  welche  wir  das  Unendliche, 
speziell  das  Unendlich-Kleine  hier  spielen  sehen,  über- 
nimmt derselbe  Begriff  bekanntermaßen  in  viel  ausge- 
dehnterer Weise  in  der  „Infinitesimalmethode“.  In  dieser 
wird  dasselbe  Prinzip,  das  wir  bisher  verfolgten,  weiter  aus- 
gedehnt, und,  was  das  Auszeichnende  und  Unterscheidende 
ist,  die  Rechnung  bemächtigt  sich  jener  fiktiven  Methode 
in  eigentümlicher  Weise.  Bei  den  bisher  betrachteten 
Fällen  bot  ja  die  Rechnung  keine  Schwierigkeiten  dar; 

1 sobald  die  Betrachtungsweise  gerechtfertigt  war,  sobald 
die  Übertragung  ihre  Begründung  gefunden  hatte,  konnte 
, man  die  Vieleckssätze  ohne  weitere  Umschweife  auf  den 
: Kreis  anwenden;  denn  jene  unendlich  kleinen  Größen 

spielten  nur  in  der  Begründung,  nicht  aber  in  der  Rech- 
nung .eine  Rolle.  Einen  anderen  Aspekt  gewinnt  aber 
die  Sache  in  der  eigentlichen  Infinitesimalrechnung,  deren 
auszeichnende  Eigentümlichkeit  nicht,  wie  man  häufig 
meint,  in  der  Infinitesimalkonzeption  als  solcher  zu  suchen 
ist  — diese  war  auch  schon  vor  Leibniz  und  Newton 
aufgekommen  — sondern  vielmehr  in  der  Auffindung 
eines  analytischen  (algebraischen)  Ausdrucks  für  das 
Unendlich-Kleine. 

Eine  andere  bekamite  Anwendmig  des  Unendlichen 
mittels  einer  gewaltsamen  Subsumtion  ist  folgende:  Man 
kann  einen  der  drei  Eckpunkte  eines  Dreiecks  beliebig 
von  der  ihm  gegenüberliegenden  Seite  allmählich  immer 
weiter  und  weiter  ins  Unbeschränkte  hinausrücken.  Dabei 
werden  selbstverständlich  die  zwei  Winkel  an  jener  Seite 
immer  größer,  während  der  Winkel  an  dem  besagten  Eck- 


252  Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen; 

punkte  sich  ins  Unbeschränkte  verkleineil.  Da  alle  drei 
Winkel  zusammen  zwei  Rechte  ausmachen,  so  werden 
also  jene  zwei  Winkel  an  der  Seite  zusammen  sich 
immer  mehr  der  Summe  von  zwei  Rechten  nähern,  ohne 
sie  jedoch,  solange  jene  Hinausschiebung  eine  endliche 
ist,  zu  erreichen.  Nimmt  man  nun  hier  den  Begriff  des 
Unendlich-Großen  zu  Hilfe,  indem  man  jenen  Eckpunkt 
in  unendlicher  Entfernung  denkt,  so  verwandeln  sich  die 
beiden  Seiten  in  Parallellinien,  und  die  zwei  Winkel 
werden  genau  gleich  zwei  Rechten.  Man  kann  also  die 
beiden  parallelen  Geraden  in  Verbindung  mit  dem  von 
ihnen  auf  der  dritten  Geraden  abgeschnittenen  Stücke  be- 
trachten, als  ob  sie  ein  Dreieck  mit  zwei  unendlich 
langen  Seiten  bildeten.  Und  daraus  folgt  dann  sogleich, 
daß  das  sog.  11.  Axiom,  nach  dem  die  Summe  der 
beiden  inneren  Gegenwinkel  zweier  parallelen  geraden 
Linien,  welche  von  einer  dritten  Geraden  geschnitten  wer- 
den, 180  0 betrage,  als  ein  Spezialfall  des  Satzes  zu  be- 
trachten ist,  daß  die  Summe  der  drei  Winkel  in  einem 
ebenen  Dreiecke  gleich  zwei  Rechten  sei.  Wir  haben 
also  auch  hier  wieder  dieselbe  Anwendung : der  Begriff 
des  Unendlich-Großen  dient  zur  Subsumtion  eines  hete- 
rogenen Falles  unter  einem  anderen,  als  dessen  sogenann- 
ten Grenzfall  er  sich  betrachten,  d.  h.  fingieren  läßt. 
Aber  gerade  die  fiktive  Annahme  dieses  Grenzfalles  ist 
eben  der  Fehler,  welcher  durch  Einführung  des  fiktiven 
Unendlichkeitsbegriffes  korrigiert  wird. 


§ 26. 

Der  Sinn  der  Als-Ob-Betrachtung.*) 

Qxio  melior  grammaticus, 
eo  melior  philosophus. 

Dieser  alte  Satz  mag  trotz  der  Übertreibung,  welche 
er  einschließt,  als  Motto  zu  der  folgenden  Untersuchung 
dienen,  durch  welche  wir  unsere  frühere  Darstellung  er- 

Die  fortgefallenen  §§  23—25  enthalten  historische  Ergänzungen 
zur  Infinitesimalfiktion,  ergänzende  Bemerkungen  über  mathemathische 
Hilfslinien  u.  a. 


Der  Sinn  der  Als-Üb-Betrachtung. 


253 


weitern  und  vertiefen.  Wir  htaben  aufs  neue  in  den  vorher- 
gehenden Paragraphen  die  weittragende  Bedeutung  der 
„Als-Ob-Betrachtung“  besonders  in  der  Geschichte  der 
neueren  Mathematik  kennen  gelernt.  Und  so  mag  eine 
erneute  grammatische  Analyse  des  Als  ob  unsere  logische 
Untersuchung  verstärken. 

Nehmen  wir  zur  Verdeutlichung  zunächst  zwei  Stel- 
len aus  Kants  Kritik  der  praktischen  Vernunft  1.  Teil, 

1.  Buch,  1.  Hauptstück : „Von  den  Grundsätzen  der  rei- 
nen praktischen  Vernunft..“  1.  Deduktion  der  Grundsätze. 

1.  „Wenn  die  Maxime,  nach  der  ich  ein  Zeugnis  ab- 
zulegen gesonnen  bin,  durch  die  praktische  Vernunft  ge- 
prüft wird,  so  sehe  ich  immer  darnach,  wie  sie  sein 
würde,  wenn  sie  als  allgemeines  Naturgesetz  gälte.“ 

2.  „Wir  sind  uns  durch  die  Vernunft  eines  Gesetzes 
bewußt,  welchem,  als  ob  durch  unseren  Willen  zugleich 
eine  Naturordnung  entspringen  müßte,  alle  unsere  Maxi- 
men unterworfen  sind.“ 

Ferner  folgendes  Beispiel  aus  Kants  „Grundlegung 
zur  Metaphysik  der  Sitten“,  3.  Abschnitt. 

3.  „Ich  sage  nun:  ein  jedes  Wesen,  das  nicht  anders, 
als  unter  der  Idee  der  Freiheit  handeln  kann,  ist 
eben  darum,  in  praktischer  Hinsicht  wirklich  frei,  d.  i. 
es  gelten  für  dasselbe  alle  Gesetze,  die  mit  der  Freiheit 
unzertrennlich  verbunden  sind,  ebenso,  als  ob  sein  Wille 
auch  an  sich  selbst,  und  in  der  theoretischen  Philosophie 
gültig,  für  frei  erklärt  würde.  Nun  behaupte  ich,  daß  wir 
jedem  vernünftigen  Wesen,  das  einen  Willen  hat,  not- 
wendig auch  die  Idee  der  Freiheit  leihen  müs- 
sen, unter  der  es  allein  handle.“ 

Dazu  daselbst  die  erläuternde  Anmerkung: 

. . . „so  gelten  doch  dieselben  Gesetze  für  ein  We- 
sen, das  nicht  anders,  als  unter  der  Idee  seiner 
Freiheit  handeln  kann,  die  ein  Wesen,  das  wirklich  frei 
wäre,  verbinden  würden.“ 

Diese  Beispiele  genügen  als  Basis  für  unsere  folgende 
Untersuchung,  deren  Thema  dahin  zu  präzisieren  ist, 
daß  wir  den  Sinn,  den  logischen  Wert  und  Gehalt,  die 
gedankliche  Bedeutung  der  Partikelverhindung  „als  ob“ 
zu  erforschen  haben. 

Welche  logische  Funktion  oder  welche  Art 


254 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen 


und  Modifikation  der  allgemeinen  Urteil s f o nn. 
wird  durch  die  sprachliche  Formel  „als  ob“  (wie 
wenn)  ausgedrückt?  Welche  Wendung  des  Den- 
kens wird  durch  diese  Form  angedeutet  und  zum, 
Ausdruck  gebracht  ? 

Nehmen  wir  das  dritte  der  obigen  Beispiele,  so  ist 
der  kürzeste  Ausdruck  des  Gedankens:  Der  Mensch  muß 
handeln,  und  in  bezug  auf  seine  Handlungen  beurteilt 
werden,  als  ob  er  frei  wäre,  wie  wenn  er  frei  wäre.  Zu- 
nächst wird  — das  liegt  in  dem  „als“  und  in  dem 
„wie“  — offenbar  eine  Gleichsetzung,  eine  Vergleichung 
gemacht  oder  gefordert.  Die  Gesetze,  nach  denen  der 
Mensch  handeln  soll,  werden  verglichen  oder  direkt 
gleichgesetzt  mit  den  Gesetzen  freier  Wesen.  Der 
erste  Gedanke  ist  also  einfach:  Der  Mensch  muß  handeln 
genau  so,  wie  die  freien  Wesen  handeln.  Allein  diesem 
primären  Gedanken  stellt  sich  ein  sekundärer  zur  Seite, 
welcher  durch  den  Konditionalsatz  ausgedrückt  wird.  Die 
Form  dieses  Konditionalsatzes  besagt,  daß  die  darin  auf- 
gestellte Bedingung  eine  unwirkliche  oder  un- 
mögliche ist.  Die  Formel:  der  Mensch  muß  in  sei- 
nem Handeln  beurteilt  werden,  als  ob  er  frei  wäre  — ent- 
spricht nicht  dem  einfachen  Schema:  wenn,  so;  ein 
Nachsatz  scheint  gar  nicht  da  zu  sein.  Der  Nachsatz 
ist  aber  nur  verschwiegen  und  unterdrückt  und  liegt 
zwischen  dem  „als“  und  „ob“  mitten  inne,  aber  er  ist 
gleichsam  verschluckt:  in  dem  ersten  Beispiele  hat  Kant 
diese  Aposiopese  nicht  gemacht;  er  sagt  ausführlicher: 
ich  betrachte  die  Maxime  so,  wie  sie  sein  würde, 
wenn  sie  als  allgemeines  Naturgesetz  gelten  sollte. 

Die  Urform  wäre:  wenn  der  Mensch  frei  wäre,  so 
würde  diese  oder  jene  Folge  eintreten.  Der  notwen- 
dige Zusammenhang  der  Folge  mit  der  Bedingung 
wird  mit  Bestimmtheit  ausgesprochen,  zugleich  aber  die 
Erfüllbarkeit  der  letzteren  ausdrücklich  in  Abrede  gestellt, 
so  daß  also  auch  der  Haupt-  oder  Nachsatz,  dessen  Gül- 
tigkeit an  jene  Bedingung  geknüpft  war,  und  der  mit 
Notw’ endi g keit  aus  ihr  folgt,  etwas  nicht  Wirk- 
liches enthält.  Es  wird  also  in  diesem  Beispiel  die 
Bedingung:  die  Freiheit,  geleugnet,  und  damit  natürlich 
in  diesem  Falle  auch  die  daraus  fließenden  Folgen.  Der 


I 


255 


Der  Sinn  der  Als-Ob-Betrachtung. 

I 

: Fall  wird  gesetzt,  aber  seine  Unmöglichkeit  ist  nackt  aus- 

gesprochen. Dieses  Unmögliche  wird  aber  in  einem  sol- 
chen Konditionalsatz  momentan  als  möglich  öder  wirk- 
lich angenommen  oder  gesetzt. 

I Nim  aber  wird  diese  ganze  hypothetische  Verbin- 
dung in  einen  neuen  Zusammenhang  gebracht.  Es  wird 
der  Hauptsatz  — der  Folge-  oder  Nachsatz  — in  eine 
i neue  Verschlingung  gebracht,  es  "wird  gleichsam  eine 
I zweite  Schleife  zur  ersten  hinzugemacht.  Diese  neue  Ver- 
bindung ist  schon  oben  herausgehoben ; es  ist  eine  Gleich- 
setzung eines  anderen  Falles  mit  dieser  Folge.  Während 
nun  aber  diese  Folge  in  dem  einfachen  Konditionalsatz, 
wie  bemerkt,  ein  Unwirkliches  ist  (weil  auch  die  Be- 
dingung eine  unwirkliche  ist),  wird  diese  unwirkliche 
Folge  doch  als  der  Maßstab  gesetzt,  nach  dem  ein  vor- 
liegendes Wirkliches  zu  messen  ist.  Somitistdadurch 
I die  Gleichsetzung  einer  Sache  mit  den  not- 
i wendigen  Folgen  eines  unmöglichen  oder  un- 
‘ wirklichen  Falles  f orderungsweise  ausge- 
sprochen. Bei  dem  vorliegenden  Beispiel  ist  1.  der  un- 
mögliche Fall:  Die  Existenz  freier  V/esen  oder  kürzer 
die  Behauptung,  die  Menschen  seien  freie  Wesen.  2.  Die 
notwendigenFolgen  (aus  diesem  unmöglichen  Falle) : 
Die  Gesetze,  nach  denen  freie  Wesen  handeln:  diese 
folgen  mit  Notwendigkeit  aus  der  Existenz  freier  Wesen. 
3.  Die  Gleichsetzung  einer  Sache  (mit  den  not- 
wendigen Folgen  [aus  dem  unmöglichen  Falle]):  Die 
Gesetze,  nach  denen  die  wirklich  existierenden  Menschen 
handeln  sollen,  werden  gleichgesetzt  (f orderungsweise) 
mit  den  Gesetzen,  welche  notwendig  folgen  aus  der' 
(unwirklichen  oder  unmöglichen)  Existenz  freier  Wesen. 

Somit  wird  hier  ein  unmöglicher  Fall  fingiert,  aus 
ihm  werden  die  notwendigen  Konsequenzen  gezogen,  und 
mit  diesen  Konsequenzen,  welche  doch  auch  unmöglich 
sein  sollten,  werden  Forderungen  gleichgesetzt,  welche 
aus  der  bestehenden  Wirklichkeit  selbst  nicht  folgen. 

Das  läßt  sich  leicht  an  den  oben  mitgeteilten  Bei- 
spielen im  einzelnen  durchführen.  Bei  dem  ersten  Bei- 
spiel setze  ich  mit  Kant  den  unmöglichen  Fall,  eine 
sittliche  Maxime  gelte  als  allgemeines  Naturgesetz;  aus 
diesem  unwirklichen  Fall  zieht  Kant  die  Konsequenzen, 


25G 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


nämlich  hier  die  Eigenschaften  eines  allgemeinen  Natur- 
gesetzes; und  diese  Eigenschaften  werden  sodann  auf  die 
Maxime  selbst  übertragen. 

Ebenso  ist  es  beim  zweiten  Beispiel : man  setzt  den 
unwirklichen  Fall,  daß  durch  unsern  Willen  zugleich  eine 
(allgemeine)  Naturordnung  entspringen  müßte;  aus  diesem 
fingierten  Falle  zieht  man  als  notwendige  Konsequenz 
das  angedeutete  Gesetz,  und  diesem  werden  unsere  wirk- 
lichen Willensrichtungen,  die  Maximen,  unterworfen. 

Mit  dem  Terminus:  „Idee  der  Freiheit“,  mit  der  For- 
derung, man  müsse  „jedem  vernünftigen  Wesen  die 
Idee  der  Freiheit  leihen“,  meint  Kant  dasselbe;  „Idee 
der  Freiheit“  heißt  jener  unmögliche,  unwirkliche,  ideale, 
nur  in  der  Idee  bestehende,  fingierte  Fall,  und  man  muß 
leihweise  diesen  Fall  annehmen,  die  wirklichen  Wesen 
als  frei  betrachten,  was  sie  aber  nicht  sind;  sonst  müßte 
man  nicht  die  Idee  „leihen“,  wenn  sie  ihnen  selbst  als 
Eigenschaft  eigentümlich  angehören  würde;  und  dann 
muß  man  hieraus  die  betreffenden  Konsequenzen  ziehen, 
in  diesem  Falle  die  moralischen  Anforderungen,  welche 
an  ein  freies  Wesen  gestellt  werden  können. 


§ 27. 

Das  fiktive  Urteil. 

Das  fiktive  Urteil,  dessen  sprachlichen  Ausdruck, 
das  Als  ob,  wir  eben  zergliedert  haben,  läßt  sich  in 
die  traditionelle  Einteilung  der  Urteilsformen  in  keiner 
Weise  einstellen,  ein  neuer  Beweis,  daß  diese  insbesondere 
von  Sigwart  und  Lotze  angegriffene  Einteilung  wesent- 
licher Korrekturen  bedarf.  Die  Grundform  des  fiktiven 
Gedankenzusammenhanges  ist:  A ist  zu  betrachten,  als 
ob  (wie  wenn)  es  B wäre,  oder : A ist  als  B zu  betrachten 
(obwohl  es  nicht  B ist);  z.  B.  der  Mensch  ist  als  ein 
freies  Wesen  zu  betrachten  (behandeln),  der  Kreis  ist  als 
ein  Vieleck  zu  betrachten  (behandeln).  Ist  das  ein  posi- 
tives oder  ein  negatives,  ein  kategorisches  oder  ein  hypo- 
thetisches, ein  assertorisches  oder  ein  problematisches 
Urteil?  Welche  Art  von  Zusammenhang  wird  hier  zwi- 


Das  fiktive  Urteil. 


257 


sehen  A und  B statuiert?  Und  auf  welche  Weise  soll 
dieser  so  oder  so  statuierte  Zusammenhang  stattfinden? 

Die  einfache,  ursprüngliche  Urteilsfunktion  (das  so- 
genannte assertorische,  kategorische  Urteil)  spricht  die 
Gleichsetzung  von  A und  B nach  irgendeiner  Richtung 
aus,  sagt  aus,  daß  zwischen  A und  B irgendeine  der 
möglichen  Urteilsrelationen  (Tätigkeit,  Eigenschaft,  Iden- 
tität usw.)  bestehe.  Nennen  wir  dieses  Urteil  das  pri- 
märe, so  stehen  ihm  mehrere  sekundäre  Urteilsmodi  zur 
Seite  zunächst  das  negative,  dann  das  problematische. 

Im  primären  Urteil  wird  die  Urteilsfunktion  einfach 
vollzogen  A ist  B. 

In  den  sekundären  Urteilsformen  wird  dieser  Voll- 
zug auf  irgendeine  Weise  alteriert.  Das  negative  Ur- 
teil hebt  einen  schon  geschehenen  Urteilsvollzug  auf 
oder  weist  den  Versuch  zu  einem  solchen  zurück:  A ist 
nicht  B.  Das  problematische  Urteil  gibt  den  Voll- 
zug oder  seine  Aufhebung  frei,  da  das  Subjekt  über  den 
Rechtsgrund  zu  dem  Vollzug  oder  über  die  Notwendigkeit 
des  Nichtvollzuges  noch  nicht  mit  sich  einig  ist:  A ist 
vielleicht  B;  A ist  vielleicht  nicht  B.  Modifikationen 
davon  sind  die  Formen,  welche  durch  Adverbia  wie: 
wahrscheinlich,  möglicherweise,  wahrscheinlich  nicht, 
kaum  usw.  ausgedrückt  werden. 

Hieran  schließt  sich  nun  offenbar  das  fiktive  Ur- 
teil als  eine  sekundäre  Urteilsform:  das  Urteil 
wird  vollzogen  mit  gleichzeitigem  Protest  gegen  den  Ge- 
danken der  objektiven  Gültigkeit,  aber  mit  ausdrücklicher 
Wahrung  der  subjektiven  Bedeutung.  Das  Urteil  wird 
mit  dem  Bewußtsein  der  Ungültigkeit  vollzogen,  aber  es 
wird  dabei  stillschweigend  vorausgesetzt,  daß  dieser  Voll- 
zug für  das  Subjekt,  für  die  subjektive  Betrachtungsweise 
zulässig,  nützlich  und  zweckdienlich  ist.  Die  Form  ist, 
wie  bemerkt : A ist  zu  betrachten,  wie  wenn  es  B 
wäre.  Jene  Ungültigkeit  ist  schon  durch  die  Form 
des  hypothetischen  Satzes  ganz  deutlich  ausgesprochen, 
wie  schon  im  vorigen  Paragraphen  zu  bemerken  Ge- 
legenheit war:  in  einen  hypothetischen  Zusammenhang 
können  ja  nicht  nur  wirkliche  und  mögliche,  sondern  auch 
unwirkliche  und  unmögliche  Dinge  gebracht  werden,  weil 
nur  der  Zusammenhang  zwischen  den  beiden  Vorausset- 

Vaihing er,  Philosophie.  17 


258 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


Zungen,  nicht  die  Wirklichkeit  dieser  seihst,  zum  Ausdruck 
gelangt.  „Wenn  der  Kreis  ein  Vieleck  wäre,  so  wäre  er  den 
Gesetzen  gradliniger  Figuren  zu  unterwerfen.“  Dieser  Zu- 
sammenhang ist  ebenso  notwendig,  wie  beide  Sätze,  die 
in  Zusammenhang  gebracht  sind  — streiiggenommen  — 
falsch  sind.  „Wenn  der  Diamant  ein  Metall  wäre,  so  wäre  er 
schmelzbar.“  „Wenn  Cäsar  nicht  ermordet  worden  wäre, 
so  hätte  er  sich  zum  Imperator  auf  geschwungen.“  „Wenn 
ich  den  Philipp  gerecht  handeln  sähe,  würde  ich  ihn 
für  sehr  bewundernswert  halten“  (Demosthenes).  „Wenn 
wir  den  Hilfszug  unternommen  hätten,  würde  uns  Phi- 
lipp jetzt  nicht  lästig  sein“  (id).  Das  sind  bekanntlich 
lauter  absolut  notwendige  Zusammenhänge  zwischen  Un- 
wirklichem oder  Unmöglichem.  In  der  Fiktion  wird  ein 
solcher  unmöglicher  und  also  auch  ungültiger  Fall  für 
einen  praktischen  Zweck  als  nichtsdestoweniger  möglich 
angesetzt;  genauer  genommen  ist  die  Wendung  noch 
feiner;  nicht  der  immögliche  Fall  selbst  wird  als  wirklich 
gesetzt,  sondern  nur  mit  den  aus  ihm  fließenden  Folgen, 
die  mit  ihm  notwendig  verbunden  sind,  wird  die  Be- 
trachtungsweise des  vorliegenden  Gegenstandes  oder  Falles 
gleichgesetzt,  während  die  Bedingung  selbst  durch  die 
Form  zugleich  als  eine  unerfüllbare  mitbezeichnet  wird. 
Offenbar  liegt  dies  in  der  Redewendung:  „der  Kreis  ist 
denjenigen  Gesetzen  geradliniger  Figuren  zu  unterwerfen, 
welchen  er  unterstünde,  wenn  er  ein  Vieleck  wäre“,  oder: 
„der  Kreis  ist  so  zu  behandeln,  wie  wenn  er  ein  Vieleck 
wäre“.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die  Ungültigkeit  der 
Gleichsetzmig  von  Kreis  und  Vieleck,  von  A und  B,  in 
dieser  Form  als  eine  unbedingte  ausgesprochen  wird. 

Sonach  ist  das  fiktive  Urteil  eine  höchst  eigentüm- 
liche Komplikation:  es  ist  negativ,  insofern  die  Gleich- 
setzung von  A und  B deutlich  als  eine  ungültige  ausge- 
sprochen wird;  es  ist  positiv,  insofern  die  Möglichkeit, 
dieses  ungültige  Urteil  doch  als  gültig  zu  behandeln,  be- 
jaht wird;  in  dieser  selben  Hinsicht  ist  es  auch  kate- 
gorisch, während  es  doch  zugleich  andererseits  einen 
hypothetischen  Bestandteil  enthält;  denn  es  setzt  einen 
unmöglichen  Fall  und  zieht  aus  diesem  die  notwendigen 
Konsequenzen : es  ist  problematisch,  assertorisch,  sogar 
eventuell  apodiktisch,  insofern  es  diese  Behandlungsweise 


Das  fiktive  Urteil. 


259 


einfach  ausspricht  oder  ihre  Möglichkeit  oder  Notwendig- 
keit besonders  hervorhebt.  Was  aber  die  Gleichsetzung 
von  A und  B selbst  betrifft,  so  ist  diese  keine  asser- 
torische, auch  nicht  eine  problematische,  sondern  einfach 
eine  fiktive,  d.  h.  hier  ist  ein  neuer  Urteilsmodus  zu 
statuieren,  der  bis  jetzt  unbeachtet  geblieben  ist. 

Das  fiktive  Urteil  wird  nun  freilich  grammatisch  oft 
in  so  verkürzter  Form  ausgesprochen,  daß  es  vom 
einfachen  kategorisch-assertorischen  Urteil  nicht  zu  unter- 
scheiden ist.  Ein  fiktives  Urteil  hat  strenggenommen 
folgende  Form: 

Der  Kreis  ist  als  ein  Polygon  von  unendlich  vielen, 
unendlich  kleinen  Seiten  zu  betrachten. 

Aber  daraus  wird  dann  durch  eine  locutio  compen- 
diaria : 

Der  Kreis  ist  ein  Polygon  mit  unendlich  vielen,  un- 
endlich kleinen  Seiten. 

Und  schließlich  lautet  die  Verkürzung: 

Der  Kreis  ist  ein  Polygon. 

Die  „Zweideutigkeit  der  Kopula“  kommt  hier  zum 
Vorschein.  Das  „ist“  ist  nicht  nur  zweideutig,  sondern 
vieldeutig.  In  diesem'  Falle  ist  das  „ist“  eine  sehr  knappe 
Abbreviatur  für  einen  sehr  komplizierten  Gedankeii- 
zusammenhang.  In  der  Mathematik  sind  nun  solche 
grammatischen  Abbreviaturen  nicht  von  Gefahr,  weil  in 
dieser  Wissenschaft  die  Korrektur  einer  eventuellen 
irrigen  Interpretation  nahe  bei  der  Hand  liegt. 

Anders  liegt  es  in  anderen  Wissenschaften.  Das  Urteil: 
die  Materie  ist  aus  Atomen  zusammengesetzt  — kann  von 
dem,  der  es  ausspricht,  als  bewußt-fiktives  Urteil  gemeint 
sein,  kann  aber  von  dem',  der  es  hört  oder  liest,  ohne 
eigene  Schuld  dogmatisch  verstanden  werden.  Hier  kann 
also  schon  die  Abbreviatur  recht  gefährlich  werden.  Hier 
muß  die  unerläuterte  Abbreviatur  dazu  führen,  die  Fik- 
tion in  ein  Dogma  oder  wenigstens  in  eine  Hypothese  zu 
verwandeln. 

Am  gefährlichsten,  am  verhängnisvollsten  wirken  solche 
Abbreviaturen  aber  in  der  Religion.  Mancher  Satz 
manches  Religionsstifters  ist  von  ihm  selbst  zunächst 
nur  als  bewußte  Fiktion  gemeint  gewesen.  Aber  teils 
die  Armut  der  Sprache  in  den  Urzeiten,  teils  die  Freude 


260 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


an  kurzen  und  prägnanten,  rhetorisch  wirkenden  Sätzen, 
teils  die  Rücksicht  auf  die  mindergebildeten,  kindlichen 
Gemüter  der  Hörer  führte  und  verführte  die  Religions- 
stifter dazu,  das,  was  sie  selbst  nur  im  Sinne  einer  be- 
wußten Fiktion  meinten,  in  der  sprachlichen  Form 
eines  Dogmas  auszusprechen.  Und  nach  dem  uns  ja  hin- 
reichend bekannten  „Gesetz  der  Ideenverschiebung“  ver- 
wandelte sich  die  bewußte  Fiktion  des  Meisters  alsbald 
für  den  Jünger  unbewußt  in  das  Dogma.  Christus  lehrte: 
Gott  ist  euer  Vater  im  Himmel;  damit  meinte  er  wohl: 
Ihr  müßt  Gott  (dessen  Existenz  für  Christus  natürlich 
keine  Fiktion,  sondern  ein  Dogma  war)  betrachten,  als 
ob,  gerade,  wie  wenn  er  euer  Vater  wäre,  und 
als  ob,  gerade  wie  wenn  er  über  den  Wolken  als 
beständiger  äußerer  Zuschauer  eures  Tuns  anwesend 
wäre.  Die  Jünger,  das  Volk,  die  Kinder  aller  Zeiten, 
aller  Lebensalter,  aller  Stände,  aller  Nationen  nah- 
men diese  bewußte  Allegorie,  diese  fiktive  Äußerung 
als  Dogma,  und  nicht  allein  die  kirchliche  Kunst, 
sondern  das  kindlich-gläubige  Gemüt  nahm  und  nimmt 
jenen  Satz  wörtlich,  buchstäblich,  sinnlich,  äußerlich. 
Aber  stets  haben  feinere  Geister  das  Geistig-Gemeinte 
auch  geistig  aufgefaßt  und  solche  Allegorien  als  das  hin- 
genommen,  was  sie  sind,  als  — Fiktionen.  Und  es  ist 
nur  recht  und  billig,  wenn  nach  demselben  Gesetz  der 
Ideenverschiebung  jetzt  auch  in  weiteren  Kreisen  das 
erstarrte  Dogma  wieder  rückwärts  in  eine  geistig-be- 
lebte, bewußte  Fiktion  verwandelt  wird.  Und  sehr  viele 
Geistliche  (wenigstens  in  protestantischen  Ländern,  nicht 
wenige  aber  auch  in  den  andern  Kirchen)  meinen,  wenn 
sie  jenen  Satz  mit  den  Lippen  sprechen,  damit  den 
in  der  Abbreviatur  leicht  verloren  gehenden  tieferen  oder 
höheren  Sinn.  Sie  wissen,  was'  sie  tun,  und  bedienen 
sich  insofern  einer  erlaubten  und  z^veckmäßigen  reli- 
giösen Fiktion. 

Eine  welthistorische  Rolle  spielt  „die  Zweideutigkeit 
der  Kopula“  (nämlich  bald  im  kategorisch-assertorischen, 
bald  im  fiktiv-allegorischen  Sinne)  in  dem  Streite  der 
Lutheraner  und  der  Reformierten  um  die  Bedeutung  des 
ecrrt  in  den  Einsetzungsworten  des  Abendmahls,  des 
^emvov  xvQiaxov.  Die  Sätze  lauten  (Ev.  Math.  XXVI,  26 


Die  Fiktion  im  Gegensatz  zur  Hypothese. 


261 


bis  29) ; tovtö  8(Stl  Qwfid  ^ov.  tovtö  edtt  t6  al/j^d  ^ov. 
Über  den  Sinn  des  botC  stritten  sich  Luther  und  Zwingli 
im  Religionsgespräch  zu  Marburg,  und  seitdem  ist  die 
Kontroverse  in  unzähligen  Abhandlungen  wiederholt  wor- 
den. Zwingli  faßte  als  dialektisch-feinerer  Geist  das  eaxi 
allegorisch,  ihm  ist  der  Satz  eine  bewußte  Fiktion  Christi : 
Dies  Brot  ist  so  zu  betrachten,  als  ob  es  mein  Leib  wäre; 
dieser  Wein  ist  so  zu  betrachten,  als  ob  er  mein  Blut 
wäre.  Luther  mit  seiner  derben  sinnlichen,  volkstümlichen 
Logik  wurde  bei  diesen  Erörterungen  unruhig  und  klopfte 
ungeduldig,  mit  dem  Finger  unter  den  Tisch  und  wieder- 
holte halblaut  die  Worte:  Est,  est:  Er  nahm  das  eavC  das 
„ist“  ganz  wörtlich,  und  sein,  den  feineren  Kurven  der 
Dialektik  widerstrebender  harter  Kopf  konnte  nicht  fas- 
sen, daß  es  sich  nur  um  eine  grammatische  Abbrevia^ 
tur  einer  bewußten  Fiktion  handle.  Nach  Zwingli  sagt  das 
edTL  keine  Identität  aus,  sondern  er  übersetzt  es 
mit  „significat“ ; nach  den  reformierten  Theologen  ist 
das  aaxi  nur  „allegorisch“,  nur  „symbolisch“  zu  ver- 
stehen, nach  unserer  Sprache  also  nur  fiktiv.  Schon 
Cicero,  auf  den  sich  die  Reformierten  auch  berufen, 
sagt  (De  Nat.  Deorum  I,  26):  Bei  den  Göttern  könne  nur 
quasi  corpus,  quasi  sanguis  vorhanden  sein;  und 
wenn  demgegenüber  die  Lutheraner  von  dem  verum 
corpus,  dem  verus  sanguis  sprechen,  so  würde  in  Leib- 
nizscher  Sprache  ihnen  zu  entgegnen  sein,  es  handle  sich 
vielmehr  bei  jenen  Sätzen  nur  um  — toleranter  vera. 

Das  fiktive  Urteil  spricht  keine  theoretische,  keine 
absolute  Wahrheit  aus,  sondern  nur  eine  praktische,  eine 
relative,  d.  h.  eine,  die  nur  in  Relation  zu  dem  Aussagen- 
den und  zu  dem  Zweck,  den  er  verfolgt,  richtig  ist,  also 
einen  Inhalt,  der  überhaupt  nur  mit  Vorsicht  und  Vor- 
behalt die  Bezeichnung  „wahr“  erhalten  darf. 


§ 28. 

Die  Fiktion  im  Gegensatz  zur  Hypothese. 

Nachdem  wir  den  Unterschied  des  fiktiven  Urteils 
vom  problematischen  dem  Ausdruck  und  Inhalt  nach 
hinreichend  untersucht  haben,  kann  und  muß  der  metho- 


262 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


dologische  Gegensatz  der  Fiktion  zur  Hypothese  — der 
eigentliche  Kern  dieses  ganzen  Buches  — zum  Schluß 
nochmals  zur  Erörterung  gelangen. 

^lan  kann  es  ein  für  die  bisherige  Logik  beschä- 
mendes Faktum  nennen,  daß  diese  beiden  Denkformen  bis 
jetzt  fast  immer  verwechselt  worden  sind:  eine  Ver- 
wechslung, Tv^elche  darin  ihre  Entschuldigung  finden  mag, 
daß  sich  beide  Denkformen  trotz  aller  Unterschiede  doch 
teilweise  nahestehen,  so  daß  sie,  wenn  sie  auch  prinzipiell 
scharf  zu  scheiden,  so  doch  in  praxi  nicht  immer  leicht 
auseinander  zu  halten  sind. 

Das  beste  Beispiel  sowohl  für  diese  leichte  Verwech- 
selbarkeit  als  für  den  prinzipiellen  Unterschied  beider 
Denkformen  ist  der  Goethesche  Begriff  eines  Urtieres 
und  einer  Urpflanze,  das  uns  schon  mehrfach  zur  Illu- 
strierung gedient  hat.  Goethe  stellte  das  Vorstellungs- 
gebilde eines  Urtieres  auf,  d.  h.  eines  Urtypus  aller  tie- 
rischen Erscheinungen  überhaupt,  als  dessen  Modifika- 
tionen, Transformationen,  Metamorphosen  alle  bekannten 
Tierarten  zu  betrachten  seien.  Goethe  selbst  war  sich, 
wie  [Schon  oben*  erwälint  worden  ist,  über  den  metho- 
dologischen Charakter  seines  Vorstellungsgebildes  nicht 
recht  klar:  manchmal  scheint  es  ihm  eine  hypothetische 
Annahme  zu  sein,  so  daß  er  die  Existenz,  wenigstens 
die  frühere  Existenz  eines  solchen  Wesens’  behaupten 
zu  wollen  scheint;  meistens  aber  ist  es  ihm  offenbar  nur 
ein  gedachter  Urtypus,  ohne  daß  damit  die  Existenz, ja 
nur  die  Existenzmöglichkeit  eines  solchen  IMustertieres  be- 
hauptet werden  sollte. 

Als  Goethe  diese  Gedanken  wieder  einmal  im  Ge- 
spräcli  mit  Schiller  entwickelte,  rief  dieser  bekanntlich 
aus:  „Das  ist  keine  Erfahrung,  das  ist  eine 
Idee.“ 

Der  Unterschied,  den  der  Kantianer  Schiller  in  Kanti- 
scher  Terminologie  hier  macht,  fällt  zusammen  mit  dem 
Unterschied  von  Hypothese  und  Fiktion  in  der  Sprache  der 
Methodologie. 

Wenn  Schiller  sagt:  das  Urtier,  die  Urpflanze  sei 
keine  Erfahrung,  so  will  er  damit  natürlich  nicht  etwa 
sagen : solche  organischen  Urwesen  hat  man  bisher  in  der 
Erfahrung  nicht  gefunden,  sie  können  aber  zukünftig  in 


Die  Fiktion  im  Gegensatz  zur  Hypothese. 


263 


! die  Erfahrung  treten.  Sondern  er  will  — nach  dem  Kan- 
tischen  Begriff  der  Erfahrung  — sagen:  Urpflanze,  Urtier 
: sind  überhaupt  niemals  in  irgendeiner  Erfahrung  auf- 

zufinden, sie  können  gar  keine  Erfahrungsgegenstände 
I sein,  weder  solche,  die  man  bisher  gefunden  hat,  noch 
solche,  die  man  später  noch  finden  kann,  und  deren 
j Begriffe  man  daher  jetzt  einstweilen  als  berechtigte  Hypo- 
j thesen  ansetzen  kann.  Sondern  die  Urpflanze,  das  Urtier, 
I das  ist  „eine  Idee“,  d.  h.  ein  bloßer,  von  uns  erdachter 
i Vernunftbegriff,  welcher  zwar  mit  Notwendigkeit  von 
uns  gebildet  wird,  der  aber  doch  nur  erdacht  ist,  dem 
nie  und  nirgends  ein  empirisches  Wesen  entsprechen 
kann.  Schiller  hat  also  richtig  erkannt,  daß  der  Siim  der 
Goetheschen  Behauptung  in  dem  fiktiven  Urteil  auszu- 
sprechen ist : alle  Pflanzenarten,  alle  Tierarten  sind  so  zu 
betrachten,  als  ob  sie  nach  dem'  Maßstab  einer  Ur- 
pflanze, eines  Urtieres  gebildet  seien.  Das  Goethesche 
Urtier  ist  eine  schematische  Fiktion,  dagegen  die  Dar- 
winsche Deszendenzlehre  ist  eine  Hypothese. 

Noch  ein  anderes  Beispiel  mag  diesen  Unterschied 
illustrieren.  Die  Konstitution  der  Materie  ist  eine  der 
wichtigsten  Fragen  der  Wissenschaft.  Hier  begegnet  uns 
nun  die  Ansicht,  daß  die  Elemente,  auf  welche  man  bis 
jetzt  die  IMaterie  reduziert  hat,  nicht  letzte  Faktoren  seien, 
sondern  daß  sie  vielleicht  auf  noch  weniger  Elemente,  ja 
sogar  nur  auf  Einen  Urstoff  zurückzuführen  seien.  Diese 
Vermutung  ist  schon  oft  ausgesprochen  worden,  und  sie 
hat  prinzipiell  nichts  gegen  sich.  Auf  der  anderen  Seite 
finden  wir  die  Ansicht,  daß  die  Materie  aus  unendlich 
kleinen,  unteilbaren  Stückchen  bestehe,  welche  sogar  an 
sich  ausdehnungslos  seien,  aus  Atomen.  Die  erstere  Theo- 
rie betrifft  die  qualitativen,  die  andere  die  quantitativen 
Faktoren  der  Materie.  So  wenig  aber  jene  erstere  prin- 
zipielle Bedenken  erregt,  so  viele  Widersprüche  birgt  diese 
zweite  in  sich.  Während  jene  Theorie  nicht  daran  zu 
verzweifeln  braucht,  daß  einmal  diese  Reduktion  gelingen 
kann,  ist  der  Atomismus,  wenigstens  in  der  angeführten 
Form,  schlechterdings  unbeweisbar,  ja  derselbe  ist  sogar 
im  Gegenteil  theoretisch  verwerflich,  weil  dieses  Atom 
ein  widerspruchsvolles  Vorstellungsgebilde  ist.  Unausge- 
dehnte Kraftzentren,  welche  der  Ausdehnung  zugrunde  lie- 


264  Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 

gen  sollen,  sind  vollständig  widerspruchsvolle  Begriffe. 
Etwas  Unausgedehntes,  das  doch  summiert  Ausdehnung  I 
geben  soll,  ist  ein  Widerspruch. 

Somit  ist  die  Idee  der  Reduktion  der  Materie  auf 
Atome  eine  Fiktion;  dagegen  die  Vorstellung  der  Reduk- 
tion der  Arten  der  Materie  auf  einen  einzigen  Urstoff 
ist  eine  plausible  Hypothese. 

Gerade  dieses  Beispiel  ist  ganz  besonders  geeignet, 
um  den  methodologischen  Unterschied  beider  Denkformen 
zu  erläutern;  die  erste  Annahme  gipfelt  in  dem  fiktiven 
Urteil:  die  Materie  ist  so  zu  betrachten,  so  zu  behandeln, 
so  zu  berechnen,  als  ob  sie  aus  Atomen  bestünde.  Die 
andere  Annalime  drückt  sich  dagegen  in  dem  problema- 
tischen Urteil  aus:  Es  ist  möglich,  daß  die  bis  jetzt 
gefundenen  Elemente  der  Materie  alle  aut  Einen  Urstoff 
reduziert  werden;  bis  jetzt  aber  ist  es  unmöglich  ge- 
wesen, diese  wahrscheinliche  Annahme  zu  verifizieren. 
Ganz  anders  die  Fiktion:  es  ist  ganz  unmöglich,  daß 
die  Materie  in  letzter  Linie  aus  ausdehnungslosen,  punk- 
tuellen Atomen  bestehe,  wohl  aber  ist  es  möglich,  ja 
nützlich,  diese  Annahme  provisorisch  zu  machen,  um  die 
Gewichtsverhältnisse  der  Materie  leichter  berechnen  zu 
können. 

Während  jede  Hypothese  ein  adäquater  Ausdruck 
der  noch  unbekannten  Wirklichkeit  sein  mid  diese  ob- 
jektive Wirklichkeit  zutreffend  ab  bi  Iden  will,  wird 
die  Fiktion  mit  dem  Bewußtsein  aufgestellt,  daß  sie  eine 
inadäquate,  subjektive,  bildliche  Vorstellungs- 
weise ist,  deren  Zusammentreffen  mit  der  Wirklichkeit 
von  vornherein  ausgeschlossen  ist,  und  die  daher 
auch  nicht  hintennach,  wie  man  das  bei  der  Hypothese 
hofft,  verifiziert  werden  kann.  Daher  darf  auch  eine  Fik- 
tion niemals  in  einem  problematischen  Urteil  ausgedrückt 
werden,  sondern  sie  hat  als  ihre  eigene  genuine  Form  das 
fiktive  Urteil  zu  beanspruchen. 

Die  methodologischen  Regeln,  welche  für  die  Hypo- 
these aufgestellt  werden,  passen  daher  auch  durchaus 
nicht  auf  die  Fiktion.  Kant  hat  jene  Bedingungen,  welche 
die  grundlegende,  strenge,  logische  Zucht  des  hypothe- 
tischen Denkens  sein  müssen,  sehr  gut  formuliert  in  der 
Kr.  d.  r.  V.  (Kehrb.  586)  in  der  „Disziplin  der  reinen  Ver- 


Die  Fiktion  im  Gegensatz  zur  Hypothese. 


265 


nunft  in  Ansehung  der  Hypothesen“,  als  „die  zwei  er- 
forderlichen Stücke  zur  Annehmungswürdigkeit  einer 
Hypothese“,  erstens,  „daß  nur  solche  Dinge  und  Gründe 
zur  Erklärung  gegebener  Erscheinungen  angeführt  wer- 
den, welche  mit  dem  Wirklichen  in  Verknüpfung  gesetzt 
werden  können  und  also  selbst  den  allgemeinen  Wirk- 
lichkeitsgesetzen entsprechen“,  und  zweitens  „die  Zu- 
länglichkeit  der  Annahme  zur  Erklärung  und  empirischen 
Ableitung  des  gerade  vorliegenden  Erscheinungskreises“. 
Nur  die  Einhaltung  dieser  Bedingungen  kann  eine  Ga- 
rantie dafür  bieten,  daß  die  Hypothese  Anspruch  auf 
Wahrheit  habe : denn  die  Wirklichkeit  und  nur  die  Wirk- 
lichkeit ist  das  Ziel  aller  hypothetischen  Annahmen. 

Mit  den  Fiktionen  verhält  es  sich  aber  ganz  anders. 
Die  „zwei  erforderlichen  Stücke  der  Annehmungswür- 
digkeit“ wie  bei  den  Hypothesen  sind  hier  keineswegs  zu 
finden.  Die  Bedingung,  der  allgemeinen  Sitte  der  Wirk- 
lichkeit und  den  Denkbarkeitsgesetzen  zu  entsprechen, 
wird  hier  nicht  eingehalten:  die  Fiktion  nimmt  etwas 
Unwirkliches  oder  Unmögliches  an.  Bei  den  echten  Fik- 
tionen, z.  B.  der  des  Infinitesimals,  ist  die  Denkbarkeit 
so  wenig  Bedingung,  daß  hier  vielmehr  die  Un- 
denkbarkeit  Merkmal  ist:  denn  diese  fiktiven  Be- 
griffe sind  widerspruchsvoll  und  enthalten  logische  Un- 
möglichkeiten. Dieser  Selbswiderspruch  zeigt  sich  in  den 
Antinomien,  welche  durch  Hypostasierung  der  Fiktionen 
entstehen,  wem  man  eben  Non-Entia  imaginaria  in  Entia 
irrtümlicherweise  verwandelt,  wovor  schon  Spinoza  in 
seinen  Cogit.  Metaph.  I,  1 warnt. 

Eine  imaginativ  gebildete  Vorstellung  muß  erst  darauf 
angesehen  werden,  ob  sie  fiktiv  oder  hypothetisch  ist. 
Das  natürliche  Bestreben  des  Menschen  geht  dahin,  das 
Gedachte  immittelbar  für  den  Ausdruck  der  Wirklichkeit 
zu  nehmen,  in  den  Denkformen  Seinsformen  zu  erblicken  i). 
Das  natürliche  unbefangene  Denken  nimmt  alle  Begriffe 
und  Methoden  der  subjektiven  Vorstellungswelt  für  Re- 
präsentanten einer  genau  entsprechenden  Wirklichkeit, 
Gehört  schon  eine  ziemliche  methodologische  Bildung 

D Es  ist,  wie  wir  im  folgenden  Teil  finden  werden,  ein  Haupt- 
verdienst Kants,  gezeigt  zu  haben,  daß  Gedacht- werden-müssen  nicht 
notwendig  das  Sein  involviert. 


266 


Zweiter  Teil:  Spezielle  Ausführungen. 


dazu,  um  Plypothetisches  vom  Faktischen  abzutrennen, 
so  erfordert  es  noch  einen  viel  stärkeren  Scharfsinn,  um 
Fiktionen  von  Hypothesen  zu  unterscheiden.  Das  Denken 
der  meisten  Menschen  (inkl.  nicht  weniger  Durchschnitts- 
gelehrter) ist  aber  bis  jetzt  noch  zu  grobkörnig  und  zu 
stumpf,  um  diesen  Unterschied  überhaupt  zu  erfassen, 
oder,  wenn  erfaßt,  dauernd  festzuhalten.  Immerhin  aber 
haben  doch  die  Mathematiker  und  Juristen  durch  die  in 
ihren  Gebieten  gebrauchten  Fiktionen  (so  besonders  auch 
die  Juristen  durch  die  Erörterungen  über  die  Fiktion 
der  juristischen  Personen)  der  allgemeinen  An- 
nahme des  Unterschiedes  von  Fiktion  und  Hypothese  vor- 
gearbeitet. Auch  die  Naturforscher,  speziell  die  Ent- 
wicklungstheoretiker, haben  durch  den  Streit  um  die  von 
der  Wirklichkeit  abweichenden  schematischenZeich- 
nungen  das  Bewußtsein  für  jenen  Unterschied  geschärft. 
Nicht  vergessen  dürfen  wir  hier  die  Theologen,  welche 
seit  alters  — laut  und  stillschweigend  — zwischen 
Dogma  und  Bild,  zwischen  philosophischem  Be- 
griff und  bewußtem  anthropomorphistischem 
Ausdruck  unterscheiden  haben. 


Dritter  Teil. 

Historische  Bestätigungen. 

A.  Kants  Gebrauch  der  Als-Ob-Betrachtung. 

Unsere  bisherigen  systematischen  Ausführungen  waren 
schon  vielfach  von  historischen  Belegen  durchzogen. 
Dieser  dritte  und  letzte  Teil  sei  nun  den  wich- 
tigsten historischen  Bestätigungen  gewidmet,  welche  die 
Geschichte  der  neueren  Philosophie  für  unsere 
Lehre  darbietet..  Wir  wenden  uns  also  zu  Kant,  dessen 
Als-Ob-Betrachtung  seit  mehr  als  hundert  Jahren  fast 
unbeachtet  und  unverstanden  geblieben  ist.  Wir  bedienen 
uns  zur  Darstellung  dieser  überaus  wichtigen  Lehre  mög- 
lichst der  eigenen  Worte  Kants,  wobei  wir  uns  die  Frei- 
heit nehmen,  die  bedeutsamsten  Worte  und  Wendungen 
durch  Sperrung  hervorzuheben  i). 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften. 

In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (1781)  tritt 
mit  einem  Male  Kants  neue  Lehre  so  kräftig  und  rein 
hervor  wie  ein  starker  Quell  aus  dem  Felsgeröll  im 
Hochwald,  und  zwar  an  derjenigen  Stelle,  welche  in 
jenem  unsterblichen  Werk  als  „Transz.  Dialektik“  be- 
zeichnet ist. 


1)  Es  sei  hier  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  1,  daß  bei  Kant 
zwei  Strömungen  gleichzeitig  nebeneinander  hergehen,  einerseits  die 
metaphysisch- vermittelnde,  andererseits  die  radikal  - fiktionalistische, 
2.  daß  in  diesem  Buche  nur  die  letztere  Strömung  einseitig  berück- 
sichtigt wurde,  und  daß  also  in  den  aus  Kant  zitierten  Sätzen,  soweit 
sie  beide  Strömungen  erkennen  lassen,  die  bei  ihm  üblichen  Restrik- 
tionen, d.  h.  die  gleichzeitigen  metaphysischen  Einschränkungen  seines 
Fiktionalismus,  weggelassen  und  durch  Punkte  ersetzt  worden  sind. 


268 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Man  muß  von  vornherein  den  richtigen  Gesichtspunkt 
für  Kants  Ideenlehre  gewinnen,  indem  man  die  klas- 
sische Stelle  an  die  Spitze  stellt,  welche  sich  in  der 
Methodenlehre  findet,  in  dem  Abschnitt:  „Die  Disziplin 
der  reinen  Vernunft  in  Ansehung  der  Hypothesen.“  i)  Da- 
selbst werden  gleich  nach  dem  Anfang  die  „Vernunft- 
begriffe“ als  „bloße  Ideen“,  als  „heuristische  Fik- 
tionen“ bezeichnet  und  ausdrücklich  von  den 
Hypothesen  unterschieden.  „Hypothesen“  werden 
„mit  dem,  was  wirklich  gegeben  und  folglich  gewiß  ist,  als 
Erklärungsgrund  in  Verknüpfung  gebracht“.  Wenn  in  der 
Reihe  der  empirisch  gegebenen  Daten  eine  Lücke  ist,  so 
haben  wir  das  Recht,  diese  Lücke  durch  ein  angenom- 
menes Wirkliches,  dessen  empirische  Möglichkeit  durch 
seinen  Zusammenhang  mit  dem  Übrigen  verbürgt  ist, 
auszufüllen,  und  damit  machen  wir  eine  wissenschaftlich 
berechtigte  Hypothese.  Die  Vemunftbegriffe  (speziell 
die  substantielle  Seele  und  der  persönliche  Gott)  sind 
aber  bloße  Ideen  ohne  einen  Gegenstand,  gehören  nicht 
in  jene  Reihe  der  empirischen  Daten  hinein,  und  dienen 
nur  dazu,  dem  „systematischen  Verstandesgebrauch  im 
Felde  der  Erfahrung“  als  „regulatives  Prinzip“  zu  dienen 
— sie  sind,  „heuristis che  Fiktionen“.  Kant  selbst 
nennt  in  diesem  Zusammenhang  ausdrücklich  als  Bei- 
spiele die  „unkörperliche  Einheit  der  Seele  und  das  Da- 
sein eines  höchsten  Wesens“;  solchen  Vernunftideen 
Realität  zuzuschreiben,  würde  zu  „hyperphysischen“  Er- 
klärungsgründen führen;  aber  uns  sind  nur  solche  Hypo- 
thesen erlaubt,  wobei  wir  „nach  schon  bekannten  Ge- 
setzen der  Erscheinungen“  das  Angenommene  mit- dem 
Gegebenen,  nach  den  „Bedingungen  möglicher  Erfahrung“ 
„in  Verknüpfung  setzen“  können.  Solche  Hypothesen 
sind  jene  Ideen  nicht,  sie  sind  eben  nur  — heuristische 
Fiktionen. 

Würde  man  diese  klassische  Stelle  immer  vor 
Augen  gehabt  haben,  so  hätte  man  die  ganze  Ideen- 


1)  Die  stellen  aus  der  Kr.  d.  r.  V.  sind  nach  den  Abschnitten 
resp.  Absätzen  zitiert,  welche  in  jeder  Ausgabe  wiedergegeben  sind. 
Spezielle  Zitate  erfolgen  nach  der  Paginierung  der  beiden  Original- 
auflagen A und  B,  welche  jetzt  in  den  meisten  Ausgaben  angegeben 
sind. 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants. 


269 


lehre  von  vornherein  besser  verstanden.  Wir  wollen  diese 
Lehre  nun,  vom  Anfang  der  Transz.  Dialektik  an,  in 
Kürze  verfolgen  und  von  jenem  Gesichtspunkt  aus  be- 
leuchten. 

In  dem  Ersten  Einleitenden  Abschnitt  der 
Transz.  Dialektik,  in  welchem  Kant  den  Namen 
„Ideen“  einführt  und  rechtfertigt,  spricht  er  nur  vorbe- 
reitend und  andeutend,  aber  in  einer  Stelle  doch  schon 
recht  entschieden  (A  328,  B 335);  wir  „müssen  von  den 
transzendentalen  Vernunftbegriffen  sagen“:  „sie  sind 
nur  Ideen“,  d.  h.  nur  Vorstellungen  ohne  Gegenstand. 
Aber  sie  sind  darum'  „nicht  überflüssig  und  nichtig“; 
denn  sie  „können  dem  Verstände  zum  Kanon  seines  Ge- 
brauchs dienen,  dadurch  er  zwar  keinen  Gegenstand 
mehr  erkennt,  als  er  nach  seinen  Begriffen  erkennen  würde, 
aber  doch  in  dieser  Erkenntnis  besser  und  weiter  gelei- 
tet wird“  — sie  sind  also  heuristische  Fiktionen. 

Aus  Gründen,  welche  sich  nachher  erhellen  werden, 
müssen  wir  das  II.  Hauptstück : Die  Antinomie  der 
reinen  Vernunft,  hier  vor  das  I.  Hauptstück  stel- 
len. Im  8.  Abschnitt  führt  Kant  eine  neue  Bezeichnung 
für  dasjenige  ein,  was  er  an  der  oben  angeführten  Stelle 
später  „heuristische  Fiktionen“  nennt:  er  nennt  die  Ideen 
„regulative  Prinzipien  der  reinen  Vernunft“;  sie  seien 
nicht  „konstitutive“  Prinzipien  der  Vernunft,  d.  h..  sie 
geben  keine  Möglichkeit  objektiver  Erkenntnis  weder 
innerhalb  noch  außerhalb  der  Erfahrung,  sondern  sie 
dienen  „bloß  zur  Regel“  für  den  Verstand,  indem  sie  ihn 
leiten,  wie  er  seinen  Weg  innerhalb  des  Erfahrungs- 
gebietes einschlagen  soll,  indem  sie  ihm  imaginative 
Richtpunkte  Vorhalten,  nach  denen  er  sich  richten  soll, 
die  er  aber  nie  erreichen  kann,  weil  sie  überhaupt  außer 
aller  Wirklichkeit  liegen  (Kant  nennt  die  Idee  in  diesem 
Sinne  an  einer  anderen,  noch  zu  erwähnenden  Stelle 
einen  focus  imaginarius). 

Was  damit  gemeint  ist,  erhellt  aus  einer  anderen, 
hierher  gehörigen  Stelle,  im'  „Anhang  zur  transzenden- 
talen Dialektik“,  in  dem  Abschnitt  „Von  der  Endabsicht 
der  natürlichen  Dialektik  der  menschlichen  Vernunft“;  da 
heißt  es  A 672,  B 700 : „Wir  müssen  (in  der  Kosmologie) 
die  Bedingungen  sowohl  der  inneren,  als  der  äußeren  Na- 


270 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


lurerscheinungen  in  einer  solchen  nirgends  zu  vollenden- 
den Untersuchung  verfolgen,  als  ob  dieselbe  an  sich  un- 
endlich sei  usw.“  und  ferner  heißt  es  A 684 — 686,  B 
712 — 714:  Die  absolute  Totalität  der  Reihen  der  Be- 
dingungen in  der  Ableitung  der  Glieder  ist  eine  Idee, 
„die  zur  Regel  dient,  wie  wir  in  Ansehung  derselben 
verfahren  sollen,  nämlich  in  der  Erklärung  gegebener 
Erscheinungen  (im  Zurückgehen  oder  Aufsteigen)  so, 
als  ob  die  Reihe  an  sich  unendlich  wäre,  d.  i.  in 
Indefinitum.“  An  einer  Stelle  der  Antinomien! ehre,  in  dem 
3.  Abschnitt:  „Vom'  Interesse  der  Vernunft  bei  diesem 
ihrem  Widerstreit“  heißt  es  dazu  erläuternd  in  einer  An- 
merkung zu  A 472,  B 500:  schon  Epikur  habe  wahr- 
scheinlich den  Grundsatz  des  absoluten  Regressus  nicht 
als  objektive  Behauptung,  sondern  nur  als  Maxime  des 
spekulativen  Vernunftgebrauchs  vorgetragen:  „daß  man 
in  Erklärung  der  Erscheinungen  so  zu  Werke  gehen 
müsse,  als  ob  das  Feld  der  Untersuchung  durch  keine 
Grenze  oder  Anfang  der  Welt  abgeschnitten  sei“,  das 
sei  ein  noch  jetzt  sehr  richtiger,  aber  wenig  beobach- 
teter Grundsatz. 

Sehr  beachtenswert  ist  nun  aber  die  Fortsetzung  der 
erstzitierten  Stelle  aus  dem  Anhang  zur  transzendentalen 
Dialektik  (A  685,  B 713),  betreffs  der  kosmologischen 
Idee  der  Totalität ; dieselbe  Idee  der  absoluten  To- 
talität leitet  umgekehrt  in  anderem  Zusammenhang 
zur  Fiktion  eines  absoluten  Anfanges,  nämlich  da, 
„wo  die  Vernunft  selbst  als  bestimmende  Ursache 
betrachtet  wird  (in  der  Freiheit),  also  bei  praktischen 
Prinzipien“,  da  müssen  wir  so  verfahren,  „als  ob  wir 
nicht  ein  Objekt  der  Sinne,  sondern  des  reineai  Verstandes 
vor  uns  hätten,  wo  die  Bedingungen  nicht  mehr  in  der 
Reihe  der  Erscheinungen,  sondern  außer  derselben  ge- 
setzt werden  können,  und  die  Reihe  der  Zustände  ange- 
sehen werden  kann,  als  ob  sie  schlechthin  (durch 
eine  intelligible  Ursache)  angefangen  würde“. 

Dieses  findet  wiederum  seine  Erläuterung  durch  einige 
Stellen  aus  der  Antinomienlehre  selbst,  speziell  in  dem 
Abschnitt:  „Erläuterung  der  kosmologischen  Idee  einer 
Freiheit“  usw.;  da  heißt  es  A 555  ff.,  B 583 ff. : bei  Beur- 
teilung irgendeiner  Tat  eines  Menschen  könne  man  von 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants.  271 

allen  psychologischen  Bedingungen  dieser  Tat  absehen, 
man  könne  diese  empirischen  Bedingungen  „gänzlich  bei- 
seite setzen“,  „und  die  verflossene  Reihe  von  Bedin- 
gungen als  ungeschehen,  diese  Tat  aber  als  gänzlich 
unbedingt  in  Ansehung  des  vorigen  Zustan- 
des ans  eben,  als  ob  der  Täter  damit  eine  Reihe  von 
Folgen  ganz  von  selbst  anhebe“.  Und  immer  wieder  wird 
daselbst  wiederholt,  daß  man  das  so  ansehen  könne, 
dürfe  und  müsse,  daß  es  aber  objektiv  nicht  so  sei;  es 
wird  damit  „nicht  die  Wirklichkeit  der  Freiheit  dargetan“, 
sondern  diese  „wird  hier  nur  als  transzendentale  Idee 
behandelt“  — also  nur  als  heuristische  Fiktion. 

Die  Fiktion  der  Freiheit  der  Seele  leitet  uns  nun 
bequem  über  zur  Fiktion  der  Seele  selbst.  In  dem  dem 
Seelenproblem  gewidmeten  1.  Hauptstück  der  Transz.  Dia- 
lektik: Von  den  Paralogismen  der  reinen  Ver- 
nunft wird  dieser  Standpunkt  fast  nur  indirekt  und  nur 
andeutungsweise  eingenommen.  Das  gilt  auch  von  der 
Darstellung  der  2.  Auflage,  in  welcher  (B  421)  ein  einziges 
Mal  der  fiktive  Standpunkt  in  bezug  auf  das  Seelen-  und 
Unsterblichkeitsproblem'  zur  Geltung  kommt : Kant  spricht 
von  unserer  ethischen  Lebensaufgabe;  unser  sittliches 
Bestreben,  „wenn  es  gleich  auch  nur  immer  auf  Gegen- 
stände der  Erfalirung  gerichtet  ist,  nimmt  seine  Prinzipien 
doch  höher  her  und  bestimmt  das  Verhalten  so,  als  ob 
unsere  Bestimmung  unendlich  weit  über  die  Erfahrung, 
mithin  über  dieses  Leben  hinausreiche“.  Diese  Fiktion  ist 
natürlich  nur  möglich  auf  Grund  der  Annahme  einer  „un- 
körperlichen Seele“,  und  diese  Annahme  ihrerseits  ist 
selbst,  "wie  wir  genauer  sehen  werden,  für  Kant  auch 
nur  eine  Fiktion. 

Dagegen  kommt  die  Natur  des  Seelenbegriffs  als  re- 
gulative Idee  im  Anhang  zur  transzendentalen  Dialektik, 
zusammen  mit  der  Gottesidee,  sehr  klar  und  deutlich  zum 
Vorschein,  wo  diese  beiden  Ideen  fast  immer  als  zusam- 
mengehöriges Paar  behandelt  werden.  Was  von  der  Got- 
tesidee gesagt  wird,  wird  auch  mutatis  mutandis  auf  die 
Seelenidee  angewandt.  So  heißt  es  A 671,  B 699:  Der 
psychologischen  Idee  gemäß  „wollen  wir  alle  Erschei- 
nungen, Handlungen  und  Empfänglichkeit  unseres  Gemüts 
an  dem  Leitfaden  der  inneren  Erfahrung  so  verknüpfen, 


272 


Dritter  Teil;  Historische  Bestätigungen. 


als  ob  dasselbe  eine  einfache  Substanz  wäre,  die  mit 
persönlicher  Identität  beharrlich  existiert“  usw.  Vgl.  fer- 
ner A 682,  B 710:  „Das  erste  Objekt  einer  solchen  Idee 
bin  ich  selbst,  bloß  als  denkende  Natur  (Seele)  betrach- 
tet.“ „Hierbei  hat  die  Vernunft  nichts  anderes  vor  Augen 
als  Prinzipien  der  systematischen  Einheit  in  Erklärung 
der  Erscheinungen  der  Seele,  nämlich : alle  Bestimmungen 
als  in  einem  einigen  Subjekte,  alle  Kräfte,  soviel  als  mög- 
lich, als  abgeleitet  von  einer  einigen  Grundkraft,  allen 
Wechsel  als  gehörig  zu  den  Zuständen  eines  und  des- 
selben beharrlichen  Wesens  zu  betrachten“  usw. 
„Jene  Einfachheit  der  Substanz  usw.  sollte  nur  das 
Schema  zu  diesem  regulativen  Prinzip  sein,  und  wird 
nicht  vorausgesetzt  als  sei  sie  der  wirkliche 
Grund  der  Seeleneigenschaiten.“  Es  handle  sich  eben 
um  eine  bloße  Idee“,  aber  „aus  einer  solchen  psycho- 
logischen Idee  kann  nun  nichts  anderes  als  Vorteil 
entspringen  usw.  — Kant  weist  hier  wieder  deutlich  auf 
die  Nützlichkeit  der  Seelenfiktion  hin.  Die  aus 
dieser  Fiktion  entspringenden  Vorteile  werden  aufgezählt, 
und  dann  heißt  es:  „welches  alles  durch  ein  solches 
Schema,  als  ob  es  ein  wirkliches  Wesen  wäre, 
am  besten,  ja  sogar  einzig  und  allein  bewirkt  wird“. 

Der  Kantischen  Einteilung  entsprechend  verfolgen 
wir  nun  die  Gottesidee  in  dem  Abschnitt  über  „Das 
Ideal  der  reinen  Vernunnft  (A  567ff.,  B 595ff.). 
Da  heißt  es  sogleich  im'  Einleitungsabschnitt,  ein  Ideal 
sei  etwas,  was  „nur  in  Gedanken  existiert“,  z.  B.  das 
Ideal  eines  Weisen;  auch  spricht  Kant  daselbst  von  den 
schematischen  Durchschnittsfiktionen,  indem  er  von 
„einer  im  Mittel  verschiedener  Erfahrungen  gleichsam 
schwebenden  Zeichnung  spricht.  Im  2.  Abschnitt  wird  von 
„dem  transzendentalen  Ideal“  speziell  gesprochen,  d.  h. 
von  der  Gottesidee  als  dem  Ideal  der  omnitudo  realitatis); 
A 580,  B-  608:  „Die  Vernunft  legt  diese  Idee  nur  als 
den  Begriff  [von  Kant  selbst  gesperrt]  von  aller  Realität 
der  durchgängigen  Bestimmung  der  Dinge  überhaupt  zum 
Grunde,  ohne  zu  verlangen,  daß  alle  diese  Realität  ob- 
jektiv gegeben  sei,  und  selbst  ein  Ding  aus- 
mache. Dieses  Letztere  ist  eine  bloße  Erdich- 
tung, durch  welche  wir  das  Mannigfaltige  unserer  Idee 


273 


I Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants. 

in  einem  Ideale,  als  einem  besonderen  Wesen  zusammen- 
fassen und  realisieren,  wozu  wir  keine  Befugnis  haben, 
sogar  nicht  einmal  die  Möglichkeit  einer  solchen  Hypo- 
these geradezu  anzunehmen“  usw.  „Wie  kommt  die  Ver- 
nunft dazu,  alle  Möglichkeit  der  Dinge  als  abgeleitet  von 
einer  einzigen,  die  zum  Grunde  liegt,  nämlich  der  höch- 
sten Realität,  anzusehen“  usw.  Es  ist  „eine  natür- 
liche Illusion“,  wenn  wir  die  Abhängigkeit  des  em- 
pirischen Einzeldinges  „von  dem  Inbegriff  aller  em.pi- 
rischen  Realität“  in  dieser  Weise  „hypostasieren“  und 
„personifizieren“  in  „einem  besonderen  Urwesen“.  Die- 
ses Ideal  des  allerrealsten  Wesens  ...  ist  eine  bloße  Vor- 
stellung“, wie  es  ia  der  Schlußanmerkung  heißt. 

Wie  es  dann  im  Anfang  des  dritten  Abschnittes 
heißt,  A 583,  B 611,  bemerkt  die  Vernunft  „doch  das 
Idealischeund  bloß  Gedichtete  einer  solchen  Vor- 
aussetzung viel  zu  leicht,  als  daß  sie  dadurch  allein  über- 
redet werden  sollte,  ein  bloßes  Selbstgeschöpf  ihres  Den- 
kens sofort  für  ein  wirkliches  Wesen  anzunehmen“.  Die 
Vernunft  glaubt  dogmatische  Beweise  für  die  Realität 
eines  solchen  Wesens  zu  haben,  für  das  Recht,  „eine 
bloße  Vorstellung  zu  realisieren“,  aber  diese  Beweise  sind 
alle  hinfällig,  wie  Kant  in  seiner  Widerlegung  der  Gottes- 
beweise ausführt. 

Daraufhin  suchen  sich  manche  damit  zu  behelfen, 
daß  sie  die  Gottesidee  als  „unerforschlich“  hinstellen.  Aber 
Kant  bemerkt  dazu  im  fünften  Abschnitt  (A  614,  B 642) : 
„Ein  Ideal  der  reinen  Vernunft  kann  nicht  unerforschlich 
heißen,  weil  es  weiter  keine  Beglaubigung  seiner 
Realität  aufzuweisen  hat,  als  das  Bedürfnis  der  Ver- 
nunft, vermittelst  desselben  alle  synthetische  Einheit  zu 
vollenden.  Da  es  also  nicht  einmal  als  denk- 
barer Gegenstand  gegeben  ist,  so  ist  es  auch  nicht  als 
solcher  unerforschlich;  vielmehr  muß  es,  als  bloße 
Idee,  in  der  Natur  der  Vernunft  seinen  Sitz  und  seine 
Auflösung  finden  und  also  erforscht  werden  können.“ 
Diese  Stelle  enthält  eine  Desavouierung  der  traditio- 
nellen Darstellung  der  Kantischen  Ideenlehre:  Kant  habe 
in  der  Kr.  d.  r.  V.  'die  Unerforschlichkeit  der  intelligibeln 
Welt  gelehrt,  dagegen  in  der  Kr.  d.  pr.  V.  die  P.ealität  der 
auf  dieselbe  bezüglichen  Ideen  Gott,  Freiheit  und  Unsterb- 

Vaihinger,  Philosophie.  18 


274 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


lichkeit  auf  moralischem  Wege  bewiesen.  Was  das  Letz- 
tere betrifft,  so  werden  wir  hierüber  noch  zu  reden  haben. 
Was  aber  das  erstere  betrifft,  so  zeigt  die  obige  Stelle, 
daß  Kant  hier  wenigstens  nichts  von  der  „Unerforschlich- 
keit“  Gottes  wissen  wollte,  von  der  er  allerdings  sonst 
manchmal  redet:  der  Begriff  Gottes,  wie  der  ganzen  intel- 
ligibeln  Welt,  ist  von  unserer  Vernunft  gemacht,  also  muß 
er  auch  von  derselben  Vernunft  durchschaut  und  aufgelöst 
werden  können. 

Im  Anhang  zu  jenem  fünften  Abschnitt  (Entdeckung 
und  Erklärung  des  dialektischen  Scheins  usw.,  A 615  ff., 
B 643  ff.)  heißt  es  wieder  von  dem  Begriff  einer  notwen- 
digen, höchsten  Realität,  es  sei  „ein  natürlicher  Schein“, 
wenn  man  denselben,  d.  h.  „dasjenige,  was  doch  nur  Idee 
sein  kann,  realisiert  und  hypostasiert“.  Der  Grundsatz, 
zu  allem  Existierenden  einen  notwendigen  ersten  Grund 
zu  suchen,  ist  bloß  „heuristisch  und  regulativ“;  er 
sagt:  „ihr  sollt  so  über  die  Natur  philosophieren,  als  ob 
es  zu  allem,  was  zur  Existenz  gehört,  einen  notwendigen 
ersten  Grund  gäbe,  lediglich,  um  systematische  Ein- 
heit in  eure  Erkenntnis  zu  bringen“.  Zusammenfassend 
sagt  dann  Kant  daselbst:  „das  Ideal  des  höchsten  Wesens 
ist  nach  dieser  Betrachtung  nichts  anderes,  als  ein 
regulatives  Prinzip  der  Vernunft,  alle  Verbindung  in  der 
Natur  so  anzusehen,  als  ob  sie  aus  einer  allgenügsamen 
notwendigen  Ursache  entspränge“  usw.)  „Es  ist  nicht 
die  Behauptung  einer  an  sich  notwendigen  Existenz. 
Es  ist  aber  zugleich  unvermeidlich,  sich,  vermittelst  einer 
transzendentalen  Subreption,  dieses  formale  Prinzip  als 
konstitutiv  vorzustellen  und  sich  diese  Einheit  hyposta- 
tisch zu  denken“. 

Im  sechsten  Abschnitt  (A  623,  B 651)  wird  ausdrück- 
lich die  „Zuträglichkeit*,  also  Nützlichkeit  dieser  Idee  für 
unsern  Vernunftgebrauch  innerhalb  der  Erfahrung  hervoi:- 
gehoben  — die  Nützlichkeit  erkannten  wir  als  das 
charakteristische  Merkmal  der  Fiktionen. 

Dann  folgt  der  „Anhang  der  transzendentalen 
Dialektik“,  zuerst  der  Abschnitt:  „Vom  regulativen  Ge- 
brauch der  Ideen  der  reinen  Vernunft“  (A  642  ff., 
B 670 ff.);  da  heißt  es  gleich  am  Anfang  von  den  Ideen, 
„sie  haben  einen  vortrefflichen  und  unentbehrlich  not- 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants. 


275 


wendigen  regulativen  Gebrauch,  nämlich  den  Verstand 
zu  einem  gewissen  Ziele  zu  richten,  in  Ansehung  auf 
welches  die  Richtungslinien  aller  seiner  Regeln  in  einen 
Punkt  zusammenlaufen,  der,  ob  er  zwar  nur  eine  Idee 
(focus  imaginär ius),  d.  h.  ein  Punkt  ist,  aus  welchem 
die  Verstandesbegriffe  wirklich  nicht  ausgehen,  indem 
er  ganz  außerhalb  der  Grenzen  möglicher  Erfahrung  liegt, 
dennoch  dazu  dient,  ihnen  die  größte  Einheit  neben  der 
größten  Ausbreitung  zu  verschaffen“.  Dies  wird  in  ver- 
schiedenen Wendungen  nachher  wiederholt i). 

Darauf  folgt  der  Schlußabschnitt:  „Von  der  Endabsicht 
der  natürlichen  Dialektik  der  menschlichen  Vernunft“ 
(A  668  ff.,  B 696  ff.),  worin  sich  wieder  viele  entscheidende 
Stellen  finden. 

Von  besonderer  Bedeutung  sind  zunächst  die  drei 
ersten  Absätze.  Kant  will  das  naheliegende  Mißverständ- 
nis zurückweisen,  daß  die  in  der  Dialektik  in  ihrer  Nich- 
tigkeit nachgewiesenen  Ideen  nur  Täuschungen,  nur 
Blendwerke  seien,  also  wertlos,  ja  schädlich.  Nein,  sie 
haben  trotzdem  „ihre  gute  und  zweckmäßige  Bestim- 
mung“ ■ — die  Zweckmäßigkeit  dieser  Vorstellungen,  das 
Merkmal  der  echten  Fiktionen  wird  wieder  betont.  In 
dem  Nachweis  dieser  Zweckmäßigkeit  liegt  das,  was 
Kant  ihre  „Deduktion“  nennt,  d.  h.  den  Nachweis  ihres 
Rechtsgrundes;  ihre  „Rechtfertigung“,  wie  es  im  3.  Abs. 
heißt,  ialso  ihre  Justifikation,  oder,  wie  es  im  11.  Abs. 
heißt,  „ihre  Richtigkeit  wird  bewährt“.  Damit  wird  ge- 
zeigt, idaß  sie  „nicht  bloß  leere  Gedankendinge  sind“. 
Das  könnte  man  mißverstehen.  „Gedankendinge  sind  und 
bleiben  sie,  daran  kann  ihre  Deduktion  nichts  ändern; 
wohl  aber  kann  eine  solche  Deduktion  zeigen,  daß  sie 
nicht  leere  Gedankendinge  sind,  d.  h.  wertlose,  wie  das 
von  vielen  anderen  Gedankendingen  gilt,  sondern  wert 
volle,  bedeutsame  Gedankendinge;  sie  sind  also  eben 
wichtige  heuristische  Fiktionen,  nicht  Fiktionen  im  schlim- 
men Sinne,  sondern  im  guten.  Dieser  Nachweis  ist  „die 


1)  In  diesem  Abschnitt,  in  dem  Kant  mit  so  großer  Schärfe  und 
Klarheit  die  Ideen  einerseits  als  eine  „Illusion  hinter  der  Spiegel- 
fläche“ erkennt  (also  als  einen  zweckmäßigen  und  schönen  Betrug  der 
* Natur),  findet  sich  dann  doch  wieder  andererseits  eine  recht  mi- 
klare  Vcnnischung  sortier  Fiktionen  mit  Hypothesen. 


276  Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 

Vollendung  des  kritischen  Geschäftes  der  reinen  Ver- 
nunft“. 

Wenn  sie  so  „deduziert“  sind,  so  zeigt  sich,  daß  sie 
„im  mindesten  einige,  wenn  auch  unbestimmte,  objektive 
Gültigkeit  haben“.  Diese  Wendung  des  2.  Abs.  ist  äußerst 
beachtenswert;  sie  findet  ihre  Erläuterung  im  3.  Abs.; 
da  heißt  es : „der  Begriff  einer  höchsten  Intelligenz  ist 
eine  bloße  Idee,  d.  h.  seine  objektive  Realität  soll  nicht 
darin  bestehen,  daß  er  sich  geradezu  auf  einen  Gegen- 
stand bezieht  (denn  in  solcher  Bedeutung  würden  wir 
eine  objektive  Gültigkeit  nicht  rechtfertigen  können),  son- 
dern er  ist  nur  ein  nach  Bedingungen  der  größten  Ver- 
nunfteinheit geordnetes  Schema  von  dem  Begriff  eines 
Dinges  überhaupt,  welches  nur  dazu  dient,  um 
die  größte  systematische  Einheit  im  empirischen  Gebrauch 
unserer  Vernunft  zu  erhalten  usw.“  Also  darin  besteht 
nun  die  eigenartige  „objektive  Realität“  dieser  Ideen; 
sie  haben  eine  gewisse  Realität,  aber  nur  eine  heuri- 
stisch-praktische. Man  beachte  sehr  wohl  diesen  Ge- 
brauch des  Ausdruckes:  „objektive  Realität“  der  Ideen 
an  dieser  Stelle,  denn  bald  nachher,  im  5.  Abs.  hat  Kant 
selbst,  nach  seiner  leidigen  Gewohnheit,  diese  klaren 
Bestimmungen  verdunkelt ; da  macht  er  einen  Unterschied 
zwischen  den  kosmologischen  Ideen  und  der  psycholo- 
gischen und  theologischen  Idee,  und  meint,  den  Letz- 
teren könne  niemand  „ihre  objektive  Realität  bestreiten, 
da  er  von  ihrer  Möglichkeit  ebensowenig  weiß,  um  sie  zu 
verneinen,  als  wir,  um  sie  zu  bejahen“.  Aber  damit  ist 
der  erstere  Gedankengang  ganz  verschoben,  welchem 
gemäß  allen  Ideen  eine  „unbestimmte,  objektive  Gültig- 
keit resp.  Realität“  zukam,  die  eben  in  ihrer  — Zweck- 
mäßigkeit bestand.  Leider  wird,  um  die  Verwirrung 
zu  mehren,  dann  im  7.  Abs.  meder  die  „objektive  Reali- 
tät“ eines  Vernunftbegriffes  im  absolut- theoretischen,  statt 
im  relativ-heuristisch-praktischen  Sinne  gebraucht.  Aber 
jene  rein  praktische  „objektive  Realität“  der  Ideen,  von 
der  oben  die  Rede  war,  bleibt  für  Kant  bestehen.  In 
jenem  Sinne  „bleibt  die  Idee  (welche  doch  einen  nichtigen 
Gegenstand  bezeichnet)  immer  richtig“  (A  694,  B 722)  ; 
trotzdem  wir  also  der  Idee  eines  höchsten  Wesens  nicht 
„schlechthin  objektive  Gültigkeit  erteilen  dürfen“,  sind 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants.  277 

I wir  doch  „berechtigt“,  von  dieser  Idee,  „welche  sich  die 

j Vernunft  zum  regulativen  Prinzip  ihrer  Naturforschung 

machen  muß“,  „Gebrauch  zu  machen“,  „ihn“,  den  Ur- 
i grund  der  Welteinheit,  „oder  vielmehr  seine  Idee“ i), 

I können  und  sollen  wir  so  „brauchen“;  in  diesem  prak- 
tischen  Gebrauch  „habt  ihr  die  Bestätigung  der  Recht- 
i mäßigkeit  eurer  Idee“  (A  696  ff.,  B 724  ff.), 
i Am  Anfang  der  „Endabsicht  im  3.  Absatz  heißt  es 
I weiter:  „der  Begriff  einer  höchsten  Intelligenz  ist  eine 

bloße  Idee“;  „dieses  Schema  dient  nur  dazu,  um  die 
größte  systematische  Einheit  im  empirischen  Gebrauch 
unserer  Vernunft  zu  erhalten,  indem  man  den  Gegenstand 
der  Erfahrung  gleichsam  von  dem  eingebildeten 
Gegenstände  dieser  Idee,  als  seinem  Grunde  oder 
Ursache,  ableitet.  Alsdann  heißt  es  z.  B.,  die  Dinge  der 
Welt  müssen  so  betrachtet  werden,  als  ob  sie  von  einer 
höchsten  Intelligenz  ihr  Dasein  hätten.  Auf  solche  Weise 
ist  die  Idee  eigentlich  nur  ein  heuri'sti scher  und 
nicht  ostensiver  Begriff“  usw. 

In  dem  unmittelbar  darauffolgenden  4.  Absatz  („Ich 
will  dieses  deutlicher  machen“)  wird  der  iVusdruck  als 
ob  wieder  mehrfach  in  demselben  Sinne  wiederholt, 
speziell  in  Beziehung  auf  die  theologische  Idee : „wir 
müssen  alles,  was  nur  immer  in  den  Zusamenhang  der 
möglichen  Erfahrung  gehören  mag,  so  betrachten, 
als  ob  diese  eine  absolute  ....  Einheit  ausmache,  . . . 

' zugleich  aber,  als  ob  der  Inbegriff  aller  Erscheinungen 
1 (die  Sinnenwelt  selbst;  einen  obersten  . . . Grund  . . . 
i habe,  nämlich  eine  gleichsam  selbständige,  ursprüng- 
liche und  schöpferische  Vernunft,  . . . als  ob  die  Gegen- 
stände selbst  aus  jenem  Urbilde  aller  Vernunft  entsprun- 
gen wären“  usw.;  man  „solle,  wie  man  die  inneren  Er- 

9 Diese  bemerkenswerte  Stelle,  zusammen  mit  den  vielen 
anderen,  oben  zitierten,  lehrt:  Wenn  man  die  so  belebte  und  auch 
durchaus  berechtigte  Wendung  beibehalten  will,  Kant  habe  die 
Notwendigkeit  der  Gottesidee  nach  ge  wiesen,  so  ist 
nicht  zu  betonen,  wie  das  bisher  immer  geschah:  die  Notwendigkeit 
! der  Gottesidee,  sondern:  die  Notwendigkeit  der  Gottesidee,  denn 
es  handelt  sich  ja  um  „eine  bloße  Idee“.  Also  ist  der  Ton  auf  die 
beiden  letzten  Silben  zu  legen;  eine  Tonverschiebung,  welche  zugleich 
die  völlige  Verschiebung  des  Gesichtspunktes  kennzeichnet,  von  dem 
aus  Kants  Lehre  zu  betrachten  ist. 


278 


Dritter  Teil:  Flistorische  Bestätigungen. 


scheinungen  nicht  von  einer  einfachen  denkende  Sub- 
stanz, sondern  von  der  Idee  einer  solchen  ableiten  dürfe, 
so  auch  die  Weltordnung  nicht  von  einer  höchsten  In- 
telligenz, sondern  von  der  Idee  einer  solchen  ableiten“, 
d.  h.  man  dürfe  sich  dieser  Begriffe  als  heuristischer 
Fiktionen  bedienen. 

Dann  heißt  es  im  5.  Abs.  gemeinsam  von  der  Seelen- 
idee und  von  der  Gottesidee:  „es  kann  uns  nicht  erlaubt 
sein,  Gedankenweseni)  ...  als  wirkliche  und  be- 
stimmte Gegenstände  einzuführen.  Also  sollen  sie  an  sich 
selbst  nicht  angenommen  werden,  sondern  nur  ihre 
Realität  als  eines  Schema  des  regulativen  Prinzips  der 
systematischen  Einheit  aller  Naturerkenntnis  gelten,  mit- 
hin sollen  sie  nur  als  Analoga^)  von  wirklichen  Din- 
gen, aber  nicht  als  solche  an  sich  selbst  zum  Grunde  ge- 
legt werden“  . . .,  von  einem  „Gedankenwesen“  („idea- 
lischen  Wesen“)  wissen  wir  natürlich  nichts  sonst 
auszusagen,  da  es  ja  nur  „Erdichtung“  ist,  aber  „wir 
denken  uns  doch  ein  Verhältnis  von  ihm  zu  dem  In- 
begriff der  Erscheinungen,  das  demjenigen  analogisch 
ist,  welches  die  Erscheinungen  untereinander  haben“, 
und  von  dem  Gottesbegriff  heißt  es  dann  gleich  darauf 
noch  spezieller:  „er  gibt  nur  die  Idee  von  Etwas  an 
die  Hand,  worauf  alle  empirische  Realität  ihre  höchste 
und  notwendige  Einheit  gründet  und  welches  wir  uns 
nicht  anders  als  nach  der  Analogie  einer  wirklichen 


1)  Kants  bis  jetzt  fast  nicht  beachtete  Lehre'  von  den  „Gedanken- 
wesen“ ist  von  mir  auseinandergesetzt  worden  in  den  „Philosophischen 
Abhandlungen,  Chr.  Sigwart  zu  seinem  70.  Geburtstag  gewidmet“, 
Tübingen,  Mohr,  1900,  S.  133  bis  158:  „Kant  — ein  Äletaphysiker?“ 
(Auch  separat;  vgl.  dazu  meine  ergänzende  Abhandlung  in  den  „Kant- 
studien“, Bd.  VII,  S.  116 — 117  mit  den  Schlußworten:  „Kant  — ein 
Metaphoriker“.)  Diese  Abhandlung  ist  eine  wesentliche  Er- 
gänzung der  obigen  Ausführungen.  Das  „Gedankenwesen“  (auch 
gelegentlich  „Vernunftwesen“  genannt)  ist  identisch  mit  dem  Ens 
rationis,  das  am  Schluß  der  Transz.  Analytik  als  Erstes  in  der  wenig 
beachteten  „Tafel  der  Einteilung  des  Begriffs  von  Nichts“  steht. 
Also : Gedankenwesen  = Nichtsl 

2)  Hier  zeigt  sich  recht  deutlich,  daß,  wie  oben  gelehrt  wurde, 
die  Fiktionen  oder  wenigstens  viele  derselben  auf  der  Analogie  be- 
ruhen. Dieser  Gesichtspunkt  spielt,  wie  wir  sehen  werden,  bei  Kant 
eine  große  Rolle  und  in  diesem  Sinne  ist  das  oben  angeführte  Schlag- 
wort gemeint:  „Kant  — ein  Metaphoriker“. 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants. 


279 


Substanz,  welche  nach  Vernunftgesetzen  die  Ursache 
aller  Dinge  sei,  denken  können“.  In  derselben  Weise 
heißt  es  im  9.  Abs.:  „ich  werde  mir  also  nach  der 
Analogie  der  Realitäten  in  der  Welt,  der  Substanzen, 
der  Kausalität  und  der  Notwendigkeit  ein  Wesen  denken, 
das  alles  dieses  in  der  höchsten  Vollkommenheit  besitzt“; 
„unter  dem  Schutz  eines  solchen  Urgrundes  kann  ich 
systematische  Einheit  des  Mannigfaltigen  am  Weltganzen 
. . . möglich  machen,  indem  ich  alle  Verbindungen  so 
ansehe,  als  ob  sie  Anordnungen  einer  höchsten  Ver- 
nunft wären“.  Dann  im  12.  Abs.:  „Dieses  Vernunftwesen 
ist  nun  zwar  eine  bloße  Idee,  und  wird  also  nicht 
schlechthin  und  an  sich  selbst  als  etwas  Wirkliches 
angenommen,  .sondern  nur  problematisch  zum  Grunde 
gelegt . . .,  um  alle  Verknüpfung  der  Dinge  der  Sinnen- 
welt so  anzusehen,  als  ob  sie  in  diesem  Vernunft- 
wesen ihren  Grund  hätten,  lediglich  aber  in  der  Ab- 
sicht, um  darauf  die  systematische  Einheit  zu  gründen, 
die  der  Vernunft  unentbehrlich,  der  empirischen  Ver- 
standeserkenntnis aber  auf  alle  Weise  beförderlich  . . . 
sein  kann“  (womit  wieder  von  Kant  das  Merkmal  der 
Nützlichkeit  der  Fiktion  herausgehoben  wird;  gleich  nach- 
her im  13.  Abs.  spricht  er  in  diesem  Sinne  von  der  „so 
heilsamen  Einheit“). 

Diese  Grundsätze  werden  in  den  folgenden  drei  Ab- 
sätzen (14,  15,  16)  auf  die  drei  metaphysischen  Haupt- 
gebiete langewendet.  In  bezug  auf  die  theologische  Idee 
heißt  es  in  demselben  Zusammenhang  (A  686,  B 714) 
noch  (einmal:  Die  Idee  Gottes,  „sowie  alle  spekulativen 
Ideen,  will  nichts  weiter  sagen,  als  daß  die  Vernunft 
gebiete,  alle  Verknüpfung  der  Welt  nach  Prinzipien  einer 
systematischen  Einheit  zu  betrachten,  mithin  als  ob 
sie  insgesamt  aus  einem  einzigen  allbefassenden  Wesen  als 
oberster  und  allgenugsamer  Ursache  entsprungen  wären“ 
usw.  Es  handelt  sich  dabei  um  „nichts  als“  eine  subjek- 
tiv-formale Regel  unserer  eigenen  Vernunft. 

Mit  Betonung  des  teleologischen  Gesichtspunktes  heißt 
es  daselbst  weiter:  „das  spekulative  Interesse  der  Ver- 
nunft macht  es  notwendig,  alle  Anordnung  in  der  Welt 
so  anzusehen,  als  ob  sie  aus  der  Absicht  einer 
allerhöchsten  Vernunft  entsprossen  wäre“;  diese  Betrach- 


280 


Dritter  Teil:  Historische  Beslätiguiigcn. 


tung  könne  „der  Vernunft  jederzeit  nützen“.;  „wir 
können  auf  diesem  Wege  eine  Menge  von  Entdeckungen 
machen“  (z.  B.  bezüglich  „der  Figur  der  Erde,  der  Ge- 
birge und  Meere“).  Die  Voraussetzung,  daß  alles  zweck- 
mäßig eingerichtet  sei  — die  Voraussetzung  des  „teleolo- 
gischen Zusammenhanges“  — ist  „nichts  als  ein  re- 
gulatives Prinzip  der  Vernunft,  um  zur  höchsten 
systematischen  Einheit  vermittelst  der  Idee  der  zweck- 
mäßigen Kausalität  der  obersten  Weltursache,  und  als 
ob  diese,  als  höchste  Intelligenz,  nach  der  weisesten  Ab- 
sicht die  Ursache  von  allem  sei,  zu  gelangen“  — der  Cha- 
rakter der  Gottesidee  als  eine  heuristische  Fiktion 
ist  damit  sehr  glücklich  ausgedrückt.  Kant  zeigt  dann 
weiter,  daß  man  diese  Idee  aber  nicht  aus  einem  bloß 
regulativen  Prinzip  in  ein  konstitutives  verwandeln  dürfe, 
sonst  verfalle  man  dem  Vorwurf  der  „faulen  Vernunft“ 
(ignava  ratio)  und  der  „verkehrten  Vernunft“  (perversa 
ratio). 

Zusammenfassend  heißt  es  dann  zum  Schlüsse  wie- 
der: man  dürfe  sich  ein  solches  göttliches  Wesen  „nach 
einer  Analogie  mit  den  Gegenständen  der  Erfahrung 
denken“,  „aber  nur  als  Gegenstand  in  der  Idee“;  ja, 
„wir  können  in  dieser  Idee  gewisse  Anthropomorphismen, 
die  dem  gedachten  regulativen  Prinzip  beförderlich  sind, 
ungescheut  und  ungetadelt  erlauben,  denn  es  ist  immer 
nur  eine  Idee“  usw.  Jenes  Wesen  „ist  nun  nach 
der  Analogie  mit  einer  Intelligenz  gedacht“;  aber 
„es  ist  lediglich  ein  Wesen  in  der  Idee,  das  wir 
denken“.  So  darf  ich  denn  in  diesem  Sinne  „zweckähn- 
liche Anordnungen  als  Absichten  ans  eben,  indem  ich 
sie  vom  göttlichen  Willen  . . . ableite“.  „Ich  lege  nur 
die  Idee  eines  solchen  Wesens  zum  Grunde,  um  nach 
der  Analogie  einer  Kausalbestimmung  die  Erscheinun- 
gen als  systematisch  untereinander  verknüpft  anzu- 
sehen.“ 

Ganz  zuletzt  heißt  es  dann:  „Eben  daher  sind  wir 
auch  berechtigt,  die  Weltursache  in  der  Idee  . . . nach 
einem  subtileren  Anthropomorphismus,  ... 
nämlich  als  ein  Wesen,  das  Verstand,  Wohlgefallen  und 
Mißfallen,  ingleichen  eine  derselben  gemäße  Begierde  und 
Willen  hat  usw.,  zu  denken.“  „Das  regulative  Gesetz 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriflen  Kants. 


281 


der  systematischen  Einheit  will,  daß  wir  die  Natur  so 
studieren  sollen,  als  ob  allenthalben  ins  Unendliche 
systematische  und  zweckmäßige  Einheit  bei  der  größten 
Mannigfaltigkeit  angetroffen  würde.“  Diese  Betrach- 
tungsweise sei  „vorteilhaft“  — wieder  der  Hinweis  auf  die 
Nützlichkeit,  das  charakteristische  Merkmal  aller  Fik- 
tionen ! 

Diese  grundlegenden  Ausführungen  erhalten  dann 
nochmals  eine  wertvolle,  definitive  Bekräftigung  in  der 
„Transzendentalen  Methodenlehre,  speziell  in 
dem  Abschnitt:  „Die  Disziplin  der  reinen  Ver- 
nunft in  Ansehung  der  Hypothesen“.  In  diesem 
Abschnitt  findet  sich  jene  klassische  Stelle,  welche 
wir  schon  oben  angeführt  haben;  da  werden  die 
Ideen  ausdrücklich  als  heuristische  Fiktionen  be- 
zeichnet und  ganz  klar  und  haarscharf  von  den  Hypo- 
thesen“ geschieden;  letztere  sind  Annahmen  von  Gegen- 
ständen, welche  mit  den  empirischen  Erscheinungen  in 
eventuell  nachweisbarer  Verknüpfung  stehen,  und  die  so 
zur  Erklärung  und  Ergänzung  der  fragmentarischen  Er- 
fahrung dienen,  also  von  Gegenständen,  deren  Wirk- 
lichkeit annehmbar  ist.  Die  Ideen  dagegen  sind  Ver- 
nunftbegriffe ohne  Gegenstand,  bloße  Gedanken- 
wesen, welche  nur  dazu  dienen,  unseren  Verstand  in 
gewisser  Hinsicht  zu  leiten,  also  eben  nicht  Annahmen 
eines  Wirklichen  wie  die  Hypothesen,  sondern  An- 
nahmen eines  Unwirklichen,  mit  dem  Bewußtsein  dieser 
Unwirklichkeit  — also  eben  „heuristische  Fiktionen“. 

Zu  solchen  Vernunftideen,  welche  eben  darum  keine 
berechtigten  Hypothesen  sind,  sondern  als  Hypothesen 
ganz  unberechtigt  wären,  gehört  nach  derselben  Stelle 
z.  B.  die  als  Fiktion  sehr  wohl  berechtigte  Annahme 
eines  „Verstandes,  der  vermögend  ist,  seinen  Gegen- 
stand ohne  Sinne  anzuschauen“  — also  der  intuitive 
Verstand  resp.  die  intellektuelle  Anschauung  wird  hier 
deutlich  als  eine  bloße  methodische  Fiktion  gekennzeich- 
net; in  demselben  Satz  werden  als  solche  Fiktionen  noch 
aufgeführt  die  Idee  einer  Substanz,  „die  ohne  Undurch- 
dringlichkeit im  Raum  gegenwärtig  wäre“,  also  die  Idee 
der  Seele  und  damit  zusammenhängend  die  Idee  einer 
übersinnlichen  „Gemeinschaft  der  Substanzen“,  die  Idee 


282 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


einer  „Gegenwart  anders  als  im  Raume“,  die  Idee  einer 
„Dauer  anders  als  bloß  in  der  Zeit“  — also  das  ganze 
Begriffsrüstzeug  der  alten  Dogmatik.  Dies  alles  sind 
also  nach  Kants  grundlegender  Einsicht  keine  berech- 
tigten Hypothesen,  wohl  aber  methodisch  nützliche  „heu- 
ristische Fiktionen“. 

Die  Idee  der  Seele  wird  dann  noch  speziell  heraus- 
gehoben als  eine  besonders  nützliche  heuristische  Fik- 
tion: „die  Seele  sich  als  einfach  denken,  ist  ganz  wohl 
erlaubt,  um  nach  dieser  Idee  eine  vollständige  und  not- 
wendige Einheit  aller  Gemütskräfte,  ob  man  sie  gleich 
nicht  in  concreto  einsehen  kann,  zum  Prinzip  unserer 
Beurteilung  ihrer  inneren  Erscheinungen  zu  legen.  Aber 
die  Seele  als  einfache  Substanz  anzunehmen  (ein 
transzendenter  Begriff)  wäre  ein  Satz,  der  nicht  allein 
unerweislich  (wie  es  mehrere  physische  Hypothesen  sind), 
sondern  auch  ganz  willkürlich  und  blindlings  gewagt  sein 
würde“  — also  wieder  eine  haarscharfe  Unterscheidung 
der  erlaubten  methodischen  Fiktion  von  der  Hypothese. 
Und  so  werden  daselbst  immer  wieder  „bloße  Ideen  der 
Vernunft“  = Fiktionen  von  „transzendentalen  Hypo- 
thesen“ scharf  geschieden. 

Betreffs  der  Fiktion  der  Seele  findet  sich  sodann 
in  dem  Abschnitt  „Die  Disziplin  der  reinen  Ver- 
nunft in  Ansehung  ihrer  Beweise“  noch  eine  sehr 
bemerkenswerte  Stelle,  um  so  bemerkenswerter,  als  sie 
bis  jetzt  noch  nie  so  recht  bemerkt  worden  ist.  Kant 
spricht  daselbst  (A  784,  B 812)  von  dem  Schluß  „aus  der 
Einheit  der  Apperzeption“  auf  „die  einfache  Natur  unserer 
denkenden  Substanz“  und. nennt  diesen  Schluß  einen 
Paralogismus,  der  dadurch  entstehe,  daß  man  „das  Ein- 
fache in  der  Abstraktion“  und  das  „Einfache  im  Objekt“ 
miteinander  verwechsle.  Zur  Erläuterung  dafür  führt 
er  folgendes  aus:  „Wenn  ich  mir  die  Kraft  eines  Kör- 
pers in  Bewegung  vorstelle,  so  ist  er  insofern  für 
mich  absolute  Einheit  und  meine  Vorstellung  von 
ihm  ist  einfach ; daher  kann  ich  diese  auch  durch  die  Be- 
wegung eines  Punktes  ausdrücken,  weil  sein  Volumen 
hierbei  nichts  tut,  und  ohne  Verminderung  der  Kraft  so 
klein,  wie  man  will,  und  also  auch  als  in  einem  Punkt 
befindlich  gedacht  werden  kann.“  Hieraus  werde  ich 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants. 


aber  doch  nicht  schließen,  daß,  wenn  mir  nichts  als  die 
bewegende  Kraft  eines  Körpers  gegeben  ist,  der  Körper 
als  einfache  Substanz  gedacht  werden  könne,  darum,  weil 
„seine  Vorstellung  von  aller  Größe  des  Raumesinhalts 
abstrahiert  und  also  einfach  ist“. 

Dieser  Vergleich  ist  nun  äußerst  lehrreich.  Denn 
Kant  ruft  hier  als  Beispiel  die  bekannte  Fiktion  herbei, 
wonach  die  Bewegungskraft  eines  Körpers  als  in  einem 
Punkt  vereinigt  gedacht  wird — eine  bekannte  metho- 
dische Fiktion  der  mathematischen  Physik.  Mit  vollem 
Bewußtsein,  mit  völliger  methodischer  Klarheit  entwickelt 
Kant  hier  das  Wesen  dieser  abstraktiven  Fiktion- 
und  zieht  nun  hieraus  die  Nutzanwendung  auf  die  Vor- 
stellung der  einfachen  Seelensubstanz,  die  ihm  also  nebst 
allen  daraus  folgenden  Konsequenzen  (Freiheit,  Unsterb- 
lichkeit, „Gemeinschaft  der  Heiligen“)  schlechterdings 
nichts  ist  als  — eine  bloße  methodische  Fiktion. 

In  einem  späteren  Abschnitt:  „Von  dem  Ideal  des 
höchsten  Guts  usw.“  wird  speziell  die  Vorstellung 
einer  intelligibeln,  moralischen  Welt  freier,  sittlich  han- 
delnder Geister,  also  „eines  corpus  mysticum  der  vernünf- 
tigen Wesen“  (also  ganz  entsprechend  der  religiösen  Vor- 
stellung einer  Gemeinschaft  der  Heiligen  oder  einer  un- 
sichtbaren Kirche,  — „eine  bloße,  aber  doch  praktische 
Idee“  genannt,  „die  wirklich  ihren  Einfluß  auf  die  Sinnen- 
weit  haben  kann  und  soll,  um  sie  dieser  Idee  so  viel  als 
möglich  gemäß  zu  machen“.  Es  ist  dies  also  nichts  als 
eine  methodische  Fiktion  der  Ethik. 

I Eine  Variation  dieser  Idee  ist  die  Vorstellung  „einer 
intelligibeln,  d.  i.  moralischen  Welt“  in  dem  Sinne,  daß 
in  solcher  Welt  das  „System  der  mit  der  Moralität  ver- 
bundenen proportionierten  Glückseligkeit“  herrsche,  das 
„System  der  sich  selbst  lohnenden  Moralität  ((dasselbe, 
was  dann  späterhin  Fichte  — zugleich  aus  der  kritischen 
Fiktion  ein  unkritisches  Dogma  machend  — „die  mora- 
lische Weltordnung“  genannt  hat).  Auch  das  „ist  nur 
eine  Idee“,  die  selbst  nur  wieder  durch  eine  besondere 
Fiktion  ermöglicht  ist,  nämlich,  daß  „alle  Handlungen 
vernünftiger  Wesen  so  geschehen,  als  ob  sie  aus  einem 
obersten  Willen,  der  alle  Privatwillkür  in  sich  oder  unter 
sich  befaßt,  entsprängen“. 


284 


Dritter  Teil : Historische  Bestätigungen. 


Die  Idee  eines  solchen  obersten  Willens,  der  dann 
Würdigkeit  und  Glückseligkeit  ausgleicht,  ist  „das  Ideal 
des  höchsten  Gutes“,  die  letzte  und  oberste  Idee,  d.  h. 
die  oberste  aller  Fiktionen,  die  wiederum'  identisch  ist 
mit  der  Gottesidee  oder  „dem  Begriff  eines  einigen  Ur- 
wesens  als  des  höchsten  Gutes“,  wie  es  nachher  heißt  i). 

Dann  heißt  es  in  demselben  Abschnitt  weiter:  „wir 
müssen  uns  als  zu  einer  solchen  Welt  gehörig  vor- 
stellen“, „wir  müssen  dieselbe  als  eine  für  uns  (d.  h. 
als  an  die  Anschauungsform  der  Zeit  gebundene  sinnliche 
Wesen)  künftige  Welt  an  nehmen“,  „wir  müssen  eine 
solche  Welt  als  eine  künftige  anseh en“,  „wir  müssen 
uns  im  Reiche  der  Gnaden  sehen“  — das  „ist  eine  prak- 
tisch notwendige  Idee  der  Vernunft“,  d.  h.  also  nach  dem- 
jenigen, was  wir  nun  über  die  Ideen  wissen,  das  ist 
eine  heuristische  Fiktion,  eine  zu  ethischen  Zwecken 
nützliche  Hilfsvorstellung. 

Daß  es  sich  dabei  aber  nur  um  fiktive  Hilfskonstruk- 
tionen handelt,  das  geht  endlich  noch  deutlich  aus  dem 
Schluß  desselben  Abschnittes  hervor:  wir  dürfen  „uns 
nicht  unterwinden“,  aus  dem'  Begriff  eines  höchsten 
Wesens  „die  moralischen  Gesetze  abzuleiten“;  dies  wäre 
„schwärmerisch  oder  wohl  gar  frevelhaft“;  d.  h.  wir 
könnten  nur  dann  die  moralischen  Gesetze  aus  dem 
Gottesbegriff  ableiten,  wenn  es  sich  dabei  um  eine  causa 
vera  handeln  würde.  Da  es  sich  aber  nur  um  eine  fik- 
tive Vorstellung  handelt,  so  können  wir  auch  aus 
ihr  nichts  realiter  ableiten.  Aus  einer  Hypothese  könnte 
man  etwas  und  unter  Umständen  sehr  viel  ableiten,  aus 
einer  Fiktion  — nichts.  Deshalb  ist  sie  doch  eine  nütz- 
liche und  brauchbare,  ja  notwendige  und  unentbehrliche 
— Idee,  aber  eben  auch  „nur  eine  Idee“. 

Eine  wichtige  Ergänzung  hierzu  bietet  nun  endlich 
der  Abschnitt:  „Vom  Meinen,  Witssen  und  Glau- 
ben“. Dieser  Abschnitt  ist  allerdings  zum'  Teil  in  sich, 
zum  Teil  mit  dem  Vorhergehenden  widersprechend,  wahr- 

1)  In  diesem  Zusammenhang  (A  813,  B 841)  entschlüpft  Kant 
eine  sehr  charakteristische  Wendung:  darnach  ist  auch  „das  mora- 
lische Gesetz“  selbst  „eine  bloße  Idee“  — eine  sehr  bemerkens- 
werte Stelle.  Das  ganze  Moralgesetz  — nur  eine  Ideel  Welch  weite 
Perspektive  eröffnet  sich  mis  dal 


Grundlegendes  in  den  Hauptscliriften  Kants. 


285 


scheinlich  ein  aus  früherer  Zeit  stammender,  dort  ein- 
geschobener Entwurf;  allein  wir  halten  uns,  unter  Weg- 
lassung des  Unstimmigen,  an  dasjenige,  was  in  unseren 
Zusammenhang  hineinpaßt  und  hineingehört.  Kant  lehnt 
(A  827,  B 855)  ab,  auf  die  Vernunftideen  den  Ausdruck 
„Hypothesen“  anzuwenden:  „Wenn  ich  das  bloß  theo- 
retische Fürwahrhalten  hier  auch  nur  Hypothese  nennen 
wollte  [d.  h.  wenn  ich  auf  die  Ideen  statt  den  Ausdruck 
„Wissen“  sogar  auch  bloß  den  Ausdruck  „Hypothesen“ 
anwenden  wollte],  die  ich  [als  real]  anzunehmen  berech- 
tigt wäre,  so  würde  ich  mich  dadurch  schon  anheischig 
machen,  mehr  von  der  Beschaffenheit  einer  Weltursachc 
und  einer  anderen  Welt  Begriff  zu  haben,  als  ich  wirk- 
lich aufzeigen  kann;  denn  was  ich  auch  nur  als  Hypo- 
these annehme,  davon  muß  ich  wenigstens  seinen  Eigen- 
schaften nach  soviel  kennen,  daß  ich  nicht  seinen 
Begriff,  sondern  nur  sein  Dasein  erdichten  [d.  h. 
hypothetisch  annehmen]  darf.  Das  Wort  Glauben  aber 
geht  nur  auf  die  Leitung,  die  mir  eine  Idee  gibt,  bei 
welcher  nämlich  auch  der  Begriff  selbst  er- 
dichtet ist“  (vgl.  zur  Erläuterung  A 770,  B 798).  Also 
„die  Voraussetzung,  daß  eine  höchste  Intelligenz  Alles 
nach  den  weisesten  Zwecken  geordnet  habe“  usw.  — 
alle  diese  Vorstellungen,  welche  doch  „bloße  Ideen“  sind, 
will  Kant  auch  als  „Glauben“  bezeichnen.  Also  in  diesem 
Sinne,  in  diesem  Zusammenhang  ist  Glaube  so  viel  als 
die  Annahme,  als  ob  etwas  wäre,  was  nicht  wirklich 
ist  und  nicht  wirklich  sein  kann.  Nicht  nur  Kant  nemit 
hier  diese  fiktiven  Annahmen  „Glauben“  — auch  rück- 
wärts aus  der  Geschichte  der  Religionen,  speziell  aus  der 
Geschichte  der  Mystik,  läßt  sich  durch  viele  Beweise 
erhärten,  daß  auch  umgekehrt  vielfach  vielen  Gläubigen 
ihre  Glaubenswelt  nur  eine  bewußte  Selbst- 
täuschung, d.  h.  eben  eine  Welt  von  be^vußten  Fik- 
tionen war  — und  noch  heute  ist. 

Mit  diesem  Ausblick  schließen  wir  die  Analyse  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  und  bemerken  noch  ausdrück- 
lich, daß  in  der  vorstehenden  Analyse  nur  diejenigen 
Stellen  herausgezogen  und  erörtert  sind,  welche  für 
unsere  Theorie  der  Fiktion  sprechen.  Aber  bei  Kant  fin- 
den sich  in  demselben  Zusammenhänge  auch  vielfach 


286 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Stellen,  welche  eine  entgegengesetzte  Auslegung  zulassen, 
ja  fordern.  Kant  hat  sich  bekanntlich  sehr  vielfach  wider- 
sprochen; daß  diese  vielfachen  Selbswidersprüche  kein 
Gegenbeweis  gegen  seine  Größe  sind,  ist  nur  dem  Phi- 
lister unverständlich.  Es  liegt  eben  in  Kants  Entwick- 
lung und  im  ganzen  Zeitmilieu  begründet,  daß  bei  Kant 
(wie  bei  vielen  großen  Männern)  zwei  Strömungen  vor- 
handen -sind,  eine  kritische  und  eine  dogmatische,  eine 
revolutionäre  und  eine  konservative.  Die  beiden  Seelen 
Kants  liegen  manchmal  bei  ihm  im  Streite,  und  so  finden 
sich  auch  viele  Stellen  bei  Kant,  in  denen  er  seinen 
kritischen  Standpunkt  abschwächt. 

Zur  Weiterverfolgung  der  interessanten  Fragen  bei 
Kant  nehmen  wir  die  Prolegomena  (1783)  vor,  in  denen 
wir  aber  in  dieser  Hinsicht  eine  bemerkenswerte  Va- 
riation der  Lehre  Kants  antreffen.  Es  kommen  aus  den 
Prolegomena  nur  die  beiden  §§  57  und  58  in  Betracht,  in 
dem  Abschnitt:  „Von  der  Grenzbestimmung  der  reinen 
Vernunft“.  Kant  hat  vorher,  in  den  §§  40 — 56  die  Transz. 
Dialektik  seiner  Kr.  d.  r.  V.  rekapituliert,  sehr  kurz  und 
sehr  im  „populären  Auszug“  — denn  alle  Feinheiten  seiner 
Ideenlehre  sind  in  diesem  Auszug  verloren  gegangen;  ein 
vergröbertes  Bild  sieht  uns  an.  Daß  es  sich  in  der 
Transz.  Dialektik  um  solche  Begriffe  handelt,  welche 
„bloße  Ideen“  sind,  tritt  ganz  zurück;  nur  selten  findet 
sich  die  letztere  Wendung.  Eine  ganz  besondere  Ver- 
gröberung seiner  Lehre  findet  sich  in  der  Bezeichnung 
des  Gottesbegriffes  als  einer  „notwendigen  Hypothese“ 
im  § 55,  während  doch  Kant  in  der  Kr.  d.  r.  V.  die  Ideen 
als  „heuristische  Fiktionen“  haarscharf  von  den  Hypo- 
thesen geschieden  hatte.  Man  sieht  also,  daß  Kant  die 
Prolegomena  allerdings  nur  für  Anfänger  und  für  den 
Anfang  des  Studiums  der  kritischen  Philosophie  be- 
stimmt hat. 

Dieselbe  Vergröberung  tritt  nun  auch  in  den  bei- 
den §§  57  und  58  hervor.  Kant  spricht  hier  fast  aus- 
schließlich nur  von  der  Gottesidee;  aber  mit  Rück- 
sicht auf  sein  Leserpublikum  läßt  er  hier  die  Wen- 
dung, daß  dieser  Begriff  „eine  bloße  Idee“  sei,  ganz 
zurücktreten,  d.  h.  die  Einsicht,  daß  schon  der  Begriff 
eines  einheitlichen  Urwescns  überhaupt  nur  fiktiv  ist, 


Grundlegendes  in  den  Hauptschriften  Kants. 


287 


„nur  eine  Idee“.  Hier,  in  den  Prolegomena,  wird  zwar 
nicht  für  ihn  selbst,  aber  für  seine  Leser  aus  dieser 
„heuristischen  Fiktion“  — eine  notwendige  Hypothese; 
und  nun  handelt  es  sich  nur  noch  darum,  wie  man  sich 
dieses  als  real  anerkannte  Urwesen  im  Verhältnis  zur 
Welt  vorstellen  soll,  d.  h.  inwieweit  man  ihm  mensch- 
liche Prädikate  geben  darf,  und  nur  in  bezug  auf  das 
Letztere  wird  nun  hier  das  Als  ob  eingeführt.  In 
der  Kr.  d.  r.  V.  waren  — wenigstens  in  den  oben  an- 
geführten Stellen  — sowohl  die  Existenz  als  die 
Eigenschaften  Gottes  fingiert.  Jetzt,  in  den 
Prolegomena,  wird  vorsichtigerweise  für  das  weitere  und 
doch  noch  nicht  weit  genug  fortgeschrittene  Publikum 
die  Fiktivität  nur  auf  die  Eigenschaften  angewen- 
det, dagegen  die  Existenz  als  selbstverständlich  voraus- 
gesetzt, wenn  auch  wiederum  nicht  ohne  einiges  Schwan- 
ken. Es  heißt  wie  in  § 58 : „Der  unseren  schwachen 
Begriffen  angemessene  Ausdruck  wird  sein:  daß  wir  uns 
die  Welt  so  denken,  als  ob  sie  von  einer  höchsten 
Vernunft,  ihrem  Dasein  und  inneren  Bestimmung  nach 
abstamme“.  Im  § 59,  wo  es  ausdrücklich  heißt,  dieses 
Wesen  sei  „nicht  bloß  erdichtet,  sondern,  da  außer  der 
Sinnenwelt  notwendig  etwas,  was  nur  der  reine  Verstand 
denkt,  anzutreffen  sein  muß“,  wird  gesagt,  „wir  können 
dieses  . . . freilich  bloß  nach  der  Analogie  bestimmen“. 
Diese  Vorstellungsweise  nennt  Kant  nun  im  § 58  im 
Gegensatz  zum  dogmatischen  den  symbolischen  An- 
thropomorphismus; „der  in  der  Tat  nur  die  Sprache 
und  nicht  das  Objekt  selbst  angeht“.  „Wenn  ich  sage, 
wir  sind  genötigt,  die  Welt  so  anzuseheü,  als  ob 
sie  das  Werk  eines  höchsten  Verstandes  und  Willens  sei, 
so  sage  ich  wirklich  nichts  mehr,  als:  wie  sich  verhält 
eine  Uhr,  ein  Schiff,  ein  Regiment  zum  Künstler,  Bau- 
meister, Befehlshaber,  so  die  Sinneswelt  ...  zu  dem 
Unbekannten,  das  ich  also  hierdurch  zwar  nicht  nach 
dem,  was  es  an  sich  selbst  ist,  ...  aber  doch  nach 
dem,  was  es  für  mich  ist,  . . . erkenne.“  So  „nennen“ 
wir  auch  das  Verhältnis  des  „Unbekannten  in  Gott“  zur 
Menschheit  — Liebe  (nach  Analogie  eines  menschlichen 
Vaters).  Also  dieser  „symbolische  Anthropomorphismus“ 
„geht  nur  die  Sprache  an“,  ist  also  nur  — eine  fa(?on  de 


288 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


parier,  um  eine  Leibnizsche  Wendung  zu  gebrauchen. 
Man  spricht  nur  so,  als  ob  das  so  wäre. 


Prinzipielle  Ausführungen  in  den  ethisch-religions- 
sophischen  Grundwerken. 

Hier  kommt  zuerst  die  „Grundlegung  zur  Meta- 
physik der  Sitten“  (1785)  in  Betracht  eine  der  kühn- 
sten und  konsequentesten  Schriften  Kants,  ein  würdiges 
Gegenstück  zur  Kr.  d.  r.  V.;  viel  bedeutender,  als  die 
schwächlichen  „Prolegomena“. 

Für  uns  kommt  zunächst  der  3.  Abschnitt  (der  Schluß- 
abschnitt) in  Betracht,  in  welchem  „der  Begriff  der  Frei- 
heit“ als  „der  Schlüssel  zur  Erklärung  der  Autonomie 
des  Willens“  behandelt  wird.  Darin  heißt  es  (im  4.  Ab- 
satz): „Ein  jedes  Wesen,  das  nicht  anders,  als  un- 
ter der  Idee  der  Freiheit  handeln  kann,  ist  eben 
darum,  in  praktischer  Rücksicht,  wirklich  frei,  d.  i. 
es  gelten  für  dasselbe  alle  Gesetze,  die  mit  der  Frei- 
heit unzertrennlich  verbunden  sind,  ebenso,  als  ob  sein 
Wille  auch  an  sich  selbst,  und  in  der  theoretischen 
Philosophie  gültig,  für  frei  erklärt  würde.  Nun  behaupte 
ich,  daß  wir  jedem  vernünftigen  Wesen,  das  einen  Willen 
hat,  notwendig  auch  die  Idee  der  Freiheit  leihen  müssen, 
unter  der  es  allein  handle.  Denn  in  einem  solchen  Wesen 
denken  wir  uns  eine  Vernunft,  die  praktisch  ist,  d.  i. 
Kausalität  in  Ansehung  ihrer  Objekte  hat  . . . (Eine  solche 
Vernunft)  muß  sich  selbst  als  Urheberin  ihrer  Prinzipien 
an  sehen  . . . folglich  muß  sie  . . . als  frei  angesehen 
werden,  d.  i.  der  Wille  desselben  kann  nur  unter 
der  Idee  der  Freiheit  ein  eigener  Wille  sein  und  muß 
also  in  praktischer  Absicht  allen  vernünftigen  Wesen 
beigelegt  werden.“  In  einer  Anmerkung  (S.  76)  recht- 
fertigt Kant  nochmals  ausdrücklich  diesen  von  ihm  hier 
eingeschlagenen  Weg,  „die  Freiheit  nur,  als  von  ver- 
nünftigen Wesen  bei  ihren  Handlungen  bloß  in  der 
Idee  zum  Grunde  gelegt  . . . anzunehmen“,  denn  es 
„gelten  doch  dieselben  Gesetze  für  ein  Wesen,  das  nicht 
anders,  als  unter  der  Idee  seiner  eigenen  Freiheit 


Prinzip.  Ausfuhr,  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grundwerken.  289 


handeln  kann,  die  ein  Wesen,  das  wirklich  frei 
wäre,  verbinden  würden.“ 

Dieser  Passus  ist  klein,  aber  von  großer  Tragweite: 
ganz  klar  und  unzweideutig  erklärt  Kant  hier  die  Freiheit 
für  eine  bloße  Idee  ohne  Realität.  Die  Überschrift  des 
ganzen  Passus  lautet  S.  76:  „Freiheit  muß  als  Eigen- 
schaft des  Willens  aller  vernünftigen  Wesen  voraus- 
gesetzt werden“  — „voraussetzen“  ist  also  hier  offen- 
bar ==  so  „ansehen“,  „leihen“,  „beilegen“,  also  kurz- 
weg = fingieren ! Gleich  nachher  heißt  es  S.  77:  Freiheit 
„können  wir  als  etwas  Wirkliches  nicht  . . . beweisen, 
wir  sahen  nur,  daß  wir  sie  voraussetzen  müssen“  — 
„voraussetzen“  bedeutet  also  hier  nicht  eine  Hypothese, 
sondern  eine  Fiktion.  In  demselben  Sinne  heißt  es  bald 
nachher  S.  79:  „wir  nehmen  uns  in  der  Ordmmg  der 
wirkenden  Ursachen  als  frei  an“  und  „wir  haben  uns 
die  Freiheit  des  Willens  bei  gelegt“. 

Hier  tritt  nun  ein  anderer  Gedanke  ein,  welcher  bei 
Kant  hier,  wie  so  oft,  in  einem'  schwankenden  Lichte 
erscheint:  indem  wir  uns  „als  frei  ansehen“,  „denken 
wir  uns  als  a priori  wirkende  Ursachen“  (S.  79),  und 
damit  nehmen  wir  den  „Standpunkt“  (S.  79,  81/2)  ein, 
daß  wir  uns  als  Glieder  und  Mitglieder  „der  Verstandes- 
welt“ (des  mundus  intelligibilis)  und  damit  „als  Intelli- 
genz“ „ansehen“  (S.  81).  Auf  der  einen  Seite  sagt  Kant 
ganz  energisch,  daß  wir  von  der  Welt  der  Dinge  an  sich 
absolut  nichts  wissen;  wenn  er  auf  der  anderen  Seite 
sagt,  daß  diese  Welt  der  Dinge  an  sich  aus  „IntelÜT 
genzen“  bestehe,  so  ist  darin  eben  weiter  nichts  als  ein 
„symbolischer  Anthropomorphismus“  zu  sehen,  wie  sich 
Kant  früher  ausgedrückt  hat:  die  Welt  der  Dinge  wird 
angesehen,  als  ob  feie  aus  Intelligenzen  bestünde,  und 
wir  .„denken“  uns  selbst  als  Glieder  dieser  fingierten  In- 
telligenzenwelt. Dieser  Gedankengang  tritt  bei  Kant  nicht 
in  allen  Stellen  rein  und  unzweideutig  hervor;  aber  es 
gibt  'Stellen,  aus  denen  -er  sich  zwar  nicht  als  die 
Meinung  Kants,  wohl  aber  als  eine  — und  für  uns  die 
bedeutsamste  seiner  Meinungen  ergibt. 

Es  heißt  nachher  S.  82:  „der  Mensch  kann  die  Kau- 
salität seines  eigenen  Willens  niemals  anders  als  unter 
der  Idee  der  Freiheit  denken“  — die  „Idee*  der 

Vaihinger.  Philosophie.  19 


290 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Freiheit“  ist  aber  eine  Idee,  wie  die  anderen,  also  „nur 
eine  Idee“,  eine  „heuristische  Fiktion“.  „Wenn  wir  uns 
als  frei  denken,  so  versetzen  Avir  uns  als  Glieder  in  die 
Verstandeswelt“,  so  heißt  es  ebendaselbst  (S.  82)  — Wen- 
dungen, welche  ebensowohl  dogmatisch,  wie  kritisch  aus- 
gelegt werden  können,  dogmatisch  im  Sinne  der  Wirklich- 
keitsannahme, kritisch  im  Sinne  einer  heuristischen  Fik- 
tion. Kant  fährt  dort  (S.  82)  fort:  „Unabhängigkeit  von 
den  bestimmenden  Ursachen  der  Sinnenwelt  (dergleichen 
die  Vernunft  jederzeit  sich  selbst  beilegen  muß)  ist 
Freiheit.  Mit  der  Idee  der  Freiheit  ist  nun  der  Be- 
griff der  Autonomie  unzertrennlich  verbunden,  mit  diesem 
aber  das  allgemeine  Prinzip  der  Sittlichkeit,  welches  in 
der  Idee  allen  Handlungen  vernünftiger  Wesen  . . . 
zum  Grunde  liegt“;  und  nachher  heißt  es  noch  einmal: 
„wenn  v/ir  uns  als  frei  denken,  so  versetzen  wir  uns 
als  Glieder  in  die  Verstandeswelt“.  Also  Freiheit  ist 
eine  Idee,  Autonomie  ist  eine  Idee,  das  allgemeine  Sitten- 
gesetz ist  eine  Idee  — Ideen  sind  „bloße  Ideen“;  die 
ganze  Moral  ruht  damit  auf  Fiktionen.  Es  heißt  nachher 
S.  83 : „die  Idee  der  Freiheit  macht  mich  zu  einem 
Gliede  einer  intelligibeln  Welt“  — ist  aber  die  Freiheit 
„nur  eine  Idee“,  so  ist  auch  die  intelligibele  Welt  eine 
bloße  Idee.  Weiter  heißt  es  (S.  84) : daß  der  Mensch  „mit 
einem  Willen,  der  von  Antrieben  der  Sinnlichkeit  frei  ist, 
sich  in  Gedanken  in  eine  ganz  andere  Ordnung  der 
Dinge  versetze“;  „diese  bessere  Person  glaubt  er  aber 
zu  sein,  v/enn  er  sich  in  den  Standpunkt  eines  Gliedes 
der  Verstandeswelt  versetzt,  dazu  die  Idee  der  Frei- 
heit ...  ilm  unwillkürlich  nötigt“.  Daß  Freiheit  aber 
eben  „nur  eine  Idee  der  Vernunft  sei,  deren  objek- 
tive Realität  an  sich  zweifelhaft  ist“,  wird  gleich  nachher 
(S.  85)  deuthch  wiederholt:  „alle  Menschen  denken  sich 
dem  Willen  nach  als  frei“  — sie  sind  es  aber  nicht,  die 
Freiheit  ist  ja  nur  eine  Als-ob-Annahme,  eine  Fiktion. 
Die  Wendung,  daß  wir  uns  „als  Intelligenzen,  mit  einem 
Willen  begabt  denken“,  wird  nachher  öfters  wieder- 
holt (ib.  S.  86,  87),  und  daß  „wir  uns  dadurch  in  eine 
andere  Ordnung  der  Dinge  setzen“.  „Dadurch,  daß 
die  praktische  Vernunft  sich  in  eine  Verstandeswelt 
hinein  denkt,  überschreitet  sie  gar  nicht  ihre  Grenzen, 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grundwerken.  291 

wohl  aber,  wenn  sie  sich  hineinschauen  . . . wollte“ 
(S.  88).  „Der  Begriff  einer  Verstandes  weit  ist  also  nur 
ein  Standpunkt,  den  die  Vernunft  sich  genötigt  sieht, 
außer  den  Erscheinungen  zu  nehmen,  um  sich  selbst  als 
praktisch  zu  denken“  (S.  88/9)  — also  nur  ein  point 
de  vue,  nur  eine  zufällige  Ansicht,  nur  eine  Fiktion. 
„Freiheit  aber.ist  eine  bloße  Idee“  (S.  89)  — eine  „bloße 
Idee“  ist,  wie  wir  wissen,  eine  heuristische  Fiktion.  Am 
Schlüsse  der  „Grundlegung“  (S.  93)  heißt  es  dann  ganz 
deutlich:  „Übrigens  bleibt  die  Idee  einer  reinen  Ver- 
standeswelt, als  eines  Ganzen  aller  Intelligenzen  . . . 
immer  eine  brauchbare  und  erlaubte  Idee  zum 
Behufe  eines  vernünftigen  Glaubens,  . . . um  durch  das 
herrliche  Ide  all)  eines  allgemeinen  Reiches  der  Zwecke 
an  sich  selbst  . . . ein  lebhaftes  Interesse  an  dem  mo- 
ralischen Gesetze  in  uns  zu  bewirken“. 

Der  ausgelassene  Zwischensatz  lautet  im  Anschluß 
an  den  Begriff  des  Reiches  der  Zwecke,  „zu  welchem 
wir  nun  alsdann  als  Glieder  gehören  können,  wenn  wir 
uns  nach  Maximen  der  Freiheit,  als  oh  sie  Gesetze  der 
Natur  wären,  sorgfältig  verhalten“  (S.  94).  Damit  stoßen 
wir  auf  einen  Gedanken,  der  in  dem  zvv  eiten  Abschnitt 
der  „Grundlegung“  mehrfach  in  ähnlicher  Form  wieder- 
holt wird:  so  S.62:  wo  die  „Formel  des  sittlichen  Impe- 
rativs so  ausgedrückt  wird,  daß  die  Maximen  so  müssen 
gewählt  werden,  als  ob  sie  wie  allgemeine  Naturgesetze 
gelten  sollen“;  oder  S.  44:  „handle  so,  als  ob  die 
Maxime  deiner  Handlung  durch  deinen  Willen  zum  all- 
gemeinen Naturgesetze  werden  sollte“  — also  eine  neue, 
eigenartige  Fiktion.  Ich  weiß  wohl,  daß  meine  Maximen 
des  Handelns  keine  Naturgesetze  sind,  daß  sie  nicht  ein- 
mal für  die  Majorität  der  Menschen  Gesetze  sind,  aber 
ich  denke  so,  ich  handle  so,  als  ob  sie  allgemeine  Natur- 
gesetze wären ! In  demselben  Sinne  heißt  es  S.  64 : „Dem- 
nach muß  ein  jedes  vernünftige  Wesen  so  handeln,  als 


9 Man  vergesse  nicht,  daß  in  der  Sprache  Kants  ein  , Ideal“, 
wenn  es  auch  noch  so  , herrlich“  ist,  doch  immer  nur  eine  Fiktion 
ist.  Zum  Überfluß  bemerkt  Kant  im  zweiten  Abschnitt  der  Grund- 
legung“ ausdrücklich  einmal  (S.  59)  zu  dem  Reich  der  Zwecke“  in 
Klammern:  (freilich  nur  ein  Ideal),  dieses  „freilich  nur“  spricht 
Bände. 


292 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


ob  es  durch  seine  Maximen  jederzeit  ein  gesetzgebendes 
Glied  im  allgemeinen  R.eiche  der  Zwecke  wäre.  Das 
formale  Prinzip  dieser  Maximen  ist:  handle  so,  als  ob 
deine  Maxime  zugleich  zum  allgemeinen  Gesetze  (aller 
vernünftigen  Wesen)  dienen  sollte.“  Von  diesem  „Reich 
der  Zwecke“  heißt  es  dann  weiter  (S.  65) : „es  ist  nur 
möglich  nach  der  Analogie  mit  einem  Reiche  der 
Natur“;  die  Wendung  „nach  der  Analogie“  bedeutet  aber 
nach  Kants  früher  erörtertem  Sprachgebrauch  eine  — 
Fiktion.  Dieses  „Reich  der  Zwecke“  ist  ein  „bloß  mög- 
liches“, weil  es  nur  zustande  käme,  wenn  alle  vernünf- 
tigen Wesen  nicht  nur  nach  jener  Maxime  einstimmig  han- 
deln würden,  sondern  a'uch,  wenn  das  Reich  der  Natur 
mit  dem  Reich  der  Zwecke  „zusammenstimmen“  würde 
— eine  absolute  Utopie.  Das  „Reich  der  Zwecke“  ist  also 
„eine  bloße  Idee“. 

Wenn  allerdings,  wie  es  weiter  heißt,  „das  Reich  der 
Zwecke  als  unter  einem  Oberhaupt  vereinigt  gedacht 
würde,  so  würde  dadurch  das  Letztere  nicht  mehr  eine 
bloße  Idee  bleiben,  sondern  wahre  Realität  erhalten“ 
(S.  65).  Allein  die  Vorstellung  eines  solchen  „Ober- 
hauptes“ ist  ja,  wie  wir  wissen,  selbst  nur  eine  Fiktion 
des  „symbolischen  Anthropomorphismus“,  aber  auch 
wenn  man  ein  solches  „Oberhaupt“  statuieren  wollte, 
so  „müßte  doch  selbst  dieser  alleinige  unumschränkte 
Gesetzgeber  immer  so  vorgestellt  werden,  wie  er  den 
Wert  der  vernünftigen  Wesen  nur  nach  ihrem  uneigen- 
nützigen, bloß  aus  jener  Idee  ihnen  selbst  vorge- 
schriebenen Verhalten  beurteilte“;  eben  aus  der  Idee  des 
Reiches  der  absoluten  Zwecke  vernünftiger  Wesen  oder, 
mit  anderen  Worten,  aus  der  Idee  der  „Würde  der 
Menschheit“.  Daß  auch  dies  eine  „bloße  Idee“  ist,  sagt 
Kant  vorher  (S.  65)  mit  folgenden  markanten  Worten : „Und 
hierin  liegt  eben  das  Paradoxe,  daß  bloß  die  Würde 
der  Menschheit,  als  vernünftiger  Natur,  ohne  irgend- 
einen anderen  dadurch  zu  erreichenden  Zweck  oder  Vor- 
teil, mithin  die  Achtung  für  eine  bloi^e  Idee^) 


1)  In  demselben  Sinne  heißt  es  S.  54:  „Der  Mensch  muß  jeder- 
zeit als  Zweck  an  sich  selbst  betrachtet  werden“.  — Also  eine 
Betrachtungsweise  ein  point  de  vue,  ein  Als-ob,  eine  Fiktion. 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Gnindwerken.  293 

dennoch  zur  unnachlaßlichen  Vorschrift  des  Willens  die- 
nen sollte,  und  daJ3  gerade  in  dieser  Unabhängigkeit  der 
Maxime  von  allen  solchen  Triehfedern  die  Erhabenheit 
derselben  bestehe  und  die  Würdigkeit  eines  jeden 
vernünftigen  Subjekts,  ein  gesetzgebendes  Glied  im' Reiche 
der  Zwecke  zu  sein“. 

In  dieser  prächtigen  Stelle  hat  Kant  überhaupt  den 
absoluten  Höhepunkt  seiner  kritischen  Philosophie  er- 
reicht: die  „Würde  der  Menschheit“,  das  „Reich  der 
'Zwecke“  sind  — dies  erkennt  und  lehrt  Kant  — „bloße 
Ideen“,  also  Begriffe  ohne  jeden  Realitätswert,  nur  „heu- 
ristische Fiktionen“,  nur  Betrachtungsweisen,  nur  ein 
Standpunkt;  es  kann,  soll  und  muß  so  angesehen  werden, 
als  ob  das  so  wäre:  dennoch,  trotz  dieser  Einsicht 
in  die  fiktive  Natur  dieser  Vorstellungsweise,  richtet  der 
Mensch  als  „vernünftiges  Wesen“  sein  Handeln  nach 
diesen  Fiktionen  ein.  Hier  sind  wir  auf  dem  höchsten 
Gipfel  angelangt,  den  das  Kantische  Denken,  den  das 
menschliche  Denken  überhaupt  erreicht  hat.  Nur  wenige, 
nur  die  Auserlesenen  können  in  diesem  Hochland  über- 
haupt noch  atmen : die  große  Masse  bedarf  einer  anderen, 
einer  dickeren  Luft. 

% ^ * 

In  der  „Kritik  der  praktischen  Vernunft“  (1788) 
schlägt  Kant  andere  Töne  an.  Der  kühne  Radikalis- 
mus der  „Grundlegung“  macht  einem  zunehmenden  Dog- 
matismus Platz.  Während  in  der  „Grundlegung“  die 
kritisch-radikalen  Leitmotive  hervortreten  und  die  konser- 
vativ-dogmatische Strömung  zur  Unterströmung  wird,  ist 
es  in  der  Kr.  d.  pr.  V.  umgekehrt.  Ganz  verschwinden 
in  dieser  die  radikaleren  Momente  nicht.  Unserer  Tendenz 
gemäß  heben  wir  hier  wiederum  nur  diese  radikalen 
Momente  heraus,  und  auch  nur  insofern,  als  sie  mit 
einiger  Entschiedenheit  sich  geltend  machen. 

Im  1.  Abschnitt  § 7 (Ed.  Kirchmann  1870,  S.  37/8) 
wird  die  Idee  der  Heiligkeit  als  praktische  Idee  ein- 
geführt: „In  der  allergenugsamsten  Intelligenz  [Gott]  wird 
die  Willkür  als  keiner  Maxime  fähig,  die  nicht  zu- 
gleich objektiv  Gesetz  sein  könnte,  mit  Recht  vor- 


294 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


gestellt  . . . diese  Heiligkeit  des  Willens  ist  eine  prak- 
tische Idee,  welche  notwendig  zürn  Urbilde  dienen 
muß“  — also  ein  fiktives  Ideal  (vgl.  dagegen  ib.  S.  148). 
Die  „intelligible  Ordnung  der  Dinge“  oder  die  „über- 
sinnliche Natur“,  wie  es  jetzt  öfters  heißt,  tritt 
trotzdem  recht  dogmatisch  hier  auf.  Doch  gibt  es  auch 
kritischer  lautende  Stellen,  so  in  dem  Abschnitt  „Von  der 
Deduktion  der  Grundsätze  der  reinen  praktischen  Ver- 
nunft“ (S.  52ff):  „das  Gesetz  der  Autonomie  ist  das 
moralische  Gesetz,  welches  also  das  Grundgesetz  einer 
übersinnlichen  Natur  und  einer  reinen  Verstandeswelt 
ist,  deren  Gegenbild  in  der  Sinnenwelt  . . . existieren 
soll.  Man  könnte  jene  die  ur bildliche,  die  wir  bloß 
in  der  Vernunft  erkennen,  diese  aber,  weil  sie  die  mög- 
liche Wirkung  der  Idee  der  ersteren,  als  Bestimmungs- 
grundes des  Willens  enthält,  die  nachgebildete  nen- 
nen. Denn  in  der  Tat  versetzt  uns  das  moralische  Gesetz 
der  Idee  nach  in  eine  Natur,  in  welcher  reine  Vernunft, 
wenn  sie  mit  dem  ihr  angemessenen  physischen  Ver- 
mögen begleitet  wäre,  das  höchste  Gut  hervorbringen 
v/ürde  . . . daß  diese  Idee  wirklich  unseren  Wil- 
lensbestimmungen gleichsam  als  Vorzeichnung  zum 
Muster  liege,  bestätigt  die  gemeinste  Aufmerksamkeit  auf 
sich  selbst.  Wenn  die  Maxime,  nach  der  ich  ein  Zeugnis 
abzulegen  gesonnen  bin,  durch  die  praktische  Vernunft 
geprüft  wird,  so  sehe  ich  immer  darnach,  wie  sie  sein 
würde,  wenn  sie  als  allgemeines  Naturgesetz  gälte  . . . 
Wir  sind  uns  durch  die  Vernunft  eines  Gesetzes  bewußt, 
welchem,  als  ob  durch  unseren  Willen  zugleich  eine 
Naturordnung  entspringen  müßte,  alle  unsere  Maximen 
unterworfen  sind.  Also  muß  dieses  die  Idee  einer  nicht 
empirisch  gegebenen,  und  dennoch  durch  Freiheit  mög- 
lichen, mithin  übersinnlichen  Natur  sein,  der  wir,  wenig- 
stens in  praktischer  Beziehung,  objektive  Realität  geben, 
weil  wir  sie  als  Objekt  unseres  Willens  als  reiner  ver- 
nünftiger Wesen  an  sehen“.  Also  doch  — „objektive 
Realität  1“  Also  doch  nicht  lediglich  fiktiv?  Aber  man 
beachte  den  Zusammenhang  „objektive  Realität“ 


1)  Der  Ausdruck  ,, objektive  Realität“  hat  in  der  Kr.  d.  pr.  V.  und 
den  verwandten  Schriften  schwankende  Bedeutung,  was  man  leicht 
übersieht  und  bis  jetzt  meist  übersehen  hat.  Am  besten  wird  „objek- 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grundwerken.  295 

sprechen  wir  jener  übersinnlichen  Natur  nur  zu,  weil 
und  insofern  wir  sie  „ansehen“  als  „Objekt  unseres 
Willens“  — also  wir  selbst  schaffen  eben  jene  über- 
sinnliche Natur  durch  unseren  Willen,  und  nur  insofern, 
als  unser  Wille  durch  jene  „Idee“  bestimmt  ist  — wir 
kommen  also  damit  nicht  aus  dem  Fiktiven  heraus.  Ganz 
in  diesem  Sinne  heißt  es  dann  sehr  bezeichnenderweise 
weiter  (S.  53/4) : „die  zwei  Aufgaben  also : wie  reine 
Vernunft  einerseits  a priori  Objekte  erkennen  [das  Pro- 
blem der  Kr.  d.  r.  V.],  und  wie  sie  andererseits  [das 
Problem  der  Kr.  d.  pr.  V.]  unmittelbar  ein  Bestimmungs- 
grund des  Willens,  d.  i.  die  Kausalität  der  vernünftigen 
Wesen  in  Ansehung  der  Wirklichkeit  der  Objekte  (bloß 
durch  den  Gedanken  der  Allgemeingültigkeit  ihrer 
eigenen  Maximen  als  Gesetze)  sein  könne,  sind  sehr  ver- 
schieden“ — also  die  praktische  Vernunft  schafft  eben 
ihr  eigenes  Objekt,  das  Reich  des  Guten,  „bloß  durch  den 
Gedanken“,  also  eben  allein  durch  die  Idee,  und  das  von 
ihr  geschaffene  Objekt  ist  eben  das  Reich  des  Guten, 
das  nur  in  der  Idee  und  durch  sie  besteht  — hier  hat 
Kant  für  denjenigen,  der  richtig  lesen  kann,  und  der  in 
sich  diese  hohen  Gedanken  nacherleben  kann,  ganz  deut- 
lich gesprochen. 

„Die  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der 
bloßen  Vernunft“  (1793)  bietet  für  unseren  Gegen- 
stand sehr  viel  wertvolles  Material.  Die  „Vorrede“  wieder- 
holt zunächst  in  unbestimmter  Weise  die  Wendungen 
„annehmen“  (S.  3,  7)  und  „objektive,  obgleich  nur  prak- 
tische Realität“  (Ausg.  v.  Kirchmann,  S.  7,  aber  am 

tive  Realität“  erläutert  (S.  68  am  Schluß  fies  Abschnittes:  „Von 
dem  Befugnisse  der  reinen  Vernunft“  usw.)  durch  den  Wechselaus- 
druck „piaKtisch  anwendbare  Realität“.  (Man  beachte,  was  an  der- 
selben Stelle,  am  Schluß  des  Absatzes,  gesagt  wird  über  das  rein 
praktische  „Annehmen  und  Voraussetzen“  übersinnlicher  Wesen  z.  B. 
Gottes  nach  einer  Analogie,  „aber  nur  in  praktischer  Absicht“.) 
An  einer  anderen  Stelle  (S.  166  in  dem  Abschnitt:  „Wie  eine  Erweite- 
rung der  Vernunft“  usw.)  heißt  es:  dem  Begriffe  des  Objekts  eines 
moralisch  bestimmten  Willens  (den  des  höchsten  Guts)  und  mit  ihm 
den  Bedingungen  seiner  Möglichkeit,  den  Ideen  von  Gott,  Freiheit  und 
Unsterblichkeit,  wird  Realität,  aber  immer  nur  in  Beziehung  auf  die 
Ausübung  des  moralischen  Gesetzes  (zu  keinem  spekulativen  Behuf) 
gegeben;  d.  h.  der  moralisch  Handelnde  betrachtet  sich  und  fühlt  sich, 
als  ob  er  Glied  einer  solchen  übersinnlichen  Welt  wäre. 


296 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigongen. 


Schluß  der  Vorrede  heißt  es  deutlich,  daß  Kant  im' 
Folgenden  „das  Verhältnis  des  guten  und  bösen  Prinzips, 
gleich  als  zweier  für  sich  bestehender,  wirkender  Ur- 
sachen vors  teile“  — wie  dies  gemeint  ist,  wird  bald 
noch  deutlicher  werden. 

Im  ersten  Stück  kommt  bald  nach  dem  Anfang 
(S.  22)  eine  ähnliche  Wendung,  jedoch  wenig  bestimmt. 
Bestimmter  ist  die  Stelle  S.  45:  „Eine  jede  böse  Hand- 
lung muß,  wenn  man  den  Vernunftsursprung  derselben 
sucht,  so  betrachtet  werden,  als  ob  der  Mensch 
unmittelbar  aus  dem  Stande  der  Unschuld  in  sie  geraten 
wäre“  — also  eine  Variation  der  Freiheitsfiktion. 

Das  zweite  Stück  bringt  bald  nach  dem  Beginn 
(S.  66)  eine  sehr  charakteristische  Apologie  des  Teufels 
und  der  Hölle  — als  Fiktionen.  „Es  darf  also  nicht 
befremden,  wenn  ein  Apostel  [den  bösen  Trieb  in  uns] 
diesen  unsichtbaren,  nur  durch  seine  Wirkungen  auf  uns 
kennbaren,  die  Grundsätze  verderbenden  Feind  als  außer 
uns  und  zwar  als  bösen  Geist  vorstellig  macht  ... 
ein  Ausdruck,  der  nicht,  um  unsere  Erkenntnis  über  die 
Sinnenwelt  hinaus  zu  erweitern,  sondern  nur,  um  den 
Begriff  des  für  uns  Unergründlichen  für  den  prak- 
tischen Gebrauch  anschaulich  zu  machen, an- 
gelegt zu  sein  scheint“  — wobei  also  Kant  aadeutet, 
der  betreffende  Apostel  habe  absichtlich  und  bewußt 
diese  fiktive  Veranschaulichung  gemacht.  Dann  heißt 
es:  „Es  ist  eine  Eigentümlichkeit  der  christlichen  Moral, 
das  Sittlich-Gute  vom  Sittlich-Bösen  nicht  wie  den  Him- 
mel von  der  Erde,  sondern  wie  den  Himmel  von  der 
Hölle  miterschieden  vorzustellen:  eine  Vorstel- 
lung, die  zwar  bildlich,  und  als  solche  empörend,  nichts- 
destoweniger aber  ihrem  Sinn  nach  philosophisch  rich- 
tig ist.  Sie  dient  nämlich  dazu“  usw.  — also  Hölle 
und  Teufel  sind  zweckmäßige  Fiktionen,  welche 
als  religiöse  Ausdrucksweisen  Kants  volle  Billigung  fin- 
den; dem  Teufel  oder  dem  „bösen  Geist“  steht  gegenüber 
(S.  68),  „die  personifizierte  Idee  des  guten  Prin- 
zips“ — d.  h.  „das  Ideal  der  moralischen  Vollkommen- 
heit“, „das  Urbild  der  sittlichen  Gesinnung“,  natürlich 
ebenfalls  als  eine  zweckmäßige  Fiktion.  Von  diesem  fik- 
tiven Urbild  „kann  man  sagen:  es  ist  vom  Himmel  zu 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Gmndwerken.  297 


uns  herabgekommen“  1) ; „Sohn  Gottes“  ist  also  eine 
zweckmäßige  religiöse  Fiktion.  Auch  „kann  die  Vereini- 
gung mit  uns  als  ein  Stand  der  Erniedrigung  des  Sohnes 
Gottes  angesehen  werden“;  auch  ist  es  ganz  richtig, 
wenn  man  dieses  Ideal  der  moralischen  Gesinnung  mit 
„Hindernissen  ringend  und  unter  den  größtmöglichen  An- 
fechtungen dennoch  überwindend  sich  vorstellt“  — 
also  ein  ganzes  sich  auftürmendes  Gebäude  zweckmäßiger 
religiöser  Fiktionen. 

„Im  praktischen  Glauben  an  diesen  Sohn  Gottes  (so- 
fern er  vorgestellt  wird,  als  habe  er  die  menschliche 
Natur  angenommen)  kann  nun  der  Mensch  hoffen,  Gott 
(der  natürlich  nur  eine  Fiktion  bleibt)  wohlgefällig  zu 
werden“;  der  „praktische  Glaube“  besteht  eben  nur  in 
der  Anerkennung  dieser  Idee  als  einer  nützlichen  reli- 
giösen Vorstellung  und  in  der  „Verähnlichung“  an  jenes 
„Urbild  der  Menschheit“.  In  diesem  Sinne  heißt  es  dann 
S.  71 : „Und  der  Glaube  an  die  praktische  Gül- 
tigkeit jener  Idee,  die  in  unserer  Vernunft  liegt, 

. . . hat  moralischen  Wert“.  Obgleich  nun  „das  Urbild 
eines  solchen  wahrhaft  göttlich  gesinnten  Menschen“ 
„doch  nirgends  anders,  als  in  unserer  Vernunft  zu  suchen 
ist“  (71),  so  hat  doch  „diese  Idee  ihre  Realität  in 
praktischer  Beziehung  vollständig  in  sich  selbst“ 
(70);  ja  der  ganze  Abschnitt,  aus  welchem  die  letzten 
Zitate  entnommen  sind,  hat  die  bezeichnende  Überschrift : 
„Objektive  Realität  dieser  Idee“.  Dies  ist  nun 
äußerst  wichtig  für  uns:  also  „objektive  Realität“ bedeutet 
für  eine  „Idee“  schlechterdings  nicht  so  viel  als  „Reali- 
tät der  Existenz“,  sondern  „Realität  der  Gültigkeit“. 
Dies  wirft  nun  rückwärts  ein  sehr  auffallendes  Licht  auf 
diejenigen  Stellen,  in  denen  schon  früher  von  der  „objek- 
tiven Realität“  der  Ideen  von  Gott  und  Unsterblichkeit, 

Vgl.  dazu  die  Wendung  ib.  S.  74;  „dieser  göttlich  gesinnte, 
aber  ganz  eigentlich  menschliche  Lehrer  würde  . . . von  sich,  a I s o b 
das  Ideal  des  Guten  in  ihm  leibhaftig  . . . dargestellt  würde,  mit 
Wahrheit  reden  können“.  Man  beachte  hier  die  Wendung:  „mit 
Wahrheit“;  natürlich  ist  „Wahrheit“  hier  nicht  im  theoretischen,  son- 
dern im  praktischen  Sinn  gemeint,  und  diese  letztere  nennt  Kant  miehr- 
fach  ebenfalls  „Erkenntnis“.  Es  gibt  also  eine  „doppelte 
Wahrheit“  für  Kant,  eine  wissenschaftliche  und  eine 
moralisch-praktische. 


298 


Dritter  Teil;  Historische  Bestätigungen 


sowie  der  Freiheit  die  Rede  war.  Könnte  man  jemals  dar- 
über schwanken,  was  „objektive  Realität“  von  Ideen  be- 
deute — hier  ist  kein  Zweifel  mehr  darüber  möglich : der 
Ausdruck  bedeutet  nicht  Unbedingtheit  der  Existenz, 
sondern  Unbedingtheit  des  Wertes. 

Eine  Anmerkung  zu  dem  genannten  Abschnitt  ist  eben- 
falls von  hohem  Wert  für  uns  (S.  73 ff.);  daß  wir  jene 
Ideen  „hypostasieren“  (S.  72)  und  „auf  menschliche 
Weise  vorstellig  machen“  müssen,  ist  eine  „Beschränkt- 
heit der  menschlichen  Vernunft“,  welche  uns  nötigt, 
„geistig-moralische  übersinnliche  Beschaffenheiten“  uns 
durch  „Analogie  mit  Naturdingen  faßlich  zu  machen“, 
„ob  zwar  eben  nicht  behauptet  werden  soll,  daß  es  ai; 
sich  dlTj^eiav)  auch  so  bewandt  sei“.  Jenes  ist  eben 
„der  Schematismus  derAnalogie  (der  Erläuterung), 
den  wir  nicht  entbehren  können.  Diesen  aber  in  einen 
Schematismus  der  Objektbestimmung  (zur  Er- 
weiterung unseres  Erkenntnisses)  zu  verwandeln,  ist  An- 
thropomorphismus, der  in  moralischer  Absicht  (in 
der  Religion)  von  den  nachteiligsten  Folgen  ist“.  AIsOi  die 
religiösen  Fiktionen  dürfen  nicht  in  Dogmen  verwandelt 
werden,  aus  dem  Als -ob  darf  nicht  ein  Daß  und  Weil 
gemacht  werden.  So  „nützlich“  jene  Vors tellungs weisen 
als  Fiktionen  sind,  so  „nachteilig  sind  sie  als  Dogmen.  Es 
ist  verkehrt,  jenes  ganze  Vorstellungsgebäude  dXrji^ecav 
d.h.  als  objektiv  und  theoretisch  waJir  zu  nehmen:  es  ist 
ein  Luftschloß,  eine  Fata  Morgana,  aber  eine  notwendige 
und  zweckmäßige  Vors  tellungs-  und  Ausdrucks  weise,  und 
diese  hat  in  diesem  Sinne  subjektiv-praktische  Wahr- 
heit“. 

Wer  nun  die  „Religion  i.  d.  Gr.  d.  bl.  V.“  weiter  ver- 
folgt, stößt  im  Schlußabschnitt  des  zweiten  Stückes  (S.  93) 
auf  eine  sehr  interessante  Anmerkung:  „Eine  vom  an- 
geborenen Hange  zum  Bösen  freie  Person  so  als  möglich 
sich  zu  denken,  daß  man  sie  von  einer  jungfräulichen 
Mutter  gebären  läßt,  ist  eine  Idee  der  sich  zu  einem 
schwer  zu  erklärenden  und  doch  auch  nicht  abzuleugnen- 
den, gleichsam  moralischen  Instinkt  bequemenden 
Vernunft“.  Kant  erläutert  nun  die  Berechtigung  und 
„Angemessenheit“  der  ,,Idee  einer  von  keiner  Geschlechts- 
gemeinschaft abhängigen  (jungfräulichen)  Geburt  eines 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grundwerken.  299 

mit  keinem  moralischen  Fehler  behafteten  Kindes“.  Selbst 
die  naturwissenschaftlichen  Schwierigkeiten  dieser  Idee 
diskutiert  Kant  in  diesem  Sinne,  schließt  aber  diese  Dis- 
kussion mit  den  bezeichnenden  Worten:  „Wozu  aber 
alle  diese  Theorie,  dafür  oder  dawider,  wenn  es  für  das 
Praktische  genug  ist,  jene  Idee  als  Symbol  der  sich 
selbst  über  die  Versuchung  zum  Bösen  erhebenden 
(diesem  siegreich  widerstehenden)  Menschheit  uns  zum 
Muster  vorzustellen?“  Also  auch  „die  Idee“  der  jung- 
fräulichen Zeugung  eine  zweckmäßige,  religiöse  Fiktion, 
ein  schöner,  sinnreicher  und  nützlicher  Mythus! 

So  wird  auch  daselbst  im  allgemeinen  gebilligt,  daß 
der  Kam.pf  des  guten  Prinzips  mit  dem  bösen  Prinzip 
im  Menschen  „in  der  Form  einer  Geschichte  vorgetragen 
wird,  da  zwei  wie  Himmel  und  Hölle  einander  entgegen- 
gesetzte Prinzipien  im'  Menschen  als  Personen  außer  ihm 
vor  gestellt  werden“  (S.  91);  „das  böse  Prinzip  wird 
der  Fürst  dieser  Welt  genannt“,  „physische  Leiden  usw. 
werden  als  Verfolgungen  des  bösen  Prinzips  vor  ge- 
stellt“ (S.  97).  „Man  sieht  leicht,  daß,  wenn  man  diese 
lebhafte,  und  wahrscheinlich  für  ihre  Zeit  auch  einzige 
populäre  Vorstellungsart  von  ihrer  mystischen 
Hülle  entkleidet,  sie  (ihr  Geist  und  Vernunftsinn)  für 
alle  Welt,  zu  aller  Zeit  praktisch  gültig  und  ver- 
bindlich gewesen“  (S.  97).  „Unter  solchen  Umständen 
kann  es  nichts  fruchten,  jene  Erzählungen  . . . jetzt  zu 
bestreiten,  wenn  die  wahre  Religion  (die  kritische  Reli- 
gion des  Rechttuns)  einmal  da  ist  ...  die  zu  ihrer  Zeit 
durch  solche  Hilfsmittel  introduziert  zu  werden 
bedurfte“  (S.  99);  „ja  wir  können  auch  die  Hülle  noch 
ehren,  welche  gedient  hat,  eine  Lehre  ...  in  Gang  zu 
bringen“  (ib.).  Also  jene  religiösen  Fiktionen  können 
sämtlich  für  das  Volk  — nicht  in  dem  gewöhnlichen 
etwas  verächtlichen  Sinn,  sondern  für  das  Volk  im 
Sinne  der  VoU^sgemeinschaft  — auch  fernerhin  bei- 
behalten werden. 

Freilich  muß  sich  „der  vernünftige  Geistliche  wohl 
hüten“,  nun  jene  religiösen  Fiktionen  zu  weit  zu  treiben, 
und  insbesondere  wird  und  muß  er  sich  hüten,  mit 
Wundergeschichten  „den  Kopf  der  seiner  Seelsorge  An- 
befohlenen anzufüllen  und  ihre  Einbildungskraft  zu  ver- 


300 


Dritter  Teil : Historische  Bestätigungen. 


wildern“  (S.  102).  Vernünftige  „Leute  in  Geschäften“  „ge- 
brauchen Wunder  nur  als  Phrasen“;  „so  sagt  der  Arzt: 
dem  Kranken  ist,  wenn  nicht  etwa  ein  Wunder  geschieht, 
nicht  zu  helfen,  d.  i.  er  stirbt  gewiß-“.  „Weise  Regie- 
rungen haben  daher  jederzeit  zwar  eingeräumt,  ja  wohl 
gar  unter  die  öffentlichen  Religionslehren  die  Meinung 
gesetzlich  auf  genommen,  daß  vor  Alters  Wunder  ge- 
geschehen  wären,  neue  Wunder  aber  nicht  erlaubt“, 
d.  h.  der  Staat  hat  die  Vorstellung  von  Wundem  als 
eine  zweckmäßige  religiöse  Fiktion  gestattet, 
verbietet  aber,  aus  dieser  Vorstellung  Konsequenzen  zu 
ziehen,  welche  in  das  bürgerliche  Leben  eingreifen. 

Auch  im  dritten  Stück  finden  wir  viele  für  unser 
Thema  bedeutsame  Stellen;  in  ihm  wird  die  Idee  des 
Reiches  Gottes  eingeführt,  das  „auch  ein  Reich  der 
Tugend  (des  guten  Prinzips)  genannt  werden  kann,  wovon 
die  Idee  in  der  menschlichen  Vernunft  ihre  ganz  wohl- 
begründete objektive  Realität  hat  (als  Pflicht,  sich  zu 
einem  solchen  Staate  zu  einigen“)  (S.  111).  Diese  Stelle 
ist  für  uns  ganz  besonders  wichtig:  Diese  Idee  hat  wie 
alle  derartigen  Ideen,  „ihre  ganz  wohlbegründete  objek- 
tive Realität“.  Aber  wo?  „In  der  menschlichen 
Vernunft.“  Und  wie?  „Als  Pflicht,  sich  zu  einem  solchen 
Staat  zu  einigen.“  Hier  ist  der  Ausdruck  „objektive 
Realität“,  der  ja  auch  auf  die  Gottes idee,  auf  die  Un- 
sterblichkeitsidee angewendet  v/ird,  mit  wünschenswerte- 
ster Klarheit  erläutert.  Mit  einer  theoretisch  konstatier- 
baren oder  annehmbaren  Außenexistenz  hat  diese  „objek- 
tive Realität“  nicht  das  Mindeste  zu  tun,  für  die  Ideen  be- 
steht ihre  „objektive  Realität“  in  ihrer  Innenexistenz  in 
der  menschlichen  Vernunft  als  praktische,  ethische  Nor- 
men, Werte,  Ideale,  Fiktionen.  Diese  Stelle  ist  für  die 
ganze  Ideenlehre  klassisch. 

Die  Überschrift  der  1.  Abteilung  lautet  in  diesem 
Sinne:  „Philosophische  Vorstellung  des  Sieges  des 
guten  Prinzips  unter  Gründung  eines  Reiches  Gottes 
auf  Erden“.  Der  Gegensatz  dazu  ist  die  Idee  „des  ethi- 
schen Naturstandes“,  gewisseimaßen  das  Reich  des  Teu- 
fels auf  Erden,  wo  die  Menschen  betrachtet  werden, 
„gleich  als  ob  sie  Werkzeuge  des  Bösen  wären“  (S.  114), 
In  jenem  Reich  werden  „alle  Gesetze  als  Gebote  eines 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grund  werken.  301 

gemeinschaftlichen  Gesetzgebers  angesehen  (S.  116), 
sie  werden  so  „gedacht“,  so  „vorgestellt“  (S.  117). 
„Einem  solchen  Volke  Gottes  kann  man  die  Idee  einer 
Rotte  des  bösen  Prinzips  entgegensetzen,  . . . wiewohl 
auch  hier  das  die  Tugendgesinnungen  anfechtende  Prin- 
zip gleichfalls  in  uns  selbst  liegt  und  nur  bildlich 
als  äußere  Macht  vorgestellt  wird“  (S.  119).  Die  Idee 
des  Volkes  oder  Reiches  Gottes  wird  dann  zur  „unsicht- 
baren Kirche“  — „eine  bloße  Idee  von  der  Vereini- 
gung aller  Rechtschaffenen  unter  der  göttlichen  . . . Welt- 
regierung“ (S.  119).  „Sie  würde  auch  am  besten  mit 
der  einer  Familie  unter  einem  . . . moralischen  Vater 
verglichen  werden  können“  (S.  121).  Und  nun  kommt 
jene  berühmte,  aber  bis  jetzt  so  wenig  verstandene  Defi- 
nition der  Religion:  „Alle  Religion  besteht  darin,  daß 
wir  Gott  (eine  bloße  Idee!)  für  alle  unsere  Pflichten  als 
den  allgemein  zu  verehrenden  Gesetzgeber  ans  eben“ 
(S.  122)  — der  Ton  liegt  und  ist  zu  legen  auf  ans  eben: 
wir  sehen  es  so  an,  als  ob  es  einen  Gott  gäbe,*  und  als 
ob  dieser  Gott  die  Moralgesetze  uns  geboten  hätte  — in 
dieser  zweifachen  Fiktion  liegt  das  Wesen  der  religiösen 
Betrachtungsweise  „Die  Erfüllung  aller  Menschenpflichten 
als  göttlicher  Gebote  macht  das  Wesentliche  aller  Reli- 
gionen aus“  (S.  130).  Das  hat  einen  Doppelsinn : A)  Alle 
historischen,  empirischen  Religionen  bestehen  darin,  daß 
unsere  Menschenpflichten  von  den  Völkern  in  allem 
Ernste  als  Gebote  höherer  Wesen  aufgefaßt  und  ausgelegt 
worden  sind,  d.  h.  sie  nehmen  an,  daß  sich  das  so  ver- 
halte; B)  Die  reine  Vernunftreligion  besteht  darin,  daß 
der  Mensch  seine  Pflichten  so  ernst  nimmt,  als  ob  sie 
ihm  von  einem  höheren  Wesen  auferlegt  wären. 

Der  Zustand  A ist  ein  noch  unentwickelter.  „Die 
Hüllen,  unter  welchen  der  Embryo  sich  zuerst  zum  Men- 
schen bildet,  müssen  abgelegt  werden,  wenn  er  nun 
an  das  Tageslicht  treten  soll“,  sagt  Kant  ib.  S.  144.  „Das 
Leitband  der  heiligen  Überlieferung,  mit  seinen  Anhäng- 
seln, den  Statuten  und  Observanzen,  welches  zu  seiner 
Zeit  gute  Dienste  tat,  wird  nach  und  nach  entbehrlich, 
ja  endlich  zur  Fessel,  wenn  er  in  das  Jünglingsalter  ein- 
tritt.“  So  lange  er  (die  Menschengattung)  ein  Kind  war, 
war  er  klug  als  ein  Kind,  ...  nun  er  aber  ein  Mann  wird, 


H()2  Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 

legt  er  ab,  was  kindisch  ist“  — mit  diesem  Zitat 
scliließt  Kant  diese  bemerkenswerte  Stelle  (S.  144).  Ist 
der  Mensch  in  das  denkende  Mannesalter  eingetreten,  so 
verwandelt  er  das  Daß  der  Dogmen  in  das  Als  ob  der 
fiktiven  Auffassung. 

Die  2.  Abteilung  desselben  3.  Stückes  (S.  148 — 176) 
bietet  nur  weniges  zur  Bestätigung.  Auferstehung  und 
Himmelfahrt  werden  als  „Vernunftideen“  S.  153)  be- 
trachtet, d.  h.  es  wird  ihnen  ein  moralischer  Sinn  unter- 
gelegt, ebenso  wird  die  Wiederkunft  des  Auferstandenen 
in  sein  Reich  als  „symbolische  Vorstellung  ausgelegt“ 
(S.  160);  auch  der  Chiliasmus  ist  ein  „schönes  Ideal“  und 
kann  nebst  den  damit  zusammenhängenden  Vorstellungen 
apokalyptischer  Natur  „vor  der  Vernunft  seine  gute  sym- 
bolische Bedeutung  annehmen“;  wenn  man  diesen  Sym- 
bolen nur  „den  intellektuellen  Sinn  unterlegt“,  sind  sie 
als  Hüllen“  und  „Vehikel  immer  nützlich“  (S.  162),  — 
also  auch  dies  sind  nützliche  religiöse  Fiktionen;  sie  als 
Dogmen -zu  nehmen,  v/äre  dagegen  „schädlicher  Anthro- 
pomorphismus“ (S.  169);  selbst  die  Vorstellung  der  Drei- 
einigkeit wird,  wenn  moralisch  „gereinigt“  (S.  169),  noch 
als  „praktische  Idee“  anerkannt  (S.  170),  als  „kein  un- 
schicklicher Ausdruck“;  Berufung,  Genugtuung,  Erwäh- 
lung werden,  ebenfalls  im  moralischen  Sinne  „als  prak- 
tisch notwendige  Religionsidee“  (S.  174)  anerkannt.  Ein- 
facher als  diese  komplizierten  religiösen  Fiktionen  ist  die 
religiöse  Grund-  und  Ur-Fiktion:  „wir  müssen  uns  be- 
ständig prüfen,  als  zur  Rechenschaft  vor  einen  Richter 
gefordert“  (S.  173). 


Eine  sehr  konsequente,  kühne  und  offene  Darstel- 
lung der  Als-Ob-Lehre  findet  sich  in  der  Schrift: 
Über  die  Fortschritte  der  Metaphysik.  Kant 
hat  bekanntlich  diese  Schrift  entworfen  als  Antwort  auf 
die  von  der  Berliner  Akademie  auf  das  Jahr  1791  aus- 
gesetzte Preisfrage.  Kant  hat  sie  selbst  nicht  publiziert, 
und  diesem  Umstand  verdanken  wir  vielleicht  gerade  die 
offene,  kühne  Sprache  dieser  bis  jetzt  nicht  genügend 
beachteten  Schrift.  In  dem  Abschnitt  „der  Metaphysik 
drittes  Stadium“  (S.  137)  knüpft  Kant  direkt  an  die 


Prinzip.  Ausftihr.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grundwerken.  803 

Kr.  d.  U.  an;  er  sagt  von  dem  Begriff  der  Zweckmäßig- 
keit, daß  er  nicht  das  betreffe,  was  in  dem  Objekt  ist, 
sondern  was  wii"  in  dasselbe  legen,  daß  wir  also  diesen 
Begriff  „nur  vernünftelnd  hineintragen“,  oder  „binein- 
legen“;  „der  Begriff  des  Zweckes  ist  jederzeit  von  uns 
selbst  gemacht“.  Im  Zusammenhang  mit  dem  Begriff  der 
Zweckmäßigkeit  steht  der  (ebenfalls  von  uns  „gemachte“) 
Begriff  des  Endzweckes  überhaupt,  der  Begriff  des  höch- 
sten Gutes,  und  im  Zusammenhang  mit  diesem  Begriff 
stehen  nun  andere  „gemachte  Begriffe“  — Freiheit,  Gott 
und  Unsterblichkeit  (oder  „das  Übersinnliche  in  uns, 
über  uns  und  nach  uns“).  Im  weiteren  Verfolg  der 
Abhandlung  (in  der  „Auflösung  der  akademischen  Auf- 
gabe“) heißt  es  dann,  daß  wir  „das  übersinnliche  Ding 
nicht  nach  dem*,  was  es  an  sich  ist,  zu  untersuchen 
haben,  sondern  nur,  wie  wir  es  zu  denken  und  seine 
Beschaffenheit  anzunehmen  haben,  um  den  . . . End- 
zweck, v/elcher  das  höchste  Gut  ist,  für  uns  selbst 
angemessen  zu  sein“  (S.  141).  Wir  stellen  nicht  Nach- 
forschungen über  die  Natur  der  Dinge  an,  „die  wir  uns, 
und  zwar  nur  zum  notwendigen  praktischen  Behuf, 
selbst  machen,  und  die  vielleicht  außer  unse- 
rer Idee  gar  nicht  existieren,  vielleicht  nicht 
sein  können“.  In  diesem  Zusammenhang  rechtfertigt 
auch  Kant  ausführlich  den  Terminus  „Glauben“  für  der- 
artige Annahmen  zu  praktischem  Behuf.  „Der  Beweis- 
grund der  Richtigkeit  dieses  Glaubens  ist  kein  Beweis- 
grund von  der  Wahrheit  dieser  Sätze,  als  theoretischer 
betrachtet,  mithin  keine  objektive  Belehrung  von  der 
Wirklichkeit  der  Gegenstände  derselben,  denn  die  ist  in 
Ansehung  des  Übersinnlichen  unmöglich,  sondern  nur 
eine  subjektiv-  und  zwar  praktisch-gültige,  und  in  dieser 
Absicht  hinreichende  Belehrung,  so  zu  handeln,  als  ob 
wir  wüßten,  daß  diese  Gegenstände  wirklich  wären“ 
(S.143).  Es  handelt  sich  dabei  nur  darum,  „um  dem,  wozu 
wir  schon  von  selbst  verbunden  sind,  nämlich  der  Be- 
förderung des  höchsten  Gutes  in  der  Welt  nachzustreben, 
noch  ein  Ergänzungsstück  zur  Theorie  der  Möglichkeit 
desselben,  ebenfalls  durch  bloße  Vernunftideen 
hinzuzufügen,  indem  wir  uns  jene  Objekte,  Gott,  Freiheit 
in  praktischer  Qualität  und  Unsterblichkeit,  nur  der 


3Ü4 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Forderung  der  moralischen  Gesetze  an  uns  zufolge, 
selbst  machen  und  ihnen  objektive  Realität 
freiwillig  geben“.  Und  weiterhin  S.  144:  „In  praJc- 
tischer  Rücksicht  machen  wir  uns  diese  Gegen- 
stände selbst,  so  wie  wir  die  Idee  derselben  dem 
Endzwecke  unserer  reinen  Vernunft  behilflich^)  zu 
sein  urteilen;  welcher  Endzweck,  weil  er  moralisch  not- 
wendig ist,  dann  freilich  wohl  die  Täuschung  bewirken 
kann,  das,  was  in  subjektiver  Beziehung,  nämlich  für  den 
Gebrauch  der  Menschen  Realität  hat  (weil  es  in  Hand- 
lungen, die  dieser  ihrem  Gesetze  gemäß  sind,  der  Er^ 
fahrung  dargelegt  worden),  für  Erkenntnis  der  Existenz 
des  dieser  Form  gemäßen  Objektes  zu  halten“.^)  Aber 
in  Wahrheit  sind  „jene  Ideen  von  uns  willkürlich  ge- 
macht“ (S.  145).  Also  der  moralische  Gottesbeweis  ist 
ein  Argument  „der  Vernunftmäßigkeit,  ein  solches 
[Wesen]  anzunehmen,  wo  dann  der  Mensch  befugt 
ist,  einer  Idee,  die  er  moralischen  Prinzipien  gemäß 
sich  selbst  macht,  gleich  als  ob  er  sie  von  einem 
gegebenen  Gegenstand  hergenommen,  auf  seine  Ent- 
schließungen Einfloß  zu  gestatten“  (S.  151).  Diese  Ideen 
dienen  dazu,  „um  den  Wandel  des  Menschen  hier  auf 
Erden  gleichsam  als  einen  Wandel  im  Himmel  vorzu- 
stellen“, d.  h.  man  kann  und  soll  die  Welt  nach  der 
Anal  Ogi  e3)  mit  der  physischen  Teleologie  [also  in 
der  Art  einer  „moralischen  Teleologie“]  annehmen“;  theo- 
retisch genommen  ist  dies  „nicht,  wie  es  die  Leibniz- 
Wolfsche  Philosophie  vermeint,  ein  haltbarer,  sondern 
überschwänglicher,  in  praktisch-dogmatischer  Rücksicht 
aber  ein  reeller,  und  durch  die  praktische  Vernunft 
für  unsere  l^flicht  sanktionierter  Begriff“  (S.  154).  Aber 
diese  „praktische  Realität“  darf  nicht  von  unkritischen 


1)  d.  h.  die  betreffenden  Vorstellungen  sind  bloße  Hilfsvorstel- 
lungen. 

2)  d.  h.  die  nützliche  Fiktion  verwandelt  sich  bei  der  labilen 
Beschaffenheit  jener  fiktiven  Annahmen  leicht  in  ein  Dogma. 

Dieses  Denken  nach  der  Analogie  oder  das  Symbolisieren  er- 
örtert Kant  in  derselben  Schrift  bald  nach  dem  Anfang  in  einem 
eigenen  kleinen  Abschnitt:  „Von  der  Art,  den  reinen  Verstandes-  und 
Vernunftbegriffen  objektive  Realität  zu  verschaffen“  (S.  120),  wo  er 
den  Schematismus  der  Kategorien  und  den  Symbolismus  der  Ideen  ein- 
ander gegenüberstellt;  letztere  bezeichnet  er  als  eine  „Nothilfe“. 


Prinzip.  Ausfuhr,  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Gnmdwerken  305 


Lesern  der  kritischen  Philosophie  mißverstanden  und 
wieder  theoretisch-dogmatisch  gewendet,  d.  h.  die  Fik- 
tion darf  nicht  in  ein  Dogma  verwandelt  werden.  Kant 
wiederholt  nochmals  ausdiiicklich  und  scharf:  „Es  zeigt 
sich  eine  gewisse  Organisation  der  praktischen  Vernunft, 
wo  erstlich  das  Subjekt  der  allgemeinen  Gesetzgebung, 
als  Welturheber,  zweitens  das  Objekt  des  Willens  der 
Weltwesen,  als  ihres  jenem  gemäßen  Endzweckes,  drit- 
tens der  Zustand  der  letzteren,  in  welchem  sie  allein 
der  Erreichung  desselben  fähig  sind  [Gott,  Freiheit  und 
Unsterblichkeit]  — in  praktischer  Absicht  selbst- 
gemachte Ideen  sind“  (S.  156).  Also  jene  Begriffe  sind 
und  bleiben  — selbstgemachte  Ideen. 

Damit  wird  nun  auch  der  unermeßliche  Unterschied 
klar,  welcher  zwischen  der  Kantischen  Rechtfertigung 
der  religiösen  Ideen  besteht,  und  aller  vor-  und  nach- 
kantischen.  Die  Kantische  Rechtfertigung  der  religiösen 
Vorstellungen  ist  eine  rein  fiktive,  oder  vielleicht  klarer 
gesagt,  fiktionalistische:  sie  sind  ihm'  praktisch 
zweckmäßige  Fiktionen;  dagegen  ajle  vor-  und  nach- 
kantische  Rechtfertigung  der  religiösen  Begriffe  rmd  Ur- 
teile ist  eine  rationalistische;  sie  sind  rational  be- 
gründete Hypothesen.  Nur  eine  Abart  dieses  Ratio- 
nalismus ist  der  Kantianismus  vulgaris,  nach  welchem 
Kant  die  religiösen  Hauptideen  auf  Grund  der  mora- 
lischen Tatsachen  rechtfertigen  soll,  denn  nach  der  seit 
Reinhold  üblich  gewordenen  Darstellung  jenes  Vulgär- 
Kantianismus  zieht  man  ja  aus  den  moralischen  Phä- 
nomenen theoretische  Konsequenzen  auf  die  Existenz 
Gottes  usw.,  macht  also  wieder  nur  Hypothesen:  der 
echte  und  eigentliche  Kantische  Kritizismus  zieht  über- 
haupt keine  theoretischen  Schlüsse,  sondern  lehrt: 
du  mußt  so  handeln,  als  ob  es  einen  Gott  usw. 
gäbe.  Darin  besteht  Kants  kritischer  Pragmatismus.  — 

Eine  sehr  wichtige  Stelle  zur  Erläuterung  dessen,  was 
Kant  meint,  enthält  die  Abhandlung:  „Von  einem 
neuerdings  erhobenen  vornehmen  Ton  in  der 
Philosophie“  (1796).  Da  wird  in  einer  sehr  aus- 
führlichen Anmerkung  der  Ausdruck  Glauben  erläutert: 
„Glaube“  bedeutet  theoretisch  genommen  „etwas 
für  wahrscheinlich  halten“,  und  ist  „ein  Mittelding 

Vaihinger,  Philosophie  20 


BOfi  Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 

zwischen  Meinen  und  Wissen“.  In  bezug  auf  empirische 
Dinge  und  Zeugnisse  gibt  es  ein  solches  theoretisches 
Glauben,  aber  in  bezug  auf  Übersinnliches  gibt  es  über- 
haupt kein  Urteil,  also  auch  kein  Wahrscheinlichkeits- 
urteil : „also  gibt  es  keinen  theoretischen  Glauben  an  das 
Übersinnliche“. 

„In  praktischer  (moralisch-praktischer)  Bedeutung  aber 
ist  ein  Glauben  an  das  Übersinnliche  nicht  allein 
möglich,  sondern  er  ist  sogar  mit  dieser  unzertrennlich 
verbunden.“  Denn  die  kategorisch  gebietende  „Stimme 
der  Moralität  in  mir“  verlangt  von  uns  Mitwirkung  zur 
B ealisierung  des  unbedingten  Zweckes  des  höchsten  Gutes 
[das  freilich  nur  eine  Idee  ist];  und  dieses  höchste  Gut 
ist  wieder  nur  realisierbar  durch  die  „darauf  hinwirkende 
Macht  eines  Weltherrschers“  [der  freilich  wiederum  ja 
nur  eine  Idee  ist].  „An  ihn  aber  moralisch-praktisch 
glauben,  heißt  nicht  seine  Wirklichkeit  vorher  theo- 
retisch für  wahr  annehmen,  damit  man,  jenen  gebotenen 
Zweck  zu  verstehen,  Aufklärung,  und  ihn  zu  bewirken, 
Triebfedern  bekomme;  denn  dazu  ist  das  Gesetz  der 
Vernunft  schon  für  sich  objektiv  hinreichend;  sondern 
um  nach  dem  Ideal  jenes  Zweckes  so  zu  handeln, 
als  ob  eine  solche  Weltregierung  wirklich  wäre“; „jener 
Imperativ  gebietet  nicht  das  Glauben,  sondern  das  Han- 
deln“. Mit  anderen  Worten:  Im  Kantischen  Sinne,  im 
Sinne  der  kritischen  Philosophie,  heißt  der  Ausdruck 
„ich  glaube  an  Gott“,  nichts  anderes  als : „ich  handle  so, 
als  ob  es  einen  Gott  wirklich  gäbe“;  indem  der  Kan- 
tisch-  und  Kritisch-Denkende  sittlich  handelt,  handelt  er 
so,  als  ob  das  Gute  einen  unbedingten  Wert  in  der 
Welt  hätte,  derart,  daß  es  das  Entscheidende  in  der  Welt 
wäre ; und  das  Gute  wäre  das  Entscheidende  in  der 
Welt,  wenn  es  eine  Weltregierung  gäbe,  welche  das  Gute 
auch  zuletzt  zum  Siege  führen  würde.  Trotzdem  mir 
meine  theoretische  Vernunft  verbietet,  eine 
solche  moralische  Weltordnung  anzunehmen  — ein  sol- 
cher Begriff  ist  gänzlich  leer  — so  handle  ich  doch  so, 
als  ob  es  eine  solche  moralische  Weltordnung  geben 
würde,  da  mir  meine  praktische  Vernunft  ge» 
bietet,  das  Gute  unbedingt  zu  tun;  indem  ich  diesem 
Gebot  der  praktischen  Vernunft  folge,  handle  ich,  streng- 


Prinzip.  Auslühr.  i.  d.  ethisch-religion.ssophischen  Crrimdwerken.  307 

genommen,  theoretisch  unvernünftig  denn  meine  theo- 
retische Vernunft  sagt  mir,  daß  eine  solche  moralische 
Weltordnung  nur  ein  leerer,  wenn  auch  schöner  Begriff 
ist;  ’ aber  ich  finde  nun  einmal  in  mir  das  Gebot  der 
praktischen  Vernunft,  das  Gute  zu  tun,  und  dies  Gebot 
imponiert  mir  als  etwas  Erhabenes.^  Ich  handle  nach 
diesem  Gebot.  Aber  indem  ich  darnach  handle,  handle 
ich  gerade  so,  als  ob  ich  jene  theoretisch  als  unmöglich, 
ja  als  widerspruchsvoll  erkannte  Annahme  einer  mora- 
lischen Weltordnung  machen  würde;  nicht  in  dem  Sinne, 
daß  diese  mir  jenes  Gebot  gäbe;  bewahre:  daran  denkt 
meine  Seele  gar  nicht;  jenes  Gebot  gefällt  uns,  imponiert 
uns  um  seiner  selbst  willen,  jenes  Gebot  ist  eben  Inhalt 
meiner  praktischen  Vernunft;  also  dem  normal  sittlich 
angelegten  Menschen  ist  die  moralische  Weltordnung, 
resp.  der  moralische  Weltordner,  d.  h.  Gott  ganz  und  gar 
nicht  eine  Voraussetzung  für  seine  freiwillige  Unter- 
werfung unter  jenes  Sittengebot.  Aber  indem  jener  Kan- 
tische  Normalmensch  jenes  Sittengebot  ausführt,  handelt 
er  ja  gerade  so,  als  ob  diese  Ausführung  des  Sitten- 
gebotes gewissermaßen  nicht  bloß  eine  empirische  Folge 
in  der  Zeit,  in  der  Erscheinungswelt  hätte,  sondern  so, 
als  ob  jene  moralische  Handlung  in  eine  intelligible, 
übersinnliche  Welt  hineinreichte  und  einerseits  mitwirkte 
zur  Erreichung  eines  allgemeinen  ewigen  höchsten  Gutes 
überhaupt  und  andererseits  durch  eine  göttliche  Macht 
in  ein  System  der  Zwecke  selbst  zweckmäßig  eingefügt 
würde.  Das  unbedingt  sittlich-gute  Handeln  ist  seiner 
Natur  nach  immer  und  überall  so;  denn  sittlich  handeln 
heißt  eben,  entgegen  den  empirischen  Bedingungen  so 
handeln,  als  ob  das  Gute  einen  unbedingten  Wert  hätte, 
als  ob  es  die  Macht  hätte,  in  eine  überempirische  Welt 
hineinzureichen,  in  der  ein  oberster  Weltherrscher  für 
die  Harmonie  des  Guten  und  des  Bösen  sorgte.  In  diesem 
Sinne  ist  gutes  Handeln  identisch  mit  Glauben  an  Gott 
und  Unsterblichkeit.  In  diesem  Sinne  glaubt  also  auch  der 
sittlich  handelnde  theoretische  Atheist  an  Gott  undllnsterb- 
lichkeit  praktisch,  indem  er  eben  so  handelt,  als  ob  es 


1)  Hier  ist  die  philosophische  Wurzel  des  berühmten  theolo- 
gischen Satzes:  creclo^  quia  absurdum. 


408 


Dritter  Teil:  Historische  HesLätigungen. 


Gott  und  Unsterblichkeit  gäbe.  Jedes  sittliche  Handeln 
schließt  also  eben  damit  die  Fiktion  von  Go,tt  und  Unsterb- 
lichkeit in  sich  ein  — dies  ist  der  Sinn  des  praktischen  Ver- 
nunftglaubens an  Gott  und  Unsterblichkeit.  In  diesem 
Sinne  und  nur  in  diesem  Sinne  ist  auch  die  von  Kant 
aufgestellte  Schlußfolgerung:  „moralisch  ernstliche  und 
darum  gläubige  Bearbeitung  des  Guten“  zu  verstehen. 
Der  Moralisch -Gute  kann  zu  sich  und  seinesgleichen 
sagen:  „du  handelst  gut  und  darum  bist  auch  du  in 
deiner  Weise  gläubig;  denn  du  handelst  so,  als  ob 
es  einen  Gott  gäbe;  kürzer:  du  handelst  gut,  also 
glaubst  du“.  Dieses  Kantische  recte  agis,  ergo 
credis  — ist  dais  Grundaxiom  der  praktischen  Philo- 
sophie und  als  solches  das  Gegenstück  zu  dem  richtig 
verstandenen  Cartesianischen  Grundaxiom  der  theore- 
tischen Philosophie:  cogito,  ergo  sum. 

An  die  Fragen  des  öffentlichen  Rechts  knüpfen  sich 
am  zweckmäßigsten  die  Ausführungen  an,  welche  Kant  im 
I.  Teil  seiner  „Metaphysik  der  Sitten“,  in  der  „Rechts- 
lehre“ (1797)  gegeben  hat.  Eine  große  Rolle  spielt  so- 
gleich hier  am  Anfang,  speziell  in  dem  Abschnitt  über 
Privatrecht,  die  Idee,  welche  als  „die  ursprüngliche  Ge- 
meinschaft des  Bodens  überhaupt“  bezeichnet  wird  (§  6, 
Anm.,  § 10,  § 13).  Um  die  Möglichkeit  der  ursprünglichen 
d.  h.  ersten  Erwerbung  eines  Bodenstückes  der  Erde  ju- 
ristisch konstruieren  resp.  deduzieren  zu  können,  wird  von 
Kant  folgende  Fiktion  gemacht:  „alle  Menschen  sind  ur- 
sprünglich (d.  i.  vor  allem  rechtlichen  Akt  der  Willkür) 
im  rechtmäßigen  Besitz  des  Bodens,  d.  i.  sie  haben  ein 
Recht,  da  zu  sein,  wohin  sie  die  Natur  oder  der  Zufall . 
(ohne  ihren  Willen)  gesetzt  hat.  Der  Besitz  (possessio), 
der  vom  Sitz  (sedes)  als  einem  willkürlichen,  mithin  er- 
worbenen, dauernden  Besitz  unterschieden  ist,  ist  ein 
gemeinsamer  Besitz,  wegen  der  Einheit  aller  Plätze 
auf  der  Erdfläche  . . . Der  Besitz  aller  Menschen  auf 
Erden,  der  vor  allem  rechtlichen  Akt  derselben  vorhergeht 
(von  der  Natur  selbst  konstituiert  ist),  ist  ein  ursprüng- 
licher Gesamtbesitz  (communio  possessionis  origi- 
naria)  . . .,  ein  praktischer  Vernunftbegriff,  der  a priori  das 
Prinzip  enthält,  nach  welchem  allein  die  Menschen  den 
Platz  auf  Erden  nach  Rechtsgesetzen  gebrauchen  können“ 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischen  Grand  werken.  309 

(§  13).  Man  dürfe  nicht  etwa  sagen : der  Boden  sei  „von 
Natur  und  ursprünglich,  vor  allem  rechtlichen  Akt,  frei“ 
(§  6)>  „denn  auch  das  wäre  ein  Verhältnis  zu  Sachen, 
nämlich  dem  Boden,  der  jedermann  seinen  Besitz  ver- 
weigerte; . . . weil  diese  Freiheit  des  Bodens  ein  Verbot 
für  jedermann  sein  würde,  sich  desselben  zu  bedienen, 
wozu  ein  gemeinsamer  Besitz  desselben  erfordert  wird, 
der  ohne  Vertrag  nicht  stattfinden  kann.  Ein  Boden  aber, 
der  nur  durch  diesen  frei  sein  kann,  muß  wirklich  im 
Besitz  aller  derer  (zusammen  Verbundener)  sein,  die  sich 
wechselseitig  den  Gebrauch  desselben  untersagen  . . .“ 
(§  6).  Also  hier  wird  sogar  noch  die  Fiktion  eines  ur- 
sprünglichen Vertrages  eingeführt,  durch  den  der  ur- 
sprüngliche gemeinschaftliche  Besitz  des  Bodens  aus- 
gesprochen wird. 

Kant  fährt  dann  ebendaselbst  fort:  „diese  ursprüng- 
liche Gemeinschaft  des  Bodens  . . . (communio  fundi 
originaria)  ist  eine  Idee,  welche  objektive  (rechtlich- 
pralitische)  Realität  hat“  — also  die  uns  bekannten  Aus- 
drücke; „objektiv-praktisch-reale  Idee“,  welche  wir  durch 
die  gleichwertigen,  aber  deutlicheren  Ausdrücke:  zweck- 
mäßige Fiktion  ersetzen. 

Der  Idee  des  Naturzustandes  korrespondiert  nun  die 
Korrelatidee  des  ursprünglichen  Vertrags,  die  ja 
schon  Hobbes,  Spinoza,  Locke,  Rousseau  eben  auch  als 
bloße  Vemunftidee  aufgestellt  hatten  :i)  das  berühmte  pac- 
tmn  originarium,  von  welchem  Kant  im  § 52  (auch  schon 
§ 41,  A)  spricht.  Was  dem  „Geist  jenes  ursprünglichen 
Vertrags“  widerspricht,  was  mit  dieser  „Idee  nicht  wohl 
vereinbar  ist“,  ist  widerrechtlich  und  muß  abgeschafft 
werden. 

Mit  dieser  Vertragsfiktion  hängt  auch  die  Fiktion 
eines  allgemeinen  Willens  zusammen:  Kant  führt 
diesen  „allgemein- vereinigten  Willen“  (auch  „Volkswillen“ 
genannt)  ein  in  den  §§  34,  Anm.,  39,  41,  49  A,;  D,  51  u.  ö. 


1)  Wo,  wie  nicht  selten,  in  den  sekundären  Darstellungen  sich  eine 
andere  Darstellung  der  Vertragsidee  bei  den  Vorkantianern  findet,  be- 
ruht die  Darstellung  entweder  auf  irriger  Interpretation  der  betref- 
fenden Texte,  oder  auch  auf  Unklarheiten  jener  vorkantischen  Autoren, 
welche  gelegentlich  nicht  scharf  genug  zwischen  Fiktion  und  Hypothese 
unterschieden. 


810 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungeu. 


Die  Idee  dieses  allgemeinen  Willens  wird  in  folgendem 
Regulativ  (§49  D)  ausgedrückt:  „Was  das  Volk  (die 
ganze  Masse  der  Untertanen)  nicht  über  sich  selbst  und  seine 
Genossen  beschließen  kann,  das  kann  auch  der  Souverain 
nicht  über  das  Volk  beschließen“  =-=  „die  Idee  eines 
allgemein-gesetzgebenden  Willens“  (§  41). 

Auf  fiktiver  Grundlage  benüit  auch  der  Eid.  Über  ihn 
äußert  sich  Kant  im  § 40^  wozu  man  den  „Beschluß“ 
der  „Tugendlehre“  nach  § 53  hinzuziehen  muß  — die 
Athener  vertrieben  den  Prota^oras  als  Gotteszweifler : 
„hierin  taten  ihm  die  Richter  von  Athen  als  Menschen 
zwar  sehr  unrecht,  aber  als  Staatsbeamte  und  Richter  ver- 
fuhren sie  ganz  rechtlich  und  konsequent;  denn  wie  hätte 
man  einen  Eid  schwören  können,  wenn  es  nicht  öffent- 
lich und  gesetzlich,  von  hoher  Obrigkeit  wegen 
(de  par  le  Senat)  befohlen  wäre;  daß  es  Götter 
gebe“.  Der  Glaube  an  Götter,  an  Gott  ist  also  eine  offi- 
zielle Fiktion,  als  Grundlage  des  Eides,  ohne  welchen  die 
Justiz  nicht  auskommen  kann.  Es  ist  zwar  „an  sich“ 
„im  Grund  unrecht“,  die  Staatsbürger  zum  Eid  zu 
zwingen;  aber  „dieser  Geisteszwang,  diese  tortura  Spiri- 
tus“ ist  ein  unentbehrliches  „Notmittel“  für  die  Justiz, 
dem  sich  kein  Staatsbürger  entziehen  darf;  denn  „von  der 
Religion  muß  vorausgesetzt  werden,  daß  sie  jeder  habe“, 
d.h.  ein  jeder  muß  seine  Pflichten  für  so  heilig  ansehen, 
als  ob  sie  ihm  ein  Gott  befohlen  habe;  man  schwört  „auf 
den  Fall,  daß  ein  Gott  wäre“ : „in  diesem  Sinne  mögen 
wohl  alle  redlich  und  zugleich  mit  Besonnenheit  ab- 
gelegten Eide  getan  worden  sein“.  Bestimmter  hat  sich 
Kant,  in  seinem  Opus  Postumum  hierüber  ausgesprochen. 

Die  „Tugendlehre“  (1797),  der  II.  Teil  der  „Meta- 
physik der  Sitten“,  beginnt  (Einl.  II)  mit  der  Aufstellung 
des  fiktiven  ,„Ideals  des  Weisen“ : „Die  Tugend  wird  als 
ein  Ideal,  dem  man  stets  sich  annähern  müsse,  unter  dem 
Namen  des  Weisen  dichterisch  personifiziert“;  eine 
weitere  Ausgestaltung  dieser  Fiktion  folgt  dann  im  Ab- 
schnitt XIV : „die  Tugend,  in  ihrer  ganzen  Vollkommen- 
heit betrachtet,  wird  vorgestellt,  nicht  wie  der  Mensch 
die  Tugend,  sondern  als  ob  die  Tugend  den  Menschen 
besitze“;  „der  Ausdruck,  der  Tugend  und  Toaster  ver- 
persönlicht,  ist  eine  ästhetische  Maschine- 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophischenGrundwerken.  311 


rie  . . daher  ist  eine  Ästhetik  der  Sitten  zwar  nicht  ein 
Teil,  aber  doch  eine  subjektive  Darstellung  der 
Metaphysik  derselben“. 

Zu  dieser  „ästhetischen“  Maschinerie  gehört  nun  auch 
die  Gottesidee;  von  ihr  ist  schon  ganz  am  Anfang,  in  der 
gemeinschaftlichen  Einleitung  zir  der  Metaphysik  der 
Sitten  (IV,  am  Schluß)  die  Rede:  „das  Gesetz,  was  uns 
a priori  und  unbedingt  durch  unsere  eigene  Vernunft  ver- 
bindet, kann  auch  aus  dem  Willen  eines  höchsten  Gesetz- 
gebers, d.  i.  eines  solchen,  der  lauter  Rechte  und  keine 
Pflichten  hat  (mithin  dem  göttlichen  Willen),  hervorgehend 
ausgedrückt  werden,  welches  aber  nur  die  Idee 
von  einem  moralischen  Wesen  bedeutet,  dessen  Wille  für 
alle  Gesetz  ist,  ohne  ihn  doch  als  Urheber  des- 
s e 1 b e n z u denken“  — also  nur  um  eine  Ausdrucks- 
weise  handelt  es  sich  dabei,  um  eine  fa^on  de  parier,  um 
eine  „heuristische  Fiktion“. 

Ganz  am  Schluß  der  Einleitung  zur  Rechtslehre  heißt 
es  daher  weiter:  eine  eigentliche  Pflicht  gegen  jenes 
höchste  moralische  Wesen  kann  es  daher  auch  nicht 
geben,  „weil  es  eine  transzendente  Pflicht  sein  würde,  d.  i. 
eine  solche,  der  kein  äußeres  verpflichtendes  Subjekt 
korrespondierend  gegeben  werden  kann,  mithin  das  Ver- 
hältnis in  theoretischer  Rücksicht  hier  nur  ideal,  d.  i. 
zu  einem  Gedankending  ist“;  dieses  Gedankending 
„machen  [von  Kant  selbst  gesperrt]  wir  uns  selbst“, 
aber  „nicht  durch  einen  leeren,  sondern,  in  Beziehung  auf 
uns  selbst  und  die  Maximen  der  inneren  Sittlichkeit, 
mithin  in  praktischer  innerer  Absicht,  fruchtbaren 
Begriff“;  daher  „besteht  denn  auch  unsere  ganze  imma- 
nente (ausführbare)  Pflicht  in  diesem  bloß  gedachten 
Verhältnis  allein“,  d.  h.  der  edle,  besser  geartete  Mensch 
faßt  die  Sittlichkeit  als  Pflicht  auf,  d.i.  als  ob  sie 
durch  ein  heiliges  Wesen  ihm  geboten  wäre. 

In  diesem  Sinne  ist  es  auch  selbst  eine  Pflicht  des 
Menschen,  Religion  zu  haben,  nämlich  eben  „die  Erkennt- 
nis aller  unserer  Pflichten  als  (instar)  i)  göttlicher  Gebote“ 
zu  haben.  Aber,  wie  der  § 18  sagt,  dieses  ist  eiiiei  Pflicht 


Instar,  urspr.  ad  instar  = nach  dem  Bilde,  nach  der  Analogie 
von . . . 


312 


Dritter  Teil:  Historische  Destätigungen. 


gegen  uns  selbst,  nicht  aber  „das  Bewußtsein  einer  Pflicht 
gegen  Gott.  Denn  da  diese  Idee  ganz  aus  unserer 
eigenen  Vernunft  hervorgeht  und  . . . von  uns 
selbst  gemacht  (von  Kant  selbst  gesperrt)  wird,  so 
haben  wir  hierbei  nicht  ein  gegebenes  Wesen  vor  uns, 
gegen  welches  ims  Verpflichtung  obläge  . . .,  sondern  es 
ist  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst,  diese  unum- 
gänglich der  Vernunft  sich  darbietende  Idee  auf  das 
moralische  Gesetz  in  uns,  wo  sie  von  der  größten  sitt- 
lichen Fruchtbarkeit  ist,  anzuwenden.  In  diesem 
(praktischen)  Sinn  kann  es  also  heißen : Religion  zu 
haben,  ist  Pflicht  des  Menschen  gegen  sich  selbst“. 

In  diesem  Sinne  betrachtet  der  Mensch  sein  Gewissen 
auch  als  ein  anderes,  höheres  Wesen  in  sich  selbst 
(§  13) : „Das  Gewissen  des  Menschen  wird  sich  bei  allen 
Pflichten  einen  anderen,  als  sich  selbst  zum  Richter 
seiner  Handlungen  denken  müssen  . . . dieser  andere  mag 
nun  eine  wirkliche  oder  bloß  ideal ische  Person  sein, 
welche  die  Vernunft  sich  selbst  schafft.  Eine 
solche  idealische  Person  (der  autorisierte  Gewissensrichter) 
muß  ein  Herzenskündiger  sein;  denn  der  Gerichtshof  ist 
im  Innern  des  Menschen  aufgeschlagen“  (daher  heißt  es 
auch  im  § 9:  „der  innere  Richter,  der  als  eine  andere 
Person  gedacht  wird“);  „zugleich  muß  er  aber  auch 
allverpflichtend,  d.  i.  eine  solche  Person  sein  oder  als 
eine  solche  gedacht  werden,  im  Verhältnis  auf  welche 
alle  Pflichten  überhaupt  auch  als  ihre  Gebote  anzu- 
sehen sind“.  „Dieses  will  nun  nicht  soviel  sagen,  als: 
der  Mensch  durch  die  Idee,  zu  welcher  ihn  sein  Ge- 
wissen lunvermeidlich  leitet,  sei  berechtigt,  noch 
weniger  aber:  er  sei  durch  dasselbe  verbunden,  ein 
solches  höchstes  Wesen  außer  sich  als  wirklich 
anzunohmen;  denn  sie  (jene  Idee)  wird  ihm  nicht 
objektiv,  durch  theoretische,  sondern  bloß  subjektiv, 
durch  praktische  sich  selbst  verpflichtende  Vernunft,  ihr 
angemessen  zu  handeln,  gegeben;  und  der  Mensch 
erhält  vermittels  dieser,  nur  nach  der  Analogie  mit 
einem  Gesetzgeber  aller  vernünftigen  Weltwesen,  eine 
bloße  Leitung,  die  Gewissenhaftigkeit,  welche  auch 
religio  genannt  wird,  als  Verantwortlichkeit  vor  einem, 
von  uns  selbst  unterschiedenen,  aber  uns  doch  innigst 


Prinzip.  Ausführ.  i.  d.  ethisch-religionssophisclien  Grundwerken.  313 

gegenwärtigen  heiligen  Wesen  . . . sich  vorzustellen 
und  dessen  Willen  sich  als  Regel  der  Gerechtigkeit  zu 
unterwerfen.  Der  Begriff  von  der  Religion  überhaupt  ist 
hier  dem  Menschen  bloß  ein  Prinzip  der  Beurtei- 
lung aller  seiner  Pflichten  als  göttlicher  Gebote.“  Also 
mit  anderen  Worten : die  Gottesidee  ist  nur  ein  regulatives 
Prinzip,  eine  heuristische  Fiktion. 

Schließlich  gipfelt  die  Fiktion  der  Gottesidee  in  der 
Vorstellung  Gottes  als  des  strafenden  Weltrichters;  wie  es 
in  derselben  „Schlußanmerkung“  heißt,  wird  die  Idee  einer 
göttlichen  Strafgerechtigkeit  hier  personifiziert;  es 
ist  nicht  ein  besonderes  richtendes  Wesen,  was  sie  aus- 
übt (demi  da  würden  Widersprüche  desselben  mit  Rechts- 
prinzipien Vorkommen),  sondern  die  Gerechtigkeit,  gleich 
als  Substanz  . . . spricht  das  Recht  . . Es  handelt  sich 
also  um  „die  bloße  Gerechtigkeit,  als  überschwengliches 
einem  übersinnlichen  Subjekt  angedachtes  Prinzip“. 
Als  real  kann  ein  solches  Wesen  aber,  das  als  Weltrichter 
zugleich  Weltschöpfer  sein  müßte,  nicht  angenommen  wer- 
den i);  denn  dies  „scheint  den  Prinzipien  der  praktischen 
Vemmrft  zu  widersprechen,  nach  welchen  eine  Welt- 
schöpfung hätte  unterbleiben  müssen,  die  ein  der  Absicht 
ihres  Urhebers,  die  nur  Liebe  zum  Grunde  haben  kann, 
so  widerstreitendes  Produkt  geliefert  haben  würde“  — 
eine  von  Ed.  v.  Hartmann  übersehene  Stelle,  der  nicht 
ganz  mit  Unrecht  Kant  als  „Vater  des  Pessimismus“  dar- 
gestellt hat.  — 

Aber  ist  es  denn  nun  nicht  vom  ethischen  Standpunkt 
aus  eine  verwerfliche  Lüge,  in  der  bisher  geschilderten 
Weise  von  einem  „Glauben  an  einen  künftigen  Welt- 
richter“ zu  sprechen,  dessen  Realität  man  doch  nicht  an- 
nimmt? Diese  wichtige  Frage  hat  Kant  im  § 9 behan- 
delt“^), in  welchem  er  zwischen  dem  notwendigen  Ver- 
nunftglauben an  die  Gottesidee  und  der  Lüge  des  Heuch- 
lers eine  haarscharfe  Grenze  zieht.  Lüge  ist  es,  wenn 
jemand  „sich  überredet,  es  könne  doch  nicht  schaden, 

1)  Natürlich  darf  auch,  wie  es  bei  Kant  in  der  zugehörigen  Fußnote 
heißt,  die  Idee  des  künftigen  Lebens  „nicht  einmal  als  Hypothese 
eingemischt  werden“:  es  handelt  sich  auch  bei  dieser  Idee  um  ein 
regulatives  Prinzip,  um  eine  heuristische  Fiktion. 

2)  Vgl.  auch  den  Schluß  des  „Ewigen  Friedens  in  der  Philosophie“. 


314- 


Dritter  Teil : Historische  Bestätigungen. 


wohl  aber  nützen,  einen  solchen  künftigen  Weltenrichter 
in  Gedanken  als  Herzenskündiger  zu  bekennen,  um  aut 
allen  Fall  seine  Gunst  zu  erheucheln“.  Lüge  ist  es,  wenn 
jemand  „sich  mit  innerer  Verehrung  des  Sittengesetzes 
schmeichelt,  da  er  doch  keine  andere  Triebfeder  als  die 
der  Furcht  vor  Strafe  bei  sich  fühlt“.  In  einem  solchen 
ist  die  Idee  eines  ethischen  Gesetzgebers  nicht  wirksam, 
daher  auch  nicht  „wirklich“,  und  von  einem  solchen 
kann  man  mit  Fug  sagen,  daß  „er  den  Glauben  an  einen 
künftigen  Weltrichter  lügt,  indem  er  wirklich  keinen 
solchen  in  sich  findet“ : denn  der  wahrhaft  sittliche 
Mensch  findet  diesen  Glauben  in  dem  Sinne  „wirklich“ 
in  sich,  daß  dieser  Glaube  in  ihm  wirksam  ist,  derart, 
daß  ihm  das  Sittengesetz  so  heilig  ist,  als  ob  es  ein  gött- 
licher Gesetzgeber  gegeben  hätte.  Und  in  diesem  Sinne 
glaubt  er  innerlich  an  Gott.  Eine  „innere  Lüge“  begeht 
aber  der,  dem  das  Sittengesetz  eine  lästige  Fessel  ist, 
der  aber  sich  mid  seinem  Gott  Vormacht,  er  liebe  das 
Sittengesetz.  Wem  aber  im  rechten  Sinne  der  Vernunft 
und  Verniinftkritik  das  Sittengesetz  so  heilig  ist,  als  ob 
es  ein  göttliches  Gebot  wäre,  der  hat  den  philosophischen 
inneren  Gbauben  an  Gott,  olme  sich,  wie  jener  Schächer, 
selbst  zu  belügen.  Und  wer  nun  diesen  wahren,  inneren 
Glauben  an  Gott  hat,  der  kann  auch  nach  außen  hin]  mit 
Fug  sagen,  er  glaube  an  Gott,  ohne  damit  eine  „äußere 
Lüge“  zu  begehen.  Eine  „äußere  Lüge“  begeht  aber  der, 
der  den  Namen  Grottes  im  Munde  führt,  dem  aber  Gott 
nicht  der  heilige  Gesetzgeber  des  die  ganze  Geisterwelt 
umfassenden  Sittengesetzes  ist,  sondern  der  willkürliche 
launische  Tyrann,  dessen  Gunst  er  zu  seinem  Privatvorteil 
erschmeichelt;  wenn  dieser  nun  von  einem  heiligen  Gott 
spricht,  so  „glaubt  er  nicht,  was  er  einem  anderen  sagt“, 
und  ein  solcher  Lügner  „verletzt  die  Würde  der  Mensch- 
heit in  seiner  eigenen  Person“.  — 


Nachlese  aus  Kants  nachgelassenen  Papieren. 

Kants  Opus  Postum  um  „verdient  weder  die  Überschätzung 
noch  die  Unterschätznng,  welche  ihm  von  entgegengesetzten  Seiten 
aus  zu  Teil  geworden  ist“  — dieses  Urteil  findet  man  näher  begründet 
im  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.,  1889,  Bd.  IV,  732—736.  Daselbst  ist  auch 


Nachlese  aus  Kants  nachgelassenen  Papieren. 


315 


nachgewiesen  worden,  daß  in  dem  nachgelassenen  Manuskript  zwei 
verschiedene  unvollendete  Werke  Kants  stecken : 
1.  Übergang  von  den  metaphysischen  Aiifangsgründen  der  Naturwissen- 
schaft zur  Physik,  2.  System  der  reinen  Philosophie  in  ihrem  Zu- 
sammenhange.i)  Beide  Werke  sind  promiscue  beisammen  und  sind 
auch  in  dieser  Form  (leider  unvollständig)  publiziert  von  R.  Reiche 
in  der  Altpreuß.  Monatsschrift  1881 — 1884,  Bd.  XIX,  XX,  XXL  Hierin, 
besonders  im  Bd.  XXI,  finden  sich  nun  sehr  bemerkenswerte  Stellen.*) 

Im  XIX.  Bd.  finden  sich  S.  572 — 578  und  620  selm  wichtige  Äuße- 
rungen, aus  denen  hervorgeht,  daß  Kant  das  Ding  an  sich  als 
Fiktion  und  überhaupt  die  ganze  Trennung  von  Erschei- 
nung und  Ding  an  sich  als  eine  fiktive  erkannt  hat 

„Der  Gegenstand  in  der  Erscheinung  , . . geht  aus  der  synthetischen 
Vorstellung...  hervor“;  „das  Ding  an  sich  ist  ein  iGedankending  (ens 
rationis)  der  Verknüpfung  dieses  mannigfaltigen  Ganzen  zur  Einheit, 
zu  welcher  sich  das  Subjekt  selbst  konstituiert.  Der  Gegenstand  an 
sich~x  ist  das  Sinnenobjekt  an  sich  selbst,  aber  nicht  als  ein 
anderes  Objekt,  sondern  eine  andere  Vorstellungsart“  (573).  In  diesem 
Sinne  nennt  Kant  das  Wahrnehmungsding  „ein  Ganzes  der  Anschau- 
ung, welches  objektiv  bloß  Erscheinung  ist,  dem  der  Gegenstand 
als  Ding  an  sich  lediglich  in  der  Idee  korrespondierend  gedacht 
wird“  (572).  „Das  Ding  an  sich  ist  nicht  ein  anderes  Objekt, 
sondern  eine  andere  Art,  sich  selbst  zum  Objekt  zu  machen,  nicht 
objectum  nournenon,  sondern  der  Akt®)  des  Verstandes,  der  das 
Objekt  der  Sinnenanschauung  zum  bloßen  Phänomen  macht, 3)  ist 
das  intelligible  Objekt“  (ib.).  „Die  transzendentale  Vorstellungsart  ist 
in  der  Anschauung  als  Erscheinung,  die  transzendente  die  des  Objekts 
als  Ding  an  sich,  welches  nur  ens  rationis,  d.  i.  nur  Ge- 
danken ding  ist  und  nicht  objektiv,  sondern  nur 
subjektiv  bestimmend  ein  conceptus  infinitus  (indefinitusj  ist“ 
(577).  „Das  Ding  an  sich  = x ist  bloß  Gedankending,  ens  rationis 
ratiocinantis“  (578). 

Diese  äußerst  interessanten  Stellen  enthalten  eine  sehr  wichtige 
Weiterbildung  der  Kantischen  Ding-an-sich-Lehre,  luid  sie  bestätigen 


1)  Der  Titel  dieses  zweiten  Werkes  wird  von  Kant  in  den  verschie- 
densten Entwürfen  variiert.  Der  merkwürdigste  der  geplanten  Titel 
lautet:  „Zoroaster  oder  die  Philosophie  im  Ganzen  ihres  Inbegriffs 
unter  einem  Prinzip  zusammengefaßt;  so  Bd.  XXI,  418  una  313,  vgl. 
314,  381,  405  und  bes.  311 : „Zoroaster:  das  Ideal  der  physisch 
und  zugleich  m.oralisch-praktischen  Vernunft  in  einem  Sinnen-Objekt 
vereinigt“.  Es  ist  merkwürdig,  daß  Kant  das  Bedürfnis  hatte,  seine 
Lehren  einer  solchen  Idealfigur  sozusagen  in  den  Mund  zu  legen;  noch 
merkwürdiger,  daß  er,  wie  Nietzsche,  den  Zoroaster  dazu  ausersah;  am 
merkwürdigsten,  daß,  als  dieser  Entwurf  ans  Licht  trat,  1884,  gerade 
um  dieselbe  Zeit  Nietzsche  seinen  Zarathustra  schrieb.  Daß  Kant  und 
Nietzsche  gerade  in  der  Als-Ob-Lehre  sich  berühren,  wird  unten 
erwiesen  werden. 

*)  Die  hierher  gehörigen  Stellen  stammen  fast  alle  aus  dem  zwei- 
ten Werke,  das  viel  wichtiger  ist  als  das  erste. 

3)  Von  Kant  selbst  gesperrt. 


316 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


in  merkwürdiger  Weise  die  Auffassung  dieser  Lehre,  wie  sie,  außer 
von  dem  Verfasser,  von  einem  großen  Teil  der  Neukantianer,  insbe- 
sondere auch  seitens  der  sog.  Marburger  Schule,  ferner  seitens  Windel- 
bands und  Rickerts  vertreten  wird.  Daß  es  sich  bei  den  obigen  Äuße- 
rungen  Kants  nicht  um  vorübergehende  Einfälle  handelt,  dafür  ist  der 
beste  Beweis,  daß  nun  derselbe  Standpunkt  in  den  im  Bd.  XXI  von 
Reicke  publizierten  Entwürfen  häufig  und  womöglich  noch  stärker  und 
deutlicher  wiederkehrt,  und  zwar  S.  549 — 568,  582 — 599. 

„Dem  Begriff  eines  Gegenstandes  als  Erscheinung  ist  der  Begriff 
eines  D.  a.  s.  [als]  sein  Gegenstück  (pendant)  = x notwendig  gegen- 
übergestellt, aber  nicht  als  eines  von  jenem  unterschiedenen  Objekts 
(realiter),  sondern  bloß  nach  Begriffen  (logice  oppositum; . . . was  bloß 
subjektiv  als  objectum  noumenon  ein  Glied  der  Einteilung  ausmacht. 
Dieses  Noumenon  ist  aber  nichts  weiter  als  eine  Ver- 
nunftvorstellung“... „das  den  Dingen  an  sich  korrespon- 
dierende ist  nicht  ein  absonderliches  Gegenstück,  . . . sondern  ebendas- 
selbe, aber  aus  einem  anderen  Gesichtspunkt  betrachtet.  Das 
Noumenon  im  Gegensatz  mit  dem  Phänomenen  ist  das  durch  den  Ver- 
stand gedachte  Objekt  in  der  Erscheinung,  insofern  es  ein  Prinzip  der 
Möglichkeit  synthetischer  Sätze  a priori  in  sich  enthält . . .“  (567,  näher 
erläutert  568).  „Die  Gegenstände  müssen  als  Erscheinungen,  nicht  als 
Sachen  an  sich  betrachtet  werden,  wenn  die  Besünunung  dieses 
Mannigfaltigen  a priori  stattfinden  soll“  (582/3).  „Die  Gegenstände  sind 
Vorstellungen  in  der  Erscheinung  und  der  Unterschied  von  D.  a.  s.  ist 
nicht  ein  Unterschied  der  Objekte  als  D.  a.  s.,  sondern  nur  ein 
szientifischer  (idealer)  für  das  Subjekt,  nicht  das 
Objekt“  (585).  „Phänomenen,  welchem  sein  Gegenstück  (Noumenon) 
nicht  als  ein  besonderes  Ding,  sondern  als  Akt  des  Verstandes  = x 
korrespondiert,  der  außeir  dem  Verstände  gar  nichts  als  bloß  ein  Objekt 
überhaupt  ist  und  nur  im  Subjekt  selbst  ist“  (599). 

Das  ist  deutlich,  recht  deutlich.  Die  Einteilung  in  Erscheinungen 
und  Dinge  an  sich  ist  also  ein  bloßer  „Standpunkt“,  „Gesichts- 
punkt“, nur  „subjektiv“,  „ideal“,  „szientifisch“  — also  nur  eine 
heuristische  Fiktion  „zum  Behuf“  der  „Betrachtung“.  Das 
Ding  an  sich  ist  von  Kant  klar  und  Unzweideutig  als  Fiktion  erkannt 
und  anerkannt,  als  eine  für  die  Vernunft  zweckmäßige  und  notwendige 
Betrachtungsweise,  als  Produkt  bewußt-fiktiver  Abstraktion, 
wobei  die  äq>ctiQeatg  nicht  zum  ^wQio^bg  werden  darf  also  eben 
als  — Fiktion  und  sonst  nichts.  — — 

In  demselben  Bande  XII,  310  ff.,  finden  sich  nun  auch  fast  un- 
zählige Stellen,  in  denen  die  fiktive  Natur  des  Gottes- 
begriffes in  inuner  neuen,  teilweise  immer  treffenderen  Varia- 
tionen behauptet  wird.  Es  ließen  sich  viele  Seiten  damit  füllen:  wir 
können  hier  nur  das  Nötigste  reproduzieren;  auf  dogmatisch  klingende 
Stellen  nelunen  wir  auch  hier  keine  Rücksicht,  es  sind  aber  deren  sehr 
wenige  zu  finden. 

Wir  beginnen  mit  der  drastischen  Stelle  S.  325:  „Das  Prinzip  der 
Erkenntnis  aller  Menschenpflichten  als  (tanquam)  allgültiger  Ge- 
bote, d.  i.  in  der  Qualität  eines  höchsten,  heiligen  und  machthabenden 
Gesetzgebers  erhebt  das  . . . Subjekt  zu  dem  Range  eines  einigen 
machthabenden  Wesens:  d.  i.  aus  der  Idee,  die  wir  uns 


Nachlese  aus  Kants  nachgelassenen  Papieren.  317 

von  Gott  selbst  denken,  kann  zwar  nicht  die  Existenz  eines 
solchen  Wesens,  aber  doch  gleich  als  eines  solchen  Wesens  ge- 
folgert (werden),  aber  doch  mit  gleichem  Nachdruck,  als  ob  ein 
solches  dictamen  rationis  in  Substanz  mit  imserem  Wesen 
verbunden  wäre  . . . Der  . . . Satz:  es  ist  ein  Gott,  muß  im 
moralisch-praktischen  Verhältnis  ebenso  verehrt  und  befolgt  werden, 
als  ob  er  von  dem  höchsten  Wesen  ausgesprochen  wäre,  obzwar  . . . 
die  Erscheinung  eines  solchen  Wesens  zu  glauben  oder  auch  nur  zu 
wünschen  ein  schwärmerischer  Wahn  sein  würde,  Ideen  für  Wahr- 
nehmungen anzunehmen.“  Und  in  demselben  Sinne  heißt  es  S.  331 : 
„Diesem  Prinzip  zufolge  können  alle  Menschenpflichten  zugleich 
a 1 s göttliche  Gebote  ausgesagt  werden,  und  zwar  dem  For- 
malen desselben  nach,  wenn  auch  keine  solche  die  Vernunft  be- 
stimmende Ursache  als  Substanz  angenommen  würde,  und  in  prak- 
tischer Rücksicht  ist  es  völlig  einerlei,  ob  man  die  Göttlichkeit  des 
Gebots  in  der  menschlichen  Vernunft  oder  auch  einer  solchen  Person 
zum  Grunde  legt,  weil  der  Unterschied  mehr  eine  Phraseo- 
logie, als  eine  das  Erkenntnis  erweiternde  Lehre  ist“.  Der  Unter- 
schied, daß  die  Pflicht  eben  als  Gebot  eines  Gottes  angesehen  wird, 
bringt  nicht  eine  synthetische  Erweiterung  unserer  Erkenntnis 
hervor,  sondern  nur  eine  analytische  Erläuterung  der  Heiligkeit, 
des  Pflichtgesetzes  als  Vernunftgebols.  Diese  beachtenswerte  Formulie- 
rung fanden  wir  schon  früher.  Eine  andere,  sehr  treffende  Wendung 
für  denselben  Gedanken  gebraucht  Kant  S.  153:  Durch  jene  analogische 
Vorstellungsweise  werde  wohl  die  Aussicht  erweitert,  nicht  aber 
die  Einsicht.  „Es  ist  hierbei  nicht  tunlich,  die 
Existenz  einer  Substanz  von  dieser  Qualität  an- 
z u n e h m e n“  (369).  „Gott  ist  also  keine  außermir  be- 
findliche Substanz  (von  Kant  selbst  gesperrt),  sondern  bloß 
ein  moralisches  Verhältnis  in  mir“  (414)  — letztere  ‘Bestimmung: 
Gott  ist  keine  Substanz,  sondern  ein  Verhältnis,  und  dazu  noch 
in  mir,  ist  ganz  besonders  deutlich;  es  handelt  sich  bei  diesem 
Begriff  also  nur  um'  ein  Verhältnis  des  handelnden  .Teiles'  zum 
gebietenden  Teile  meiner  Vernunft. 

Weitere  Hauptstellen : „der  kategorische  Imperativ  setzt  nicht 
eine  zu  oberst  gebietende  Substanz  voraus,  die  außer  mir 
wäre,  sondern  ist  ein  Gebot  oder  Verbot  meiner  eigenen  Vernunft. 
Demungeachtet  ist  er  doch  a 1 s von  einem  Wesen  ausgehend,  was 
über  alle  unwiderstehliche  Gewalt  hat,  anzusehen“  (570);  „der 
kategorische  Imperativ  stellt  die  Menschenpflichten  a I s göttliche 
Gebote  vor,  nicht  historisch,  als  ob  (ein  göttliches  Wesen)  jemals 
gewisse  Befehle  an  Menschen  habe  ergehen  lassen,  sondern  wie 
die  Vernunft  sie  . . . gleich  einer  göttlichen  Person  . . . strenge 
gebieten  kann“  (571) ; „die  idealische  Person,  die  den  Akt 
der  höchsten  Autorität  ausübt,  Gott“,  ist  nicht  eine  „vom  Menschen 
verschiedene  Substanz“;  daher  „ob  ein  Gott  (in  Substanz)  sei  oder 
nicht  sei,  darüber  kann  es  keine  Streitfragen  geben:  denn  es  ist 
kein  Gegenstand  des  Streits  (objectum  litis).  Es  sind  nicht 
existierende  Wesen,  "um  deren  Beschaffenheit  gestritten  werden  dürfte. 


8J8 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


außer  dem  urteilenden  Subjekt,  sondern  eine  bloße  Idee^)  der 
reinen  Vernunft,  die  ihre  eigenen  Prinzipien  examiniert“.  Dies  nennt 
Kant  (ib.  571)  im  Gegensatz  zur  „technisch-praktischen“  Betrachtung, 
welche  einen  wirksamen  Gott  in  der  Natur  annimmt,  die  „prag- 
matisch- moralische“  Betrachtungsweise  — also  wieder  eine  Ante- 
zipation  des  „Pragmatismus“  selbst  im  Ausdruck.  Weiter:  „die 
Existenz  eines  solchen  Wesens  kann  nur  in  praktischer  Rücksicht 
postuliert  werden,  nämlich  die  Notwendigkeit  zu  handeln,  a 1 s 
0 b ich  unter  dieser  furchtbaren,  zugleich  aber  auch  heilbringenden 
Leitung  und  zugleich  Gewährsleistung  stünde  in  der  Erkenntnis  aller 
meiner  Pflichten  a 1 s göttlicher  Gebote  (tanquam,  non  ceu), 
mithin  wird  in  dieser  Formel  die  Existenz  eines 
solchen  Wesens  nicht  postuliert,  welches  auch  in 
sich  widersprechend  sein  würde“  (613) ; die  Annahme 
widerspruchsvoller  imd  doch  praktisch-nützlicher  Begriffe  macht  eben, 
wie  wir  wissen,  das  Wesen  der  echten  Fiktion  aus,  die  auch  in 
folgenden  Worten  ausgedrückt  ist:  „in  ihr,  der  Idee  von  Gott, 
als  moralischem  Wesen,  leben,  weben  und  sind  wir,  angetrieben 
durch  Erkenntnis  unserer  Pflichten  als  göttlicher  Gebote.  Der  Begriff 
von  Gott  ist  die  Idee  von  einem  moralischen  Wesen,  welches  als 
ein  solches  richtend,  allgemein  gebietend  ist.  Dieses  ist  nicht 
ein  hypothetisches  Ding,  sondern  die  reine  praktische 
Vernunft  selbst  . . .“  (613/4).  „Zum  kategorischen  Imperativ  wird 
keineswegs  erfordert,  daß  eine  Substanz  existiere,  deren  Pflichten 
auch  jene  ihrer  Gebote  sind,  sondern  (wenn  wir  die  Pflichten  als  gölt- 
liche  Gebote  betrachten,  so  wird  darunter)  nur  die  Heiligkeit  und  Un- 
verletzlichkeit derselben  verstanden“  (614).  Es  ist  „bloß  ein  Urteil  nach 
der  Analogie,  nämlich  alle  Menschenpflichten  gleich  als  gött- 
liche Gebote  zu  denken“  (ib.).  „Die  Idee  von  einem  solchen  Wesen, 
vor  dem  sich  alle  Knie  beugen  usw.,  geht  aus  dem  kategorischen 
Imperativ  hervor,  und  nicht  umgekehrt,  und  subjektiv  in  der 
menschlichen  praktischen  Vernxmft  ist  ein  Gott  notwendig  gedacht, 
obgleich  nicht  objektiv  gegeben ; liierauf  gründet  sich  der  Satz 
der  Erkenntnis  aller  Menschenpflichten  als  göttlicher  Gebote“  (615;. 
Das  „Ens  summum  ...  ist  ein  Ens  rationis  ...  Es  ist  nicht  eine 
Substanz  außer  mir  . . .,  sondern  der  Pflichtbegriff  eines  allgemeinen 
praktischen  Prinzips  ist  identisch  im  Begriffe  eines  göttlichen  Wesens 
als  Ideals  der  menschlichen  Vernunft  enthalten“  (616 ;. 
Diese  „gesetzgeberische  Gewalt  gibt  diesen  Gesetzen  Nachdruck, 
obzwar  nur  in  der  Idee“  (617/8).  Denn  es  handelt  sich  um 
Gebote,  „die  das  Subjekt  sich  selbst  vorschreibt,  und  doch  gleich 
a l s o b ihm  ein  anderer  und  Höherer  sie  als  Person  dem  Subjekt 


1)  Bei  Kant  findet  sich  in  bezug  auf  die  Ideen  (Gott,  Freiheit 
und  Unsterblichkeit)  die  radikal-fiktive  Unterströmung  vermischt  mit 
der  konservativ-metaphysischen  Auffassung.  Nicht  selten  wird  in 
einem  und  demselben  Satzgefüge  die  radikale  These  durch  meta- 
physische Wendungen  in  entgegengesetzt  gerichtetem  Sinne  ‘abge- 
schwächt. Im  Interesse  der  Klarheit  und  Kürze  werden  hier  öfters 
solche  Einschränkungen  weggelassen,  diese  Weglassungen  sind  aber 
durch  Punkte  deutlich  gekennzeichnet. 


Nachlese  aus  Kants  nachgelassenen  Papieren.  319 

zur  Regel  machte"  (619).  „Man  kann  aber  am  Menschen  das 
Diktamen  der  Vernunft  in  Ansehung  des  Pflichtbegriffs  überhaupt 
das  Erkenntnis  seiner  Pflichten  als  (tanquam,  non  ceu)  göttlicher 
Gebote  sich  vorstellig  machen,  weil  jener  Imperativ  herr- 
schend und  absolut  gebietend,  mithin  als  einem  Herrscher  gebührend, 
mithin  einer  Person  zukommend  vorgestellt  wird:  das  Ideal 
einer  Substanz,  welches  wir  uns  selbst  schaffen“  , — 
diese  Worte  stehen  am  Schluß  (620)  der  von  Reicke  1884,  publizierten 
Blätter,  in  denen  dasselbe  imd  ähnliches  unzähligemal  wiederholt  wird. 

Endlich  wirft  Kant  die  kühne  Frage  auf:  „Ob  Religion  ohne  Vor- 
aussetzung des  Daseins  Gottes  möglich  ist?“  *(619),  una  'antwortet: 
„Religion  ist  nicht  der  Glaube  an  eine  Substanz  von  besonderer  Heilig- 
keit, Rang  und  Obergewalt,  bei  der  man  sich  durch  Einschmeichelung 
Gunst  erwerben  und  Gunst  verschaffen  kann“  (410),  sondern  „Reli- 
gion ist  Gewissenhaftigkeit  (mihi  hoc  religioni),  die  Heiligkeit  der 
Zusage  Und  Wahrhaftigkeit  dessen,  was  der  Mensch  sich  selbst 
bekennen  muß.  Bekenne  dir  selbst.  Diese  zu  haben,  wird  nicht 
der  Begriff  von  Gott,  noch  weniger  das  Postulat:  es  ist  ein  Gott, 
gefordert“  (370)  — natürlich  als  Dogma,  denn  als  Idee  hält  ja  Kant 
den  Gottesbegriff  fest;  und  in  diesem  Sinne  heißt  es  610:  „das 
Prinzip  der  Befolgung  aller  Pflichten  a 1 s göttliche  Gebote  ist  Reli- 
gion“, denn  „alle  Menschenpflichten  a 1 s göttliche  Gebote  vor- 
zuschreiben, liegt  schon  in  jedem  kategorischen  Imperativ“  (614). 
Kant  sieht  darin  einen  berechtigten  „Anthropomorphismus“  (356), 
und  in  diesem  Sinne  heißt  es:  „der  moralische  Imperativ  kann 
also  als  die  Stimme  Gottes  angesehen  werden“  (577,  vgl.  414^. 
Viele  Male  wird  diese  Wendung  in  dem  Opus  Postumiim  wiederholt: 
so  an  sehen,  ebenso:  so  beurteilen,  so  vorstellen,  so  betrachten,  so 
denken  zu  praktischem  Behuf  usw. 

Eine  praktisch  außerordentlich  wiclitige  Konse- 
quenz, welche  Kant  aus  seinen  Aufstellungen  zieht,  mag  den  Be- 
schluß machen.  Es  gibt  bekanntlich  nur  einen  einzigen  Fall,  wo  der 
so  Denkende  über  seine  Gedanken,  die  er  in  Wort  und  Schrift  äußert, 
im  bürgerlichen  Leben  zu  einer  Handlmig  genötigt  wird,  welche  den 
Gottesbegriff  direkt  fordert,  den  E i d.  Kann  der  so  Denkende  noch 
einen  vom  Staat  geforderten  Eid  (als  Zeuge,  als  Sachverständiger, 
als  Beamter,  als  Abgeordneter  usw.)  leisten?  Hierauf  antwortet  Kant 
— nach  kurzer  Überlegung  S.  383  — unbedenklich  und  konsequent 
mit  einem  lauten  klaren  .Ta:  „Man  kann  bei  Gott  schwören, 
ohne  sein  Dasein  einzuräumen.  Bei  Gott  schwören,  ohne 
sein  Dasein  einzuräumen  (zu  behaupten),  bedeutet  nur  Gewissen- 
h a f t i g k e i t“,  „bedeutet  nichts  weiter  als  gewissen- 
hafte  Beteuerung“;  „juro  i.  e.  per  Deum  testem  .affirmo. 
Dadurch  weiß  ich  nicht,  daß  Gott  sei  schlechthin.  Ich  nehme  es  auf 
mein  Gewissen,  wenn  ich  unwahr  spreche,  ein  Lügner  zu  heißen“ 
414,  416,  417.  Und  zur  Erläuterung  fügt  Kant  noch  hinzu:  jurare 
ist  ju  orare,  ju  ist  Jehova,  Jupiter,  vor  dem  das  Innere  aufgedeckt 
ist,  der  „Herzenskündiger“.  Nun  eben  dieser  ,,Herzensküadiger“, 
von  diesem  spricht  Kant  oft,  z.  B.  577,  als  einer  notwendigen  Idee 
unserer  Vernunft;  auf  ihn  als  „oberste  Idee“  zielt  ja  eben  die  ganze 
Als-Ob-Retrachtung  ab,  die  wir  von  Anfang  bis  hierher  verfolgt  haben. 


320 


Dritter  Teil : Historische  Bestätigungen. 


„Gott*  ist  eine  zweckmäßige,  eine  notwendige  Idee,  und  Ideen  sind 
„heuristische  Fiktionen“,  Als-Ob-Betrachtungen.  Kant  und  diejenigen, 
die  so,  wie  er  geartet  sind,  handeln,  als  ob  ein  solcher  Gott 
sie  richte;  das  ist  ihr  Glauben  an  Gott,  das  ist  Üer  „praktische 
Glauben“  an  einen  Gott. 


b; 

Forberg,  der  Urheber  des  Fichteschen  Atheismus- 
streites und  seine  Religion  des  Als-Ob. 

Die  überwältigende  Menge  von  Stellen  aus  Kant, 
welche  vorstehend  mitgeteilt  und  besprochen  sind,  be- 
weisen zur  Genüge,  daß  die  Als-Ob-Betrachtung  bei 
Kant  eine  außerordentlich  große  Rolle  gespielt  hat.  Man 
hat  diese  Seite  Kants  bis  jetzt  fast  ganz  übersehen,  und 
wo  die  x\ls-0b-Lehre  Kants  flüchtig  berührt  worden  ist 
(z.  B.  bei  Volkelt,  Ree,  Görland),  hat  man  sie  nur  auf 
die  eigentliche  Ideenlehre  bezogen,  ohne  zu  ahnen,  daß 
bei  Kant  diese  Betrachtungsweise  auch  in  seinen  reli- 
gionsphilosophischen, ethischen,  juristischen,  sowie  in 
seinen  naturphilosophischen  und  mathematischen  Anschau- 
ungen eine  entscheidende  Bedeutung  besitzt. 

Unsere  Darstellung  lehrt  speziell  in  bezug  auf  die 
Religionsphilosophie  einen  ganz  anderen  Karit  kennen,  als 
den  traditionellen,  auf  der  einen  Seite  einen  viel  radika- 
leren, auf  der  anderen  Seite  einen  viel  konservativeren, 
als  den  bisher  üblichen.  Kant  offenbart  sich  uns  als 
theoretischer  Nicht  Theist  in  dem  Sinne,  daß  ihm  die 
Existenz  eines  höchsten  Geistes  usw.,  im  üblichen  Sinne 
des  Existierens,  nicht  allein  nicht  wahrscheinlich,  son- 
dern höchst  unwahrscheinlich,  ja  direkt  unglaubhaft  bis 
zur  Unmöglichkeit  wird.  Die  Stellen,  welche  hierüber 
oben  mitgeteilt  worden  sind,  bewegen  sich  vom  Unwahr- 
scheinlichen bis  zum  Unmöglichen  in  verschiedenen  Ab- 
stufungen, unter  Vermeidung  des  üblichen  sonstigen  be- 
liebten Ausweges  des  Agnostizismus,  welcher  lehrt,  das 
Gebiet  der  Dinge  an  sich  sei  unbekannt,  dieses  unbekannte 
Gebiet  könnte  aber  wohl  eine  Welt  von  Geistern  mit 
einem  höchsten  Geist  an  der  Spitze  sein.  Ein  solcher 
Agnostizismus,  der  sich  sonst  wohl  bei  Kant  findet,  und 
den  die  meisten  seiner  Schüler  eingeschlagen  haben, 


Forbeig,  der  Urheber  des  Fichteschen  Atlieismusstreites  iisw,  321 

erscheint  als  ein  schwächlicher  Kompromiß  gegenüber 
dem  Radikalismus  der  mitgeteilten  Stellen,  in  denen  Kant 
seinen  Sitz  auf  der  äußersten  Linken  des  philosophischen 
Parlaments  nimmt:  ihm  sind  alle  transzendenten  Vor- 
stellungen nichts  als  „selbstgemachte  Ideen“,  ideaeanobis 
ipsis  factae,  daher  ideae  fictae.  Diese  radikale  Strömung 
des  Kantischen  Denkens  ist  in  den  oben  mitgeteilten 
Stellein  ganz  und  voll  zur  Geltung  und  zum  Vorschein  ge- 
kommen. Kant  ist  daher  auch  viel  radikaler  als  die 
Pantheisten;  deren  schwärmerische,  mystische,  unklare 
Vorstellungsweise  ihm  überhaupt  zuwider  war;  auch 
seinem  von  E.  v.  Hartmann  mit  Recht  auf  gedeckten  Pessi- 
mismus, sowie  seiner  Lehre  vom  radikalen  Bösen  wider- 
spricht der  Pantheismus  durchaus.  Kant  ist  viel  radi- 
kaler: er  erkennt,  daß  die  Vorstellungen  einer  transzen- 
denten Welt,  daß  der  ganze,  sie  betreffende  Begriffs- 
apparat aus  von  uns  selbstgemachten  Ideen  besteht,  und 
daraus  zieht  er  furchtlos  und  seiner  Bestimmung  als  Philo- 
soph getreu  alle  Konsequenzen.  Man  nennt  diese  Konse- 
quenzen negative,  obgleich  sie  nichts  enthalten,  als  die 
Position  der  gegebenen  Wirklichkeit  und  nur  sie,  den 
puren  Positivismus. 

Aber  auf  der  anderen  Seite  offenbaren  uns  die  oben 
mitgeteilten  Stellen  einen  viel  konservativeren  Kant,  als  die 
übliche  Darstellung  will.  Kant,  der  Vernunftphilosoph,  der 
Aufklärungsdenker,  tritt  ein  für  die  „Zulässigkeit“,  ja 
„Schicklichkeit“  solcher  religiöser  Vorstellungen,  welche 
dem  traditionellen  Aufklärer  wegen  ihrer  Absurdität  ein 
Greuel  sind,  so  die  jungfräuliche  Geburt  Christi,  die 
Genugtuungsidee,  die  Idee  eines  Jüngsten  Gerichts.  Für 
Kant  sind  diese  Vorstellungen  ein  zweckmäßiges  päd- 
agogisches Mittel,  eine  „ästhetische  Maschinerie“  zur  Be- 
lebung und  Förderung  moralischer  Antriebe,  eine  sinnlich- 
poetische Einkleidung  der  starren  Pflichtgebote  „zu  prak- 
tischem Behuf“.  Aber  ganz  in  dieselbe  Kategorie,  in  die 
Kategorie  des  Als-Ob,  gehören  ihm  auch  überhaupt 
alle  Vorstellungen  einer  transzendenten  Welt,  und  nur 
von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ist  nun  eben  auch  Kants 
berühmter  „moralischer  Gottesbeweis“  zu  betrachten,  näm- 
lich eben  auch  als  eine  Als-Ob-Betrachtung  zu 
praktischem  Behuf.  Nicht  die  Realität,  d.  h.  der  Exi- 

Vaihinger,  Philosophie.  21 


322 


Dritter  Teil:  Historische  BesLütigungen. 


stentialwert  der  Gottesidee  wird  darin  von  Kant  be- 
wiesen, sondern  die  Realität,  d.  h.  die  ethische  Bedeu- 
tung und  Gültigkeit,  also  der  Moralwert  der  Gottesidee. 
Um  die  Idee  Gottes  handelt  es  sich  für  den  echteui  Kriti- 
zismus, und  nur  um  die  Idee.  Diese  will  Kant  nicht 
fallen  lassen,  vielmehr:  er  kann  sie  nicht  fallen  lassen,  weil 
sie  in  dem  kategorischen  Imperativ  immanent  enthalten  ist, 
nach  seiner  Schulsprache:  analyt'sch.  Kant  lehrt  nicht  bloß  : 
du  sollst  so  handeln,  als  ob  die  Pflichten  göttliche  Ge- 
bote wären;  sondern  er  lehrt:  wer  überhaupt  sittlich 
handelt,  der  handelt  schon  von  selbst  so,  als  ob  ein 
Gott  ihm  jene  Handlungsweise  vorgeschrieben  habe.  Und 
daraus  eben  folgt  wieder  die  Maxime:  wenn  du  sittlich 
handeln  willst,  so  mußt  du  so  handeln,  als  ob  ein 
Gott,  als  ob  dein  Gott  dir  das  befohlen  hätte. 


In  der  ganzen  Zeit  von  Kants  Auftreten  an  bis  auf  die 
Gegenwart  haben  nur  sehr  wenige  gewußt,  daß  dies  der 
echte  Kant  ist : Manche  — sowohl  Anhänger  als  Gegner  — 
haben  es  mehr  oder  minder  klar  herausgespürt;  manche 
haben  es  wohl  gemerkt,  aber  nicht  gewagt,  es  offen 
herauszusagen.  Jedenfalls  ist  der  einzige,  der  Kants  echte 
Lehre  in  dieser  Hinsicht  erkannt  und  dargestellt  hat,  For- 
berg  gewesen. 

Der  Name  Forbergs  ist  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie wohlbekannt.  Man  liest  in  allen  Darstellungen,  daß 
Forberg  in  dem  von  Fichte  und  Niethammer  herausgegebe- 
nen „Philosophischen  Journal“  (Jahrg.  1798,  l.Heft)  einen 
Aufsatz  erscheinen  ließ : „Entwicklung  des  Begriffs  der 
Religion“,  dem  Fichte  zur  Erläuterung  einen  Aufsatz 
vorangehen  ließ : „Über  den  Grund  unseres  Glaubens 
an  eine  göttliche  Weltregierung.“  Diese  beiden  Aufsätze 
verursachten  dann  den  bekannten  „Atheismusstreit“,  in- 
folge dessen  Fichte  seine  Jenenser  Professur  aufgab  resp. 
verlor.  Das  ganze  Interesse  der  Historiker  der  Philosophie 
hat  sich  nun  begreiflicherweise  auf  Fichte  konzentriert, 
eine  -Sonne  am  Himmel  der  Philosophie,  neben  welcher 
der  sonst  ganz  unbekannte  Forberg  als  ein  bescheidenes 
Planetchen  verschwand.  Das  war  schon  innerhalb  des 
„Atheismusstreites“  selbst  der  Fall,  der  sich  im  wesent- 


Forberg,  der  Urheber  des  Fichtescheii  Atheismusstreites  usw.  323 


liehen  im  Jahre  1799  abspielte:  in  allen  den  zahlreichen 
Schriften  und  Gegenschriften  über  den  Streit,  der  damals 
das  geistige  Deutschland  durchwogte,  ist  fast  nur  von 
Fichte  die  Rede.  Und  so  war  es  auch  nachher.  Die 
Historiker  der  Philosophie  hatten,  als  der  Fichtesche  Auf- 
satz 1845  in  seinen  „Sämtlichen  Werken“  (im  III.  Band) 
abgedruckt  worden  war,  vollends  keine  Veranlassung  und 
Gelegenheit  mehr,  das  alte,  auf  Löschpapier  gedruckte 
Original  selbst  anzusehen,  in  dem  doch  allein  der  For- 
bergsche  Aufsatz  selbst  zu  finden  ist.  Und  so  blieb  dieser 
merkwürdige  Aufsatz  ungelesen  und  vergessen,  und  so  ist 
es  gekommen,  daß  nur  der  Name  Forbergs  in  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  weiterlebt,  seine  Ideen  aber  be- 
graben lagen. 

Diese  Ideen  sind  nun  aber  eben  sehr  merkwürdig : 
Forberg  hat  Kants  Als-Ob-Lehre,  speziell  in  bezug  auf  die 
Religionsphilosophie,  wenigstens  in  ihrem  Grundprinzip 
klar  erfaßt  und  scharf  herausgestellt.  Kein  einziger  der 
fast  unzähligen  damaligen  — und  späteren  Kantschrift- 
steller hat  im  Grunde  verstanden,  worauf  Kant  in  letzter 
Linie  mit  seiner  Religiorisphilosophie  hinzielte.  Dieser 
Mann  mit  seinem  klaren  Verstand,  seinem  intellektuellen 
Mut  ging  der  Sache  auf  den  Grund.  Aus  seiner  vergesse- 
nen Abhandlung  lassen  wir,  nach  mehr  als  hundert 
Jahren,  hier  die  wichtigsten  Stellen  wieder  abdrucken. 

„So  wie  die  Idee  einer  künftigen  möglichen  Überein- 
stimmung aller  Menschen  in  allen  Urteilen  allen  denken- 
den Menschen  unablässig  vor  Augen  schwebt,  so  schwebt 
auch  allen  moralisch  guten  Menschen  die  Idee  einer  all- 
gemeinen Übereinstimmung  im  Guten,  die  Idee  einer  all- 
gemeinen Verbreitung  von  Gerechtigkeit  und  Wohlwollen, 
vor  Augen“  (a.  a.  0.  S.  30).  Aber  in  ersterer  Hinsicht  ist 
folgendes  zu  beachten:  „das  Reich  der  Wahrheit  ist  ein 
Ideal.  Denn  es  ist  bei  der  unendlichen  Verschieden- 
heit der  Fähigkeiten,  in  der  sich  die  Natur  so  sehr  ge- 
fallen zu  haben  scheint,  niemals  zu  erwarten,  daß  je  ein 
Einverständnis  aller  Menschen  in  allen  Urteilen  stattfinden 
werde.  Das  Reich  der  Wahrheit  wird  also  zuverlässig 
niemals  kommen,  und  der  Endzweck  der  Republik  der 
Gelehrten  wird  allem  Anschein  nach  in  Ewigkeit  nicht  er- 
reicht werden.  Gleichwohl  wird  das  in  der  Brust  jedes 


324 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


denkenden  Menschen  unvertilgbare  Interesse  für  Wahr- 
heit in  Ewigkeit  fordern,  dem  Irrtum  aus  allen  Kräften 
entgegenzuarbeiten,  und  Wahrheit  von  allen  Seiten  zu 
verbreiten,  d.  h.  gerade  so  zu  verfahren,  als  ob  der 
Irrtum  einmal  gänzlich  aussterben  könnte,  und  die  Allein- 
herrschaft der  Wahrheit  zu  erwarten  wäre.  Und  eben  dies 
ist  der  Charakter  einer  Natur,  die,  wie  die  menschliche, 
bestimmt  ist,  ins  Unendliche  sich  Idealen  zu  nähern“ 
(S.  29  L). 

Wie  mit  dem  Reich  der  Wahrheit,  so  ist  es  nun 
auch  mit  dem  Reich  des  Guten.  Der  „gute  Mensch“ 
„trachtet  darnach,  daß  das  Reich  Gottes,  das  Reich  der 
Wahrheit  und  des  Rechts,  komme  auf  Erden : aber  am 
Ende  seiner  Laufbahn  sieht  er  es  noch  so  fern  als  je  . . . 
Was  soll  nun  er,  der  einzelne,  gegen  eine  unmoralische 
Welt?  Soll  auch  er  aufhören,  sich  dem  Strom  des  Un- 
rechts entgegenzusetzen?  Soll  er  es  hinfort  in  der  Welt 
gehen  lassen,  wie  es  geht,  ohne  sich  ferner  anzustrengen, 
oder  wohl  gar  aufzuopfern,  für  einen  idealischen  Zweck, 
der  nimmer  erreicht  wird?“  (S.34f.)  „Nein  — ruft  ihm 
mit  lauter  Stimme  sein  gutes  Herz  zu  — du  sollst-  Gutes 
tun,  und  nicht  müde  werden!  Glaube  an  die  Tugend, 
daß  sie  am  Ende  siegen  wird!  . . . Glaube,  daß  nichts 
Gutes,  was  du  tust,  oder  auch  mir  entwirfst,  sei  es  auch 
noch  so  klein  und  unmerklich  und  unscheinbar,  verloren 
gehe  in  dem  regellosen  Laufe  der  Dinge!  Glaube,  daß 
dem  Lauf  der  Dinge  ein,  dir  freilich  unübersehbarer. 
Plan  zum  Grunde  liegt,  in  dem  auf  das  endliche  Gelingen 
des  Guten  gerechnet  ist!  Glaube,  daß  das  Reich  Gottes, 
das  Reich  der  Wahrheit  und  des  Rechts,  kommen  wird 
auf  die  Erde,  und  trachte  du  nur  danach,  daß  e?  komme! 

. . . Es  ist  wahr,  du  kannst  von  dem  allem  nicht  scienti- 
fisch  beweisen,  daß  es  so  sein  müsse,  aber  genug,  dein 
Herz  sagt  dir,  du  sollst  so  handeln,  als  ob  es  so 
wäre,  und  wenn  du  so  handelst,  so  zeigst  du  eben  da- 
durch, daß  du  Religion  hast!“  (S.  34 — 36.) 

„Dies  ist  die  Art  und  Weise,  wie  Religion  im  Herzen 
eines  guten  Menschen  entsteht,  und  allein  entstehen  kann. 
Der  gute  Mensch  wünscht,  daß  das  Gute  überall  auf  Erden 
herrschen  möge,  und  er  fühlt  sich  in  seinem  Gewissen 
verbunden,  alles  zu  tun,  was  er  kann,  um  diesen  Zweck 


Forberg,  der  Urheber  des  Fichteschen  Atheismusstreites  usw.  325 

bewirken  zu  helfen  ...  Er  glaubt  also,  daß  der  Zweck 
der  Alleinherrschaft  des  Guten  allerdings  ein  möglicher 
Zweck  sei  . . . Er  kann  es,  wenn  er  spekuliert,  dahin- 
gestellt sein  lassen,  ob  jener  Zweck  möglich  oder  un- 
möglich sei;  nur  wenn  er  handelt,  muß  er  verfahren, 
als  ob  er  sich  für  die  Möglichkeit  entschieden  hätte,  er 
muß  trachten,  jenem  Zweck  allmählich  näherzukommen.“ 
Auch  wenn  er  überzeugt  ist,  daß  „es  denn  doch  am  Ende 
unmöglich  sei,  aus  Menschen  Engel  zu  machen“,  darf 
er  doch  nicht  die  Hände  in  den  Schoß  legen;  denn  er 
„würde  es  sich  doch  selbst  nicht  leugnen  können,  daß 
es  von  einer  großen  und  erhabenen  Denkungsart  zeuge, 
nach  der  entgegengesetzten  Maxime  zu  handeln“  (S.36/7). 

„Religion  ist  demnach  keine  gleichgültige  Sache,  mit 
der  man  es  halten  kann,  wie  man  es  will,  sondern  sie  ist 
Pflicht.  Es  ist  Pflicht  zu  glauben  an  eine  solche  Ordnung 
der  Dinge  in  der  Welt,  wo  man  auf  das  endliche:  Gelingen 
aller  guten  Pläne  rechnen  kann,  und  wo  das  Bestreben, 
das  Gute  zu  befördern,  und  das  Böse  zu  hindern,  nicht 
schlechterdings  vergeblich  ist;  oder,  welches  Eins  ist,  an 
eine  moralische  Weltregierung,  oder  an  einen  Gott,  der 
die  Welt  nach  moralischen  Gesetzen  regiert.  Nur  ist  dieser 
Glaube  keineswegs  insofern  Pflicht,  wiefern  er  theore- 
tisch, d.  h.  eine  müßige  Spekulation  ist,  sondern  bloß 
und  allein  insofern,  wiefern  er  praktisch,  d.  h.  wiefern 
er  Maxime  wirklicher  Handlungen  ist.  Mit  anderen 
Worten:  es  ist  nicht  Pflicht,  zu  glauben,  daß  eine  mora- 
liche  Weltregierung,  oder  ein  Gott,  als  moralischer  Welt- 
regent, existiert,  sondern  es  ist  bloß  und  allein  dies 
Pflicht,  so  handeln,  als  ob  man  es  glaubte.  In 
den  Augenblicken  des  Nachdenkens  oder  des  Disputierens 
kann  man  es  halten,  wie  man  will,  man  kann  sich  für 
den  Theismus  oder  für  den  Atheismus  erklären,  je  nach- 
dem man  es  vor  dem  Forum  der  spekulativen  Vernunft 
verantworten  zu  können  meint,  denn  hier  ist  nicht  die 
Rede  von  Religion,  sondern  von  Spekulation,  nicht  von 
Recht  und  Unrecht,  sondern  von  Wahrheit  und  Irrtum. 
Nur  im  wirklichen  Leben,  wo  gehandelt  werden  soll,  ist  es 
Pflicht,“  in  jenern  Sinn,  auf  dem  Boden  jener  Als-Ob- 
Betrachtung  zu  handeln  (S.  36 — 38). 

Ein  Handeln  nach  den  entgegengesetzten  Maximen 


326 


Dritter  Teil;  Historische  Bestätigungen. 


ist  böse;  „in  diesen  Maximen  würde  man  gegen  sein 
eigenes  Gewissen  handeln“.  „Jene  Maximen  (die  Maximen 
der  Irreligion)  sind  also  pflichtwidrig  und  Sünde.  Vor 
seinem  Gewissen  kann  niemand  eine  andere  Maxime  ver- 
antworten, als  die,  Gutes  zu  stiften,  und  Böses  zu  hindern, 
wo  man  weiß  und  kann,  ohne  sich  durch  die  Besorgnis 
irre  machen  zu  lassen,  daß  man  den  Erfolg  doch  nicht  in 
seiner  Gewalt  habe,  • — jeden  guten  und  schönen  und 
großen  Einfall  zu  betrachten  als  ein  anvertrautes 
Pfund,  mit  dem  wir  wuchern  sollen,  und  unablässig  zu 
arbeiten  an  Verbreitung  des  AVahren  und  Guten  in  unserer 
Sphäre  . . . nach  Idealen,  in  der  Hoffnung,  daß  der  Zufall 
(oder  die  Gottheit,  als  eine  uns  übrigens  unbekannte 
Macht)  alle  Schwierigkeiten  aus  dem  Wege  räumen 
werde.  . . . Diese  Maximen  sind  die  Maximen  der  Religion, 
und  die  Religion  ist  demnach  nichts  anderes,  als  Glaube 
an  das  Gelingen  der  guten  Sache,  so  wie  Irreligion  nichts 
anderes  ist,  als  Verzweiflung  an  der  guten  Sache.  Reli- 
gion ist  mithin  keineswegs  ein  Notbehelf  menschlicher 
Schwäche,  (dies  ist  sie  allerdings,  sobald  man  sich  den 
Religionsglauben  als  einen  theoretischen  Glauben  denkt), 
sondern  die  Macht  des  moralischen  Willens  erscheint  viel- 
mehr nirgends  herrlicher  und  erhabener,  als  in  der  Maxime 
des  religiösen  Menschen:  ich  will,  daß  es  besser  werde, 
wenn  auch  die  Natur  nicht  will!“  (S.  39 — 40.) 

„Kann  man  jedem  Menschen  Religion  zumuten?  Ant- 
wort: Ohne  Zweifel,  so  wie  man  jedem  Menschen  zu- 
muten kann,  gewissenhaft  zu  handeln  . . .“ 

„Kann  man  rechtschaffen  sein,  ohne  einen  Gott  zu 
glauben?  Antwort:  Ja.  Denn  in  der  Frage  ist  ohne  Zweifel 
von  einem  theoretischen  Glauben  die  Rede.“ 

„Kann  ein  Atheist  Religion  haben?  Antwort:  Aller- 
dings. Von  einem  tugendhaften  Atheisten  kann  mein 
sagen,  daß  er  denselben  Gott  im  Herzen  erkenne,  den  er 
mit  dem  Munde  verleugnet.  Praktischer  Glaube  und 
Iheoretischer  Unglaube  auf  der  einen,  so  wie  auf  der  ande- 
ren Seite  theoretischer  Glaube,  der  aber  dann  Aberglaube 
ist,  und  praktischer  Unglaube  können  ganz  wohl  bei- 
sammen bestehen“  (S.  42 — 44). 

Diese  Religion  des  Als-Ob,  wie  wir  sie  kurz 
und  schlagend  nennen  wollen,  trug  dem  Verfasser  (Rek- 


Forberg,  der  Urheber  des  Fichteschen  Atheismusstreites  usw.  327 

tor  des  Lyzeums  in  Saalfeld)  eine  Disziplinaruntersuchung 
ein,  die  aber  ohne  schlimme  Folgen  für  ihn  ablief,  weil 
er  sehr  einsichtige  Richter  hatte.  Forberg  hat  eine  öffent- 
liche Verantwoitun.g  abgeb  gt  unter  dem  Titel : „Friedrich 
Carl  Forbergs  Apologie  seines  angeblichen 
Atheismus“  (Gotha,  bei  Justus  Perthes  1799,  181  S.). 
Aus  dieser  überaus  selten  gewordenen  Schrift  seien  noch 
einige  weitere  Äußerungen  Forbergs  zur  Erläuterung  seines 
Standpunktes  angeführt.  Der  theoretische  Atheismus 
sei  an  sich  eine  bloße  Angelegenheit  der  Spekulation  und 
insofern  harmlos  und  ungefährlich : ja  „eine  Anwandlung 
von  theoretischem  Atheismus  wäre  wohl  etwas,  das  sich 
jeder,  wenigstens  einmal  in  seinem  Leben,  zu  wünschen 
hätte:  nämlich  um  ein  Experiment  zu  machen  mit  seinem 
eigenen  Herzen,  ob  dieses  das  Gute  wolle  um  seiner  selbst 
willen,  wie  sichs  gebührt,  oder  bloß  um  des  Nutzens 
willen,  der  dann,  wo  nicht  in  dieser,  so  doch  in  einer 
andern  Welt  zu  erwarten  steht“  (S.  35).  Etwas  ganz 
anderes  ist  der  praktische  Atheismus  (dem  eben  das 
Sittengebot  nicht  so  heilig  ist,  als  ob  es  ein  Gott,  gegeben 
hätte) : solcher  „pralHischer  Unglaube  ist  niedriger  Egois- 
mus. Wer  praktisch  an  keine  Gottheit  glaubt,  ist  ein  Gott- 
loser. Tugend  ohne  Religion  ist  ein  Widerspruch“  (S.26). 
In  dies  em  Sinne  „enthält  der  Ausspruch  eines  großen 
Weisen:  , selig  sind,  die  reines  Herzens  sind,  denn  sie 
werden  Gott  schauen‘,  einen  wahren  und  tiefen  und  hei- 
ligen Sinn“  (S.  73).  In  diesem  Sinne  ist,  Religion  zu 
haben,  Pflicht  jedes  Menschen. 

Wie  das  gemeint  sei,  das  kommt  auf  S.  i4if.  zum 
Vorschein,  wo  die  bekannte  und  doch  so  unbekannte,  offen- 
bare Geheimlehre  Kants  verkündet  wird  mit  den  Worten: 
das  „Reich  Gottes“,  die  Herrschaft  des  Guten  in  der  Welt, 
die  moralische  Weltordnung  ist  logisch  möglich,  aber  es 
„könnten  sich  gleichwohl  in  der  Wirklichkeit  Um- 
stände ...  in  Menge  finden,  die,  unserer  logischen  Mög- 
lichkeit zum  Trotze,  denn  doch  die  reale  Unmöglichkeit 
bewiesen.  Und  selbst  das  Äußerste  zugegeben,  daß  sich 
die  reale  Unmöglichkeit  eines  Reiches  Gottes  in  diesem 
Augenblicke  erweisen  ließe,  was  wäre  nun  die  Folge? 
Etwa,  daß  alles  Trachten  nach  dem  Reiche  Gottes,  d.  i. 
alle  Sittlichkeit,  von  Stand  an  aufhören,  und  Uneigen- 


328 


Dritter  Teil;  Historische  Bestätigungen. 


nützigkeit  sofort  bis  auf  den  Namen  vom  Erdboden  ver- 
schwinden müßte?  Und  warum  denn  das?  Ist  etwa  das 
Trachten  unmöglich  geworden,  seitdem  man  den  Er- 
folg als  unmöglich  erkannt  hat?“  Der  Gegner,  der  Ver- 
treter der  gemeinen  Menschennatur,  wird  daraufhin,  wie 
Forberg  ausführt,  sagen:  „Das  nicht.  Aber  es  ist  seitdem 
unvernünftig  geworden.“  Aber  der  echte  Kritizismus  ant- 
wortet darauf  mit  Forberg:  „Ohne  Zweifel,  wenn  der 
Erfolg  der  Zweck  des  Strebens,  wenn  das  Ziel  der  Zweck 
des  Laufens  ist.  Aber  wie,  wenn  das  Streben  an  sich 
selbst  Zweck  wäre?  wenn  es  gar  kein  Ziel  zu  erreichen 
gäbe,  oder,  welches  für  die  Kämpfer  Eins  ist,  nur  ein 
Ziel  in  einer  unendlichen  Ferne?  wenn  nicht  gegangen 
würde  um  des  Zieles  willen,  sondern  ein  Ziel  gesetzt 
würde  um  des  Gehens  willen? 

Wenn  ein  Mensch,  der  „eine  Erwartung  eines  Zieles 
der  Art  überhaupt  für  eine  Chimäre  hält“,  der  im  Gegenteil 
überzeugt  ist,  daß  „die  Welt  voll  Torheit,  Falschheit 
und  Bosheit“  ist,  der  also  im  Gegenteil  von  dem  Vor- 
handensein einer  unmoralischen  Weltordnung  überzeugt 
ist,  . . . „dennoch  im  Verhältnis  mit  Menschen  keine 
seiner  Pflichten  Übertritt,  und  durchgängig  nach  Grund- 
sätzen verkehrt,  die  die  höchste  Rücksicht  auf  das  Recht 
der  Menschen  und  das  gemeine  Beste  ankündigen,  so  ist 
dies  wahre  und  echte  religiöse  Gesinnung,  und  sie  ist  es 
nur  darum,  weil  sie  die  Gesinnung  eines  Men- 
schen ist,  der  nicht  glaubt  und  doch  tut.  Also 
nicht  das  (theoretische)  Glauben,  daß  ein  Reich  Gottes 
kömme,  ist  Religion,  sondern  das  Trachten  danach, 
daß  es  komme,  selbst  wenn  man  glaubt,  daß  es  nie- 
mals kommen  werde,  ist  einzig  und  allein  Reli- 
gion“. In  diesem  Sinne  ist  Religion  ein  praktischer 
Glaube  an  das  „Reich  Gottes“,  nämlich  eben  das  Handeln, 
als  ob  ein  solches  durch  unsere  Tätigkeit  herbeigeführt 
werden  könne. 

Hier  haben  wir  die  Religion  des  Als-Ob  in  ihrer 
schärfsten  Ausprägung,  in  ihrer  reinsten  Form.  — 

Forberg  leugnet  unzweideutig  das  Vorhandensein  aller 
moralischen  Weltordnung;  denn  gerade  darauf  beruht  die 
hohe  Würde,  die  Erhabenheit  dieser  Form  der  Religion 


Forberg,  der  Urheber  des  Fichteschen  Atheismusstreites  usw.  329 

des  Als-Ob,  daß  der  Gute  gut  handelt,  obgleich  er 
theoretisch  nicht  an  eine  moralische  Weltordnung 
glaubt;  er  handelt  aber  doch  praktisch  so,  als  ob 
er  trotzdem  an  eine  solche  glauben  würde.  Diese  Reli- 
gion des  Als-Ob  ist  auf  positivistischer  und  zugleich 
pessimistischer  Grundlage  aufgebaut. 

Fichte  ist  umgekehrt  davon  überzeugt,  daß  eine 
solche  moralische  Weltordnung,  eine  göttliche  Weltregie- 
rung wirklich  vorhanden  ist:  seine  Überzeugung  hiervon 
ist  Spekulation,  beruht  auf  Spekulation  und  führt  auf 
Spekulation.  Fichte  begnügt  sich  nicht  mit  dem’  prak- 
tischen Glauben  an  das  Reich  Gottes,  den  Forberg  fordert, 
Fichtes  Glauben  an  dies  Reich  ist,  wenn  auch  natürlich  auf 
praktischem  Grund  erwachsen,  doch  selbst  theoretisch. 
Für  Forberg  ist  die  moralische  Weltordnung  nur  eine  Fik- 
tion, für  Fichte  ein  philosophisches  Axiom,  ein  Dogma. 
Was  für  Forberg  nur  ein  Als-Ob  ist,  ist  für  Fichte  ein 
Daß,  ein  Weil.  Es  handelt  sich  also  um  zwei  ganz  ver- 
schiedene Weltanschauungen,  um  zwei  ganz  verschiedene 
Menschentypen.  Der  Fichtesche  Mensch  sagt:  Ich 
kann  nicht  sittlich  handeln,  wenn  es  keine  moralische 
Weltordnung  gibt,  ich  kann  nur  sittlich  handeln,  weil  es 
eine  solche  gibt.  Der  Forberg  sehe  Mensch  aber  sagt: 
Ich  handle  sittlich,  auch  wenn  es  keine  moralische  Welt- 
ordnung gibt,  ja  obgleich  es  keine  solche  gibt,  aber  ich 
handle  so,  als  ob  es  eine  solche  gäbei^  Für  Fichte 
ist  dieser  Forbergsche,  d.h.  echt  Kantische  Standpunkt 
unerreichbar  und  darum  unverständlich. 

Der  Klarere  und  Konsequentere  war  Forberg.  Aber 
geschichtsteleologisch  war  es  doch  wohl  besser,  daß  nicht 
an  Forberg,  sondern  an  Fichte  die  Weiterentwicklung 
der  deutschen  Philosophie  anknüpfte,  welche  erst  einmal 
die  verschiedenen  Möglichkeiten  zur  Ausgestaltung  brin- 
gen mußte,  welche  in  dem  weit  genialeren  Fichte  an- 
gelegt waren.  Aber  „Genieaufschwünge“,  wie  Kant  sagt, 
führen  oft  in  die  Irre,  und  so  mag  es  ebenso  geschichts- 
teleologisch gerechtfertigt  sein,  daß  wir  heute,  nach  den 
genialen  Verirrungen  der  deutschen  Spekulation,  zu  der 
scharfen  und  klaren  Kant-Forbergschen  Religion  des 
Als-Ob  zurückkehren,  welche  bei  aller  klaren  Schärfe 


330 


Dritter  Teil:  Historische  ßestätigunp^en. 


doch  nicht  der  Wärme  und  der  Poesie  entbehrt,  ja  in  ihrer 
radikalen  Form  das  Erhabenste  ist,  wozu  sich  überhaupt 
der  Menschengeist  oder  vielmehr  das  Merischenherz  auf- 
schwingen kann. 


C. 

Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des 

Ideals“. 

Fast  70  Jahre  hat  es  gedauert,  bis  die  Kant-For- 
bergsche  Religion  des  Als-Ob  wieder  auftauchte,  wenn 
auch  nicht  unter  diesem  Namen  — bei  F.  A.  Lange. 
In  den  sieben  Jahrzehnten  Zwischenzeit  war  die  Philo- 
sophie so  sehr  von  metaphysischen  Systemen,  und  von 
Kontroversen  zwischen  diesen  erfüllt,  daß  der  laute  Lärm 
des  Marktes  philosophischer  Dogmen  die  feinere  Stimme 
der  kritischen  Als-Ob-Lehre  völlig  erstickte.  Und  doch 
nicht  völlig.  Bei  zwei  Männern,  bei  zwei  Theologen  fand 
sie  ein  Echo,  freilich  ein  solches,  daß  ihr  urprünglicher 
Klang  kaum  mehr  zu  erkennen  war  — das  waren  Schleier- 
macher und  De  Wette.  Schleiermacher,  den  wir  schon 
als  einen  Vertreter  der  Als  Ob-Betrachtung  in  Anspruch 
genommen  haben,  ist  wahrscheinlich  mit  den  Aufsätzen 
von  Fichte  und  Forberg  genau  bekannt  gewesen,  fiel 
doch  der  „Atheismusstreit“  in  die  Zeit  seiner  Ent- 
wicklung. Sein  eigener  Standpunkt  ist  eine  Art  Ver- 
bindung des  Fichteschen  Pantheismus  mit  der  Forberg- 
schen  Als-Ob-Lehre  in  abgeschwächter  Form.  Fichte, 
ursprünglich  von  Spinoza  beeinflußt,  setzte,  nachdem 
er  durch  die  Kantische  Kritik  hindurchgegangen  war, 
an  Stelle  der  Spinozistischen  Substanz  das  Ich,  nicht 
das  einzelne,  sondern  das  Ich  überhaupt,  das  ihm  schließ- 
lich mit  Gott  zusammeniiel;  das  Einzel-Ich  ist  von  dem 
absoluten  Ich,  das  für  Fichte  mit  der  Gottheit  identisch 
ist,  abhängig.  Das  Gefühl  dieser  Abhängigkeit  vom  Abso- 
luten ist  dann  für  Schleiermacher  das  fromme  Gefühl. 
Das  Absolute,  von  dem  sich  das  Einzel-Ich  abhängig 
weiß,  ist  aber  unerkennbar.  Jedoch  das  fromme  Bewußt- 
sein h?d  nun  das  Bedürfnis,  sich  diese  Absolute  sym- 


Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“.  331 

bolisch  vorzustellen  nach  Analogie  menschlicher  Ver- 
hältnisse. Die  Idee  eines  Systems  zweckmäßiger  sym- 
bolischer Vorstellungen,  wie  sie  Forberg  als  leitendes 
Grundprinzip  jeder  Theologie  aufstellte,  ist  von  Schleier- 
macher realisiert  worden.  Oft  wiederholt  sich  in  seiner 
Dogmatik  die  Formel  des  „Vorstellen  als“.  Schon  bei 
Schleiermacher  selbst,  noch  mehr  aber  bei  seinen  Nach- 
folgern sind,  nach  dem  Gesetz  der  Ideenverschiebung 
diese  religiösen  Fiktionen  in  Hypothesen  resp.  Dogmen 
übergegangen.  Eine  Weiierbildung  der  Schleiermacher- 
schen  Methode  findet  sich  sodann  bei  Biedermann  und 
Lipsius.  Die  Weiterverfolgung  dieser  historischen  Zu 
sammenhänge,  die  Ausbildung  der  Überzeugung  von  der 
Notwendigkeit  der  religiösen  Bildersprache,  liegt  außer- 
halb des  Rahmens  unserer  Arbeit  und  muß  anderen  über- 
lassen bleiben.  Ebensowenig  kann  hier  auf  De  Welte  ein- 
gegangen werden:  er  war  von  Fries  beeinflußt,  dessen 
Lehre  von  der  Ahnung  auf  manche  Theologen  eingewirkt 
hat.  Auch  De  Wette  vertritt  den  Standpunkt,  daß  die 
Ahnung  des  unbekannten  Absoluten  sich  in  ];ewußten 
Symbolen  aussprechen  müsse.  Die  Einsicht,  daß  die  Re- 
ligion, speziell  die  religiöse  Praxis  sich  mit  Bewußtsein 
notwendig  einer  Bildersprache  bedienen  müsse,  ist  uralt, 
wie  auch  Forberg  mit  Recht  bemerkt;  die  Einsicht,  daß 
die  detaillierteren  Vorstellungen  der  religiösen  Objekte  un- 
entbehrliche Fiktionen  seien,  ist,  wie  in  allenReligiorien,  so 
auch  im  Christentum  von  Anfang  an  vorhanden  gewesen; 
eine  Geschichte  der  wechselnden  Phasen  dieser  Einsicht 
fehlt  noch.  Wo  überhaupt  Theologie  philosophisch  fun- 
diert wurde,  konnte  diese  Einsicht  nicht  fehlen.  Schleier- 
macher und  De  Wette  bilden  also  hierin  nur  besondere 
Phasen  einer  kontinuierlichen  Entwicklung,  welche,  wie 
sie  über  diese  beiden  Männer  in  alte  Zeiten  zurückragt, 
so  auch  über  sie  hinaus  vorwärts  in  die  Gegenwart  hinein- 
reicht. Immerhin  war  aber  bei  diesen  beiden  Theologen, 
unter  dem  Einfluß  der  Kantischen  Religionsphilosophie, 
diese  Methode  besonders  klar  und  stark  entwickelt. 

Wohl  nicht  außer  Zusammenhang  mit  diesen  Män- 
nern, aber  doch  wieder  ganz  selbständig,  steht  nun 
F.A.  Lange.  Er  emanzipierte  sich  von  dem  theologischen 
Einfluß,  und  so  kommt  bei  ihm  das  philosophische  Prinzip 


332 


Dritter  Teil;  Historische  Bestätigungen, 


in  seiner  ursprünglichen  Reinheit  zur  Geltung.  Nur  so 
allein  konnte  es  kommen,  daß  bei  ihm  nicht  mehr  bloß  die 
abgeschwächte,  harmlose  Form  der  Kant-Forbergschen 
Religion  des  Als-Ob  wieder  zum  Vorschein  kam,  sondern 
die  radikale,  konsequentere,  ungeschwächte.  Dies  geschah 
in  seinem  bekannten  Werke:  „Geschichte  des  Materialis- 
mus und  Kritik  seiner  Bedeutung  in  der  Gegenwart“, 
schon  in  der  1.  Auflage  (1865),  mehr  noch  in  der  2.  Auflage 
(1873 — 1875),  nach  deren  Vollendung  der  bedeutende 
und  edle  Denker  starb.  Trotz  der  weiten  Verbreitung  des 
Buches  hat  F.  A.  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“,  der 
in  weiten  Kreisen  Verständnis  und  Nachfolger  fand,  ge- 
rade in  den  Kreisen  der  philosophischen  Fachleute  bis- 
her kein  Verständnis  gefunden.  Man  betrachtete  ihn  als 
eine  individuelle  Kuriosität,  und  da  man  den  verwandten 
Standpunkt  von  Kant  selbst  nicht  richtig  beurteilte  und 
den  von  Forberg  ganz  vergessen  hatte,  so  vermochte 
man  auch  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“  nicht  als  ein 
notwendiges  Glied  einer  großen  Entwicklung  zu  verstehen. 

Was  versteht  nun  F.  A.  Lange  unter  dem  Stand- 
punkt des  Ideals?“  Zusammenfassend  und  sehr  klar 
äußert  er  sich  im  Vorwort  zum  II.  Bande  (in  der 
2.  Auflage,  die  im  folgenden  stets  zitiert  wird)  über  „die 
Erhebung  der  Religion  in  das  Gebiet  des  Ideals“,  durch 
welche  dem  alten  Streit  zwischen  Naturwissenschaft  und 
Theologie  ein  „friedliches  Ende“  bereitet  werden  soll. 
Die  „überwiegende  Wahrscheinlichkeit“  spricht  dagegen, 
„daß  unsere  Phantasiegebilde  [die  religiösen  Vorstellungen 
über  Gott,  Unsterblichkeit  usw.]  Wirklichkeit  haben  möch- 
ten“. F.  A.  Lange  erklärt  sich  ausdrücklich  gegen  die 
agnostizistische  Hinausschiebung  der  religiösen  Vorstel- 
lungen in  das  Gebiet  des  Unerkennbaren,  gegen  Spencer, 
Tyndall  und  selbst  gegen  J.  St.  Mill.  „Im  Gebiet  der 
Wirklichkeit  fordert  die  Sittlichkeit  des  Denkens  von  uns, 
daß  wir  uns  nicht  an  vage  Möglichkeiten  halten,  sondern 
stets  dem  Wahrscheinlicheren  den  Vorzug  geben“,  d.  h. 
in  diesem  Fall  der  Annahme,  daß  es  keine  „Zukunft 
nach  dem  Tode“  und  überhaupt  auch  kein  göttliches 
„Weltregiment“  gibt,  also  überall  keine  moralische  Welt- 
ordnung. Aber  „wir  sollen  uns  im  Geiste  eine  schöne 
und  vollkommenere  Welt  schaffen“  und  dadurch  „das 


Friedricli  Albert  Langes  ,, Standpunkt  des  Ideals“,  333 

Leben  idealisieren“.  Ist  einmal  „dies  Prinzip  gegeben, 
so  wird  man  wohl  auch  den  Mythus  — als  Mythus  — 
müssen  gelten  lassen“  („selbst  der  Ungläubige“  könne 
„das  Idealbild  Christi“  in  diesem  Sinne  „sich  aneignen“). 
„Wichtiger  aber  ist,  daß  wir  uns  zu  der  Erkenntnis  er- 
heben, daß  es  dieselbe  Notwendigkeit,  dieselbe  . . . Wur- 
zel unseres  Menschenwesens  ist,  welche  uns  durch  die 
Sinne  das  Weltbild  der  Wirklichkeit  gibt,  und  welche 
uns  dazu  führt,  in  der  höchsten  Funktion  dichtender 
und  schaffender  Synthesis  eine  Welt  des  Ideals  zu 
erzeugen,  in  die  wir  aus  den  Schranken  der  Sinne  flüchten 
können,  und  in  der  wir  die  wahre  Heimat  unseres  Geistes 
wiederfinden.“ 

Die  dichtende  und  schaffende  Synthesis 
weist  nun  F.  A.  Lange  zunächst,  in  freiem  Anschluß  an 
Kants  Erkenntnistheorie,  als  dasjenige  nach,  was  unsere 
gewöhnliche  Weltvorstellung  erzeugt:  aus  dem  Emp- 
findungsmaterial macht  erst  unsere  synthetische  Funk- 
tion eine  „kausal“  geordnete  Welt  von  „Dingen“.  „Kau- 
salität“ und  „Substanz“  sind  nur  kategoriale  Funktionen 
der  Psyche : „wenn  Kant  die  Produkte  dieser  synthetischen 
Funktion  „Erscheinungen“  nennt  und  diesen  die  „Dinge 
an  sich“  gegenüberstellt,  so  ist  er  darin  selbst  -dem 
täuschenden  Trug  verfallen,  eine  kategoriale  Funktion  — 
das  Ding  — zu  verselbständigen,  zu  hypostasieren.  F. 
A.  Lange  betont  oft  und  energisch  (ohne  diesen  Ausdruck 
zu  gebrauchen)  die  rein  fiktive  Bedeutung  des  Unter- 
schiedes von  „Erscheinungen“  und  „Dingen  an  sich“,  so 
besonders  II,  28,  49,  50,  57,  63,  126,  137 : das  „Ding 
an  sich“  ist  „ein  bloßes  Gedankending“,  „die  konsequente 
Anwendung  unserer  Denkgesetze  führt  uns  auf  den  Begriff 
eines  völlig  problematischen  Etwas“,  das  ist  jedoch  „ein 
bloßer  Grenzbegriff“;  „wenn  man  aber  fragt,  wo  denn 
nun  aber  die  Dinge  bleiben,  so  lautet  die  Antwort : in  den 
Erscheinungen.  Je  mehr  sich  das  Ding  an  sich  zu  einer 
bloßen  Vorstellung  verflüchtigt,  desto  mehr  gewinnt  die 
Welt  der  Erscheinungen  an  Realität“.  „Wir  mögen  uns 
dieser  Anschauung  [daß  Erscheinungen  und  Dinge  an 
sich  zu  unterscheiden  sind],  sofern  sie  eine  notwendige 
Folge  unseres  Verstandesgebrauchs  ist,  nur  ruhig  hin- 
geben, obgleich  derselbe  Verstand  uns  bei  einer  weiteren 


334 


Dritter  Teil:  ilistorische  Bestätigungen. 


Untersuchung  bekennen  muß,  daß  er  diesen  Gegensatz 
selbst  geschaffen“  — m.  a.  W. : wir  bedienen  uns  dieses 
Begriffsapparates  als  einer  nützlichen  Fiktion.  „Die  Natur- 
anlage unserer  Vernunft  führt  mit  Notwendigkeit  dazu, 
neben  der  Welt,  die  wir  mit  unseren  Sinnen  wahrnehmen, 
noch  eine  eingebildete  Welt  anzunehmen.  Diese 
eingebildete  Welt  ist,  sofern  wir  uns  von  ihr  irgendwelche 
bestimmte  Vorstellung  machen,  eine  Welt  des  Scheines, 
ein  Hirngespinst“,  und  damit  verfällt  eben  auch  die 
„intelligible  Welt“  derselben  Verurteilung  (S.  57). 

Die  Auffassung  der  intelligibeln  Welt,  welcher  sich 
bei  dem  offfiziellen  Kant  und  bei  seinen  tradionellen 
Auslegern  findet,  erklärt  F.A.  Lange  für  „bedenklich“, 
„irrig“,  „fatal“  S.  59 — 63) : „Kant  wollte  nicht  einsehen, 
was  schon  Plato  nicht  einsehen  wollte,  daß  ,die  in- 
telligible Welt‘  eine  Welt  der  Dichtung  ist,  und 
daß  gerade  darauf  ihr  Wert  und  ihre  Würde  beruht.  Denn 
Dichtung  in  dem  hohen  und  umfassenden  Sinne,  in 
welchem  sie  hier  zu  nehmen  ist,  kann  nicht  als  ein;  Spiel 
talentvoller  Willkür  zur  Unterhaltung  mit  leeren  Emp- 
findungen betrachtet  werden,  sondern  sie  ist  eine  noU 
wendige  und  aus  den  innersten  Lebenswurzeln  der  Gat- 
tung hervorbrechende  Geburt  des  Geistes,  der  Quell  alles 
Hohen  und  Heiligen,  und  ein  vollgültiges  Gegengewicht 
gegen  den  Pessimismus,  der  aus  dem  einseitigen  Weilen 
in  der  Wirklichkeit  entspringt.  Es  fehlte  Kant  nicht  an 
Sinn  für  diese  Auffassung  der  intelligibeln  Welt,  aber  ... 
Bildungsgang  und  Zeit  . . . verhinderten  ihn  hier,  zum 
vollen  Durchbruch  zu  kommen.“ 

Dieses  Urteil  über  Kant  ist  aber,  wie  unsere  Dar- 
legungen gezeigt  haben,  falsch:  F.  A.  Lange  blieb  in 
den  Kreis  der  traditionellen  Kantauffassung  gebannt  und 
hat  die  Bedeutung  der  Kantischen  Als-Ob-Lehre  nicht 
erkannt.  Für  uns  ist  dies  jedoch  kein  Verlust,  sondern  im 
Gegenteil  ein  Gewinn : denn  eben  weil  F.  A.  Lange  seinen, 
mit  der  Kantischen  (ihm  aber  unbekannten)  Als  Ob-Be- 
trachtung wesentlich  identischen  „Standpunkt  des  Ideals“ 
selbständig  fand  — den  er  seiner  Meinung  nach  als  erster 
einnahm  — eben  darum  ist  F.  A.  Lange  ein  unabhängiger 
Zeuge  dafür,  daß  diesen  Standpunkt  ein  jeder  einnehmen 


Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“.  335 

muß,  der  die  kritischen  Grundgedanken  konsequent  zu 
Ende  denkt. 

Lange  sieht  nicht  direkt  in  Kant,  sondern  in  Schil- 
ler seinen  Vorgänger,  der  „mit  divinatorischer  Geistes- 
kraft das  Innerste  der  Kantischen  Lehren  erfaßt“.  „Schil- 
ler hat  mit  Recht  die  inteliigible  Welt  anschaulich  ge- 
macht, indem  er  sie  als  Dichter  behandelte,  und  damit 
ist  er  in  die  Fußtapfen  Platos  getreten,  der  im  Wider- 
spruche mit  seiner  eigenen  Dialektik  das  Höchste  schuf, 
wenn  er  im  Mythus  das  Übersinnliche  sinnlich  werden 
ließ.  Schiller,  der  Dichter  der  Freiheit,  durfte  es  wagen, 
die  Freiheit  offen  in  das  , Reich  der  Träume*  und  in  das 
, Reich  der  Schatten*  zu  versetzen,  denn  unter  seiner  Hand 
erhüben  sich  die  Träume  und  Schatten  zum  Ideal.  Das 
Schwankende  wurde  zum  sichern  Pol,  das  Zerfließende 
zur  göttlichen  Gestalt,  das  Spiel  der  Willkür  zum  ewigen 
Gesetz,  wenn  er  das  Ideal  dem  Leben  gegenüberstellte. 
Was  Religion  und  Moral  nur  immer  Gutes  hegen,  kann 
nicht  reiner  und  gewaltiger  dargestellt  werden,  als  in 
jenem  unsterblichen  Hymnus,  der  mit  der  Himmelfahrt 
des  gequälten  Göttersohnes  schließt.  Hier  verkörpert  sich 
die  Flucht  aus  den  Schranken  der  Sinne  in  die  intelli- 
gible  Welt.  Wir  folgen  dem  Gott,  der  ,flammend  sich 
vom  Menschen  scheidet*,  und  nun  wechseln  Traum'  und 
Wahrheit  ihre  Rolle  — des  Lebens  schweres  Traumbild 
sinkt  und  sinkt  und  sinkt**  . . . „Nur  was  mit  dem 
Maßstabe  dichterischer  Reinheit  und  Größe  gemessen 
Bestand  hat,  darf  beanspruchen,  ...  als  Unterwei- 
sung im  Ideal  zu  dienen“  (S.  62 f.). 

Dies  der  Standpunkt  des  Ideals,  der  dann  noch 
mals  an  zwei  späteren  Stellen  weiter  ausgeführt  wird, 
S..484 — 50'3,  sowie  besonders  in  dem  eigens  so  be- 
titelten Abschnitt  S.  539 — 562.  Überall  tritt  da  F.A.  Lange 
der  Auffassung  entgegen,  „daß  es  mit  der  Religion  über- 
haupt vorbei  sei,  seit  die  Naturwissenschaft  das  Dogma 
zerstört“  habe:  „die  Religion  sei  zu  erhalten,  aber  auch 
nur  zu  erhalten**  durch  ihre  „Erhebung  in  das  Gebiet 
des  Ideals** : die  Religion  sei,  zusammen  mit  der  Meta- 
physik, „mit  der  Kunst  zusammenzustellen** 
(S.  494).  Es  ist  „ein  Widerspruch  in  der  Natur  unserer 
Organisation,  welche  uns  die  Dinge  ganz,  vollendet,  ge- 


336 


Dritter  Teil : Historische  Bestätigungen. 


rundet  nur  auf  dem  Wege  der  Dichtung  gibt,  stück- 
weise, annähernd,  aber  relativ  genau  auf  dem  Wege  der 
Erkenntnis“.  Freilich  sind  alle  Dichtungen  und  Offen- 
barungen einfach  falsch,  sobald  man  sie  nach  ihrem' 
materiellen  Inhalt  mit  dem  Maßstabe  der  exakten  Er- 
kenntnis prüft,  allein  jenes  Absolute  hat  nur  Wert  als 
Bild,  als  Symbol  . . . und  diese  Irrtümer  oder 
absichtlichen  Abweichungen  von  der  Wirk- 
lichkeit tun  nur  Schaden,  wenn  man  sie  als  materielle 
Erkenntnisse  gelten  läßt“  — sie  sind  also  in  unserer 
Sprache  nützliche  Fiktionen.  Wenn  „der  volle  männ- 
liche Sinn  für  Wirklichkeit  und  probehaltige  Richtigkeit 
ausgebildet  ist,  schwindet  die  Glaubwürdigkeit  jener  Ge- 
schichten, weil  ein  anderer  Maßstab  des  Fürwahr- 
haltens angelegt  wird;  der  Sinn  für  die  Poesie  aber 
bleibt  dem  echten  Menschenkinde  durch  alle  Stufen  des 
Lebens  getreu.“  In  der  Poesie  wird,  wie  es  S.  540  heißt, 
„der  Boden  der  Wirklichkeit  mit  Bewußtsein  auf- 
gegeben“ — also  handelt  es  sich  eben  auch  in  den  meta- 
physisch-religiösen Dichtungen  um  — bewußte  Er- 
dichtungen. 

Also  „ein  anderer  Maßstab  des  Fürwahrhaltens“  ist 
notwendig  für  die  religiösen  Vorstellungen,  als  für  die 
wissenschaftlichen,  und  damit  auch  ein  anderer  Wahr- 
heitsbegriff. „Die  Alten  sahen  den  Dichter  als  einen 
begeisterten  Seher  an,  der  von  seinem  Gegenstand  ganz 
erfüllt,  ganz  hingerissen,  der  gemeinen  Sterblichkeit  im 
Geiste  entrückt  war.  Sollte  nicht  dasselbe  Ergriffensein 
von  der  Idee  auch  in  der  Religion  sein  Recht  haben  ? Und 
wenn  es  denn  Gemüter  gibt,  die  so  tief  in  diesen  Er- 
regungen leben,  daß  ihnen  die  gemeine  Wirklichkeit  der 
Dinge  davor  zurücktritt,  wie  wollen  diese  die  Lebendigkeit, 
die  Stetigkeit,  die  Wirksamkeit  ihrer  Erlebnisse  anders 
bezeichnen,  als  mit  dem  Worte:  Wahrheit?“  „Da  die 
Sprache  nun  einmal  dem  Volke  gehört,  so  werden  wir  den 
doppelten  Gebrauch  des  Wortes  , Wahrheit*  für  einstweilen 
schon  deswegen  einräumen  müssen.“  Auch  der  „Philo- 
soph kann  die  zweite  Bedeutung  des  Wortes  Wahrheit 
gelten  lassen,  aber  nie  vergessen,  daß  sie  eine  bildliche 
ist.  Er  kann  sogar  warnen  vor  einem  blinden  Eifer  gegen 
die  , Wahrheiten*  der  Religion,  wenn  er  überzeugt  ist,  daß 


Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“.  337 

der  ideale  Gehalt  derselben  noch  Wert  für  unser  Volk 
hat“  (S.  496). 

Immer  und  immer  wieder  weist  F.  A.  Lange  auf  die 
R olle  „des  dichtenden  Prinzips  in  der  Religion“  (S.  503)  hin, 
die  schon  der  antiken  Welt,  speziell  den  Stoikern  zum 
Bewußtsein  gekommen  sei  (S.  501);  darum  eben  sei  die 
Idee  „einer  von  jedem  Irrtum  geläuterten  Religion“ 
(S.  497)  ein  verkehrter  Wahn,  denn  überall  und  immer 
bestehe  die  Religion  aus  einem  Gewebe  oder  Gebäude  von 
Dichtungen,  aus  einer  „Vor st ellungs- Architektur“ 
(S.  496),  die  je  nach  dem  Bedürfnis  der  Zeiten  „in  ihrer 
Gestalt  wechselt  (S.  494),  die  aber  immer  „den  Charakter 
des  Absoluten“  (S.  493)  an  sich  trägt.  In  diesem  Sinn 
„wird  der  echte  Idealismus  stets  neben  die  Erscheinungs- 
welt eine  Idealwelt  stellen,  und  der ' letzteren,  selbst 
wenn  sie  nur  als  ein  Hirngespinst  auftritt, 
alle  diejenigen  Rechte  einräumen,  welche  aus  ihren  Be- 
ziehungen zu  unseren  geistigen  Lebensbedürfnissen  fol- 
gen“ (S.  530).  ,,Der  theoretische  Materialismus  (dem  alles 
verwerflich  ist,  „was  sich  nicht  als  wahr  für  den  ge- 
meinen Verstand  erweisen  läßt“  S.  506,  der  „die  ideale' 
Seite  des  religiösen  Lebens“  nicht  versteht,  weil  für 
ihn  „das  Ideale  keinen  Kurs  hat“  (S.  537),  kann  sich 
ohne  Inkonsequenz  nicht  zu  diesem  Standpunkt  erheben, 
weil  für  ihn  das  Ausgehen  vom  Ganzen  . . . ein  Irrtum 
ist.  Der  Materialist  kann  nicht  dem  Worte  Schillers 
folgen:  Wage  du  zu  irren  und  zu  träumen“  (S.  513). 
Dies  aber  eben  ist  der  „Standpunkt  des  Ideals“. 

Diesem  „Standpunkt  des  Ideals“  ist  nun  ein  eigener 
x\hschnitt  gewidmet,  unter  diesem  Titel  (S.  539 — 62), 
F.  A.  Lange  führt  daselbst  seinen  Kampf  nach  zwei 
Fronten  hin,  den  wir  schon  bisher  verfolgt  haben,  zu 
Ende.  Einerseits  kämpft  F.  A.  Lange  gegen  den  Dogma- 
tismus resp.  gegen  die  Orthodoxie;  „so  lange  diese 
Richtung  herrscht,  wird  der  Standpunkt  des  Ideals  in  der 
Religion  niemals  rein  hervortreten  können  . . .,  das  Sym- 
bol wird  unwillkürlich  und  allmählich  zum  starren  Dog- 
ma, wie  das  Heiligenbild  zum  Götzen,  und  der  natür- 
liche Widerstreit  zwischen  Poesie  und  Verstand  artet  auf 
religiösem  Gebiet  leicht  in  Abneigung  aus  gegen  das 
schlechthin  Richtige,  Nützliche  und  Zweckmäßige“  . . . 

A'ai’iinger,  Philosophie.  22 


338 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Die  dogmatisch-orthodoxe  Richtung  „denkt  sich  das  ideale 
Lebenselernent  . . . zugleich  mit  gemeiner  Wirklichkeit 
begabt,  und  nimmt  alles  historisch,,  was  nur  symbolisch 
gelten  soll“  (S.  Ö57f.).  Und  „doch  kann  man  stets  bei 
den  orthodoxen  Eiferern  in  ihren  Reden  und  Scliriften  den 
Punkt  entdecken,  wo  sie  offenkundig  in  das  Symbol  über- 
gehen“ (S.  549),  wo  sie  also  inkonsequent  werden,  wo  sie 
selbst  zugeben  müssen,  daß  mindestens  ein  Teil  ihrer 
religiösen  Vorstellungen  nur  symbolisch  ist. 

Die  andere  Front,  gegen  welche  F.  A.  Lange  kämpft, 
ist  der  Materialismus,  nicht  als  wissenschaftliche  Methode 
— denn  in  dieser  Form  billigt  F.  A.  Lange  die  materiali- 
stisch-mechanische Erklärung  des  Seins  und  Geschehens — , 
sondern  wenn  und  insoweit  der  Materialismus,  was  er 
konsequenterweise  tun  muß,  die  religiöse  Vorstellungswelt 
überhaupt  verwirft,  nicht  bloß  in  Form  eines  Systems  dog- 
matischer Lehrmeinungen,  sondern  auch  in  Form  von 
brauchbaren  und  haltbaren  Symbolen,  wenn  also  der 
Materialismus  die  religiösen  Vorstellungen  überhaupt  zum 
alten  Eisen  wirft.  Dieser  Richtung  gegenüber  verlangt 
F.A.  Lange  „Anerkennung  des  Idealen“  (S.  559)  nicht  nur 
in  der  Weise,  daß  der  Materialist  edle,  ideale  Bes  treb  un- 
gen  haben  solle  — das  ist  glücklicherweise  meistens  der 
Fall  — , sondern  in  der  Weise,  daß  er  auch  den  hohen 
Wert  und  tiefen  Sinn  der  idealen  Vorstellungen  aner- 
kennen soll,  also  den  Wert  der  religiösen  Vorstellungen, 
dieser  Vorstellungsarchitektur,  oder  wie  es  S.  546  heißt, 
der  „Architektur  der  Ideen“,  in  denen  „dem  Ewigen 
und  Göttlichen  (d.  h.  ihren  Idealen)  ein  Tempel  der  Ver- 
ehrung errichtet  wird“.  Diese  metaphysisch-religiösen 
Ideen  kann  man  „in  ihrer  ethischen  Wirkung“  festhalten, 
„ohne  den  Tatsachen  Gewalt  anzutun“.  „Das  allein  kann 
die  Menschheit  zu  einem  immerwährenden  Frieden  (zwi- 
schen Religion  und  Naturwissenschaft)  führen,  wenn  die 
unvergängliche  Natur  aller  Dichtung  in  Kunst,  Religion 
und  Philosophie  erkannt  wird,  und  wenn  auf  Grund  dieser 
Erkenntnis  der  Widerstreit  zwischen  Forschung 
und  Dichtung  für  immer  versöhnt  wird“  (S.  560).  Also 
Sinn  und  Achtung  für  die  Religion  als  Dichtung  — 
dies  verlangt  F.  A.  Lange  auch  vom  Materialisten.  „Eins 
ist  sicher:  daß  der  Mensch  einer  Ergänzung  der  Wirk- 


Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“.  339 

lichkeit  durch  eine  von  ihm  selbstgeschaffene  Idealwelt 
bedarf,  und  daß  die  höchsten  und  edelsten  Funktionen, 
seines  Geistes  in  solchen  Schöpfungen  Zusammenwirken“; 
und  man  verleiht  dem  so  geschaffenen  „Ideal  eine  über- 
wältigende Kraft,  indem  man  es  (mit  Schiller)  offen  und 
rückhaltlos  in  das  Gebiet  der  Phantasie  verlegt“ 
(S.  545).  In  diesem  Sinne  „gewöhne  man  sich,  die  Welt 
der  Ideen  . . . für  gleich'  unentbehrlich  zu  jedem  mensch- 
lichen Fortschritt  zu  betrachten,  wie  die  Erkenntnisse  des 
Verstandes,  indem  man  die  größere  oder  geringere  Bedeu- 
tung jeder  Idee  auf  ethische  und  ästhetische  Grundlagen 
zurückgeführt“  (S.  548)  — wobei  man  beachte,  daß 
F.  A.  Lange,  der  Schillers  Gedichte  richtig  als  Früchte 
des  kritischen  Geistes  erkannte,  neben  die  ethische  Grund- 
lage, welche  Kant  allein  betont,  mit  Recht  auch  die  ästhe- 
tische stellt.  Dieser  ästhetische  Einschlag  zeigt  sich  auch, 
wenn  F.  A.  Lange  sagt,  der  Gedanke  der  göttlichen  Har- 
monie, in  der  alles  Disharmonische  verschwinde,  „von  der 
überschauenden,  göttlichen  Betrachtung  der  Welt,  in  wel- 
cher sich  alle  Rätsel  lösen  und  alle  Schwierigkeiten  ver- 
schwinden, werde  vom  Pessimismus  mit  Erfolg  zerstört, 
aber  diese  Zerstörung  trifft  nur  das  Dogma,  nicht  das 
Ideal“  (S.  544)  — also  es  hleibt  uns  unbenommen,  jenen 
Gedanken  als  bewußte  religiöse  Fiktion  festzuhalten. 

Der  „Kern  der  Religion“  besteht  in  der  „Überwin- 
dung alles  . . . Aberglaubens  durch  die  bewußte  Er- 
hebung über  die  Wirklichkeit  und  in  dem  defini- 
tiven Verzicht  auf  die  Verfälschung  des  Wirklichen  durch 
den  Mythus,  der  ja  nicht  dem  Zweck  der  Erkenntnis 
dienen  kann“  (S.  546).  Gegenüber  dem  groben  Glauben 
an  die  grobe  Wirklichkeit  der  religiösen  Vorstellungswelt 
besteht  „das  Prinzip  der  Vergeistung  der  Religion“ 
also  darin,  die  religiösen  Vorstellungen  mit  Bewußt- 
sein als  Mythen  zu  verehren.  So  lange  man  den 
„Kern  der  Religion“  in  gewissen  „Lehren  über  Gott,  die 
menschliche  Seele,  die  Schöpfung  und  ihre  Ordnung 
suchte,  konnte  es  nicht  fehlen,  daß  jede  Kritik,  welche 
damit  begann,  nach  logischen  Grundsätzen  die  Spreu  vom 
Weizen  zu  sondern,  zuletzt  zur  vollständigen  Negation 
werden  mußte.  Man  sichtete,  bis  nichts  mehr  übrig  blieb.“ 
Man  erblicke  dagegen  den  „Kern  der  Religion“  „in  der 


3 U)  Dritter  Teil : Historisclie  Bestätigungen. 

Erhebung  der  Gemüter  über  das  Wirkliche“  hinaus 
in  die  erdichtete  „Heimat  der  Geister“,  also  ins  Unwirk- 
liche. Bei  der  Religion  liegt  das  Wesen  der  Sache  in 
der  Form  des  geistigen  Prozesses  (d.  h.  eben  in  jener  be- 
wußten Erhebung  über  das  Wirkliche),  „nicht  im  logisch- 
historischen Inhalt  der  einzelnen  . . . Lehren“  (S.  550). 
Der  „ideale  Gehalt  und  Inhalt  der  Religion“  (S.  556/7)  bleibt 
so  für  alle  Zeit  erhalten  - aber  nicht  mehr  als  Dogma, 
sondern  als  frei  von  uns  selbst  erschaffenes  Ideal,  das 
wir  mit  vollem  Bewußtsein  eben  als  bloßes  Ideal  erkennen, 
aber  nichtsdestoweniger  so  verehren,  daß  wir  unser  Gemüt 
daran  erheben,  unser  Handeln  danach  einrichten. 

Es  ist  nun  ein  vielverbreiteter  Grundirrtum,  dem  be- 
sonders die  Materialisten  leicht  verfallen,  solche  bewußten 
Erdichtungen  darum  für  wertlos  zu  halten:  im  Gegenteil, 
eben  in  jenen  Ideen  und  Idealen  liegen  die  höchsten 
Werte  der  Menschheit.  Die  Überordnung  dieser 
Ideen  über  die  gemeine  Wirklichkeit  „beimht  nicht  aut 
größerer  Sicherheit,  sondern  auf  einer  größeren  Wert- 
schätzung, gegen  die  ein  für  allemal  weder  mit  der 
Logik,  noch  mit  der  tastenden  Hand  und  dem  sehenden 
Auge  etwas  auszurichten  ist,  weil  für  sie  die  Idee  als 
Form  ...  der  Gemütsverfassung  ein  mächtigeres  Objekt 
der  Sehnsucht  sein  kann,  als  der  wirkliche  Stoff“  (S.549). 
Der  „wahre  Wert“  jener  Ideen  liegt  im  Stil,  gleichsam  in 
der  Form  der  Vorstellungsarchitektur  und  in  dem  Ein- 
druck dieser  Vorstellungsarchitektur  auf  das  „Gemüt“ 
(S.494).  Mit  dieser  „Welt  der  Werte“  muß  die  „Weit  des 
Seienden“  in  Verbindung  gebracht  werden,  um  dieser 
durch  jene  „ethische“  Bedeutung  zu  verleihen  (S.  546). 
Daraus  folgt  für  uns  bei  konsequentem  Denken:  die  „Welt 
des  Seienden“  muß  also  durch  das  Nichtseiende 
ergänz!  werden,  durch  das  Erdichtete,  das  Eingebildete, 
und  eine  wahre,  kritische  „Philosophie  der  Werte“,  von 
der  man  neuerdings  spricht,  wird  stets  nur  als  Philo- 
sophie des  Als-Ob  auftreten  können. 

„Eine  Wirklichkeit,  wie  der  Mensch  sie  sich  ein- 
bildet, ein  absolut  festes,  von  uns  unabhängiges  und  doch 
von  uns  erkanntes  Dasein  — eine  solche  Wirklich- 
keit gibt  es  nicht  und  kann  es  nicht  geben“ 
(S.  539)  — sie  ist  eine  ,, Schöpfung  des  Ideals“,  also  eben 


Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“.  341 

ein  Nichtseiendes,  aber  als  seiend  gesetztes.  Diese  Welt 
ist  „ein  Erzeugnis  freier  Synthesis“.  Die  unbekannten 
Faktoren  des  Geschehens  „stellen  wir  uns  vor  als  Dinge, 
welche  unabhängig  von  uns  bestehen,  und  denen  also  jene 
aLsolute  Wirklichkeit  zukäme,  welche  wir  eben  für  un- 
möglich erklärten.  Allein  es  bleibt  bei  der  Unmöglichkeit. 
Denn  schon  im  Begriff  des  Dinges  . . . liegt  jener  sub- 
jektive Faktor,“  den  F.  A.  Lange  allgemein  als  die  Syn- 
thesis bezeichnet.  „Dieser  synthetische,  schaffende  Fak- 
tor unserer  Erkenntnisse  erstreckt  sich  bis  in  die  ersten 
Sinneseindrücke  und  bis  in  die  Elemente  der  Logik  hin- 
ein“ (S.  539).  „Aber  die  Aufgabe,  Harmonie  in  den  Er- 
scheinungen zu  schaffen  und  das  gegebene  Mannigfaltige 
zur  Einheit  zu  binden,  kommt  nicht  nur  den  synthetischen 
Faktoren  der  Erfahrung  zu,  sondern  auch  denen  der  Spe- 
kulation“. Bei  der  Erfahrung  ist  der  synthetische  Faktor 
noch  an  den  Stoff  gebunden,  auch  „die  Begriffsdichtung 
der  Spekulation  ist  noch'  keine  völlig  freie“,  aber  immerhin 
hat  „in  der  Spekulation  die  Form  das  Übergewicht  über 
den  Stoff,  in  der  Poesie  beherrscht  sie  ihn  vollständig“. 
„Von  den  niedersten  Stufen  der  Synthesis  ...  bis  hinauf 
zu  ihrem  schöpferischen  Walten  in  der  Poesie  ist  das 
Wesen  dieses  Aktes  stets  gerichtet  auf  die  Erzeugung  der 
Einheit,  der  Harmonie,  der  vollkommenen  Form.“  Damit 
hat  Lange  die  letzte,  tiefste  Wurzel  des  ganzen  metaphy- 
sischen und  religiösen  Dichtens  aufgedeckt. 


Die  Bedeutung  der  synthetischen,  dichtenden  Kraft 
der  menschlichen  Natur  für  unser  Erkennen  und  Leben 
hat  Lange  von  Anfang  an  erkannt.  Er  sah  vor  allem, 
daß  schon  unsere  gewöhnliche  Weltanschauung  (nicht 
bloß  die  religiös-metaphysische,  die  wir  bisher  mit  Lange 
analysiert  und  zum  „Standpunkt  des  Ideals“  erhoben 
haben,  durchsetzt  ist  von  erdichteten  Begriffen,  die  aber 
als  Hilfsvorstellungen  für  uns  notwendig  sind,  und  die 
auch  notwendig  für  uns  bleiben,  wenn  wir  sie  als  Er- 
dichtungen durchschaut  haben.  Dazu  gehört  in  erster 
Linie  die  Vorstellung  von  Dingen  überhaupt.  In  diesem 
Sinne  heißt  es  H,  214  ff. : „Ein  ,Ding‘  wird  uns  nur;  durch 
seine  Eigenschaften  bekannt  . . . Das  ,Ding‘  ist  aber  in  der 


342 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Tat  nur  der  ersehnte  Ruhepunkt  für  unser  Denken.  Wir 
wissen  nichts  als  die  Eigenschaften  und  ihr  Zusammen- 
treffen in  einem  Unbekannten,  dessen  Annahme  eine 
Dichtung  unseres  Gemütes  ist,  aber,  wie  es  scheint, 
eine  notwendige,  durch  unsere  Organisation  gebotene.“ 
Wir  können  keine  Eigenschaft  ohne  Träger,  keine  Kraft 
ohne  Stoff  annehmen : „der  Grund  ist  nur  in  der  psy- 
chischen Organisation  zu  suchen,  welche  uns  unsere  Beob- 
achtungen unter  der  Kategorie  der  Substanz  erscheinen 
läßt“. 

„Die  Materialisten  nehmen  in  naiver  Weise  die  un- 
bekannte Materie  als  einzige  Substanz ; Helmholtz  dagegen 
ist  sich  wohl  bewußt,  daß  es  sich  nur  um  eine  Annahme 
handelt,  welche  durch  die  Natur  unseres  Denkens  ge- 
fordert wird,  ohne  für  das  wahrhaft  Wirkliche  Geltung 
zu  haben.“  Wenn  Helmholtz  eine  derartige  Annahme  eine 
„Abstraktion“  nennt,  so  bemerkt  Lange  hierzu:  „rich- 
tiger eine  notwendige  Dichtung,  eine  mit  psychischem 
'Zwang  eintretende  Personifikation“  — also  eben  eine 
Fiktion. 

Eine  naturwissenschaftliche  Modifikation  des  mate- 
riellen Dinges,  dessen  fiktive  Natur  hier  Lange  richtig  er- 
kennt, ist  das  Atom,  das  von  ihm  natürlich  auch  nur  als 
ein  Produkt  derselben  dichtenden  Synthesis,  zugleich  aber 
als  notwendige  Hilfsvorstellung  durchschaut  wird.  Schon 
I,  44  nennt  Lange  das  Atom  „eine  notwendige  Vor- 
st eil  ungs  weise  für  einen  unbekannten  Sachverhalt“. 
In  diesem  Sinne  vergleicht  Lange  „die  Atome  und  ihre 
Schwingungen“  mit  einem  „Baugerüst“,  das  man  fallen 
lasse,  wenn  der  Bau  vollendet  ist,  das  aber  zum  Bau 
absolut  notwendig  ist  (H,  166).  Wenn  Liebig  die  Vor-. 
Stellung  der  Atome  eine  willkürliche  „Übereinkunft“  nenne, 
wenn  Schönlein  in  bezug  hierauf  von  „Spielen  der  Ein- 
bildungskraft“ rede,  so  sei  doch  zu  bedenken,  daß  diese 
„Spiele  der  Einbildungskraft“  „gewiß  nicht  dazu  dienen, 
den  Verstand  zu  täuschen,  sondern  ihn  zu  leiten  und  zu 
stützen“.  Solch  eine  sinnliche  Anschauung,  wenn  sie 
streng  durchgeführt  werde,  „dient,  selbst  wenn  sie 
materiell  falsch  ist,  oft  in  ausgedehntem  Maße  als 
Bild  und  einstweiliger  Ersatz  der  richtigen  Anschauung“; 
„die  Benutzung  der  Einbildungskraft  zur  Ordnung  unserer 


Friedrich  Albert  Langes  „Standpunkt  des  Ideals“.  343 

Gedanken  ...  ist  also  in  der  Tat  mehr  als  bloßes'  Spiel“ 
(II,  190).  Die  verschiedenen  Atomvorstellungen  wechseln 
je  nach  „dem  Bedürfnis  der  Rechnungen“  (S.  191  ff.).  Die 
Einsicht  in  diese  Beschaffenheit  der  Atome  als  bloßer 
Rechenpfennige  darf  natürlich  nicht  dazu  führen,  „dem 
Physiker  den  nächsten,  d.  h.  technischen  Gebrauch 
der  Atomistik  abstreiten  zu  wollen“  (S.  194  ff.).  Lange 
erkennt  also  ganz  treffend  die  rein  fiktive  Natur  der 
Atome,  obgleich  er  ungenauerweise  sie  mehrfach  „hypo- 
thetisch“ nennt. 

Sehr  treffend  wendet  sich  Lange  gegen  diejenigen, 
die  der  Atomistik  den  angeblichen  anti-atomistischen  Dy- 
namismus Kants  als  Gorgonenhaupt  entgegenhalten:  „es 
ließe  sich  die  Frage  aufwerfen,  ob  sich  nicht  die  Not- 
wendigkeit einer  atomistischen  Vorstellungsweise  aus  den 
Prinzipien  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  deduzieren 
ließe“;  dieser  Versuch  sei  auch  ganz  aussichtsvoll:  „denn 
die  Wirkungsweise  der  Kategorie  in  ihrer  Verschmelzung 
mit  der  Anschauung  geht  stets  auf  Synthesis  in  einem 
abgeschlossenen,  also  in  unserer  Vorstellung  von  den  un- 
endlichen Fäden  alles  Zusammenhanges  abgelösten 
Gegenstände.  Bringt  man  die  Atomistik  unter  diesen 
Gesichtspunkt,  so  würde  die  Isolierung  der  Massenteilchen 
als  eine  notwendige  physikalische  Vorstellung 
erscheinen,  deren  Gültigkeit  sich  auf  den  gesamten  Zu- 
sammenhang der  Welt  der  Erscheinungen  erstreckte,  wäh- 
rend sie  eben  doch  nur  der  Reflex  unserer  Organisation 
wäre.:  das  Atom  (das  nach  S.  250  eine  „bloß  gedachte  Ein- 
heit“ ist)  wäre  eine  Schöpfung  des  Ich,  aber  ge- 
rade dadurch  notwendige  Grundlage  aller  Na- 
turwissenschaft“ (S.  211).  In  dieser  prächtigen  Stelle 
hat  Lange  die  Atomistik  aufs  Treffendste  als  methodische 
Fiktion  gekennzeichnet. 

Daß  auch  der  gewöhnliche  Kraftbegriff  eine  solche 
methodische,  „die  Betrachtung  erleichternde“  Fiktion  ist, 
ist  die  Korrelateinsicht  (I,  143),  die  auch  mit  der  Erkennt- 
nis verbunden  ist,  daß  der  Kraftbegriff  zwar  „offenbare 
Widersprüche  in  sich  birgt“,  aber  doch  zweckmäßig  ist 
(I,  264);  Lange  weist  dies  speziell  für  die  chemischen 
„Kräfte“,  besonders  die  Affinität  nach  (II,  184 — 187)  und 
zeigt,  daß  derartige  „sinnliche  Vorstellungsweisen“  „nur 


344 


Drilter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Hilfsmittel“,  nicht  definitive  „Erkenntnisse“  sind:  „so 
spricht  man  von  den  Affinitätspunkten  der  Atome, 
vom  Haften  an  denselben,  von  besetzten  und  noch  freien 
Punkten,  wie  wenn  man  an  dem  . . . Körper  des  Atoms 
solche  Punkte  vor  sich  sähe“  (S.  200).  Beifällig  zitiert 
Lange  (S.  204)  die  bekannte  Wendung  von  Du  Bois-Rey- 
mond,  „Kraft“  sei  „gleichsam  ein  rhetorischer  Kunstgriff 
unseres  Gehirns“.  Man  bringt,  meint  Lange  richtig  S.  206, 
damit  eigentlich  „einen  falschen  Faktor  in  die 
Rechnung“,  und  zeigt,  wie  man  die  daraus  notwendig 
entspringenden  Fehler  vermeiden  kann,  wobei  sich  Lange 
auf  eine  Stelle  von  Helmholtz  beruft,  in  welcher  dieser  die 
Methode  der  entgegengesetzten  Fehler  treffend  kennzeich- 
net. Lange  zeigt,  wie  wir  es  machen  müssen,  daß  diese 
„Hilfsausdrücke“  (S.  219)  uns  nicht  zu  Fallstricken  wer- 
den — er  gibt  also  eine  Methode  der  wissenschaftlichen 
Fiktion. 

Umgekehrt  erkennt  aber  Lange  auch  die  Teleologie 
als  bloß  methodische  Fiktion;  schon  I,  373  hatte  Lange 
darauf  hingewiesen,  daß  sogar  Holbach  diesen  Standpunkt 
eiiinehme:  „der  Mensch  mag  sich  dieser  Vorstel- 
lungen bedienen,  wenn  er  nur  von  ihnen  frei 
ist,  und  weiß,  daß  er  es  nicht  mit  äußeren  Dingen,  son- 
dern mit  unzutreffenden  Vorstellungen  von  denselben  zu 
tun  hat“,  wozu  Lange  bemerkt:  „daß  aber  solche  den 
Dingen  an  sich  keineswegs  entsprechende  Vorstellun- 
gen . . . nicht  nur  als  bequeme  . . . Angewöhnungen  . . ., 
zu  dulden  seien,  sondern  daß  sie  trotz  — oder  vielleicht 
sogar  w'egen  ihrer  Geburt  aus  dem  Menschengeist  zu  den 
edelsten  Gütern  des  Menschen  gehören“.  In  diesem  Sinne 
nennt  Lange  II,  276  die  Teleologie  ein  „heuristisches  Prin- 
zip“, das  er  im  Anschluß  an  Kant  so  formuliert:  „Wir 
werden  vermöge  der  Vernunftidee  einer  absoluten  wechsel- 
seitigen Bestimmung  der  Teile  im  Weltganzen  dazu  ge- 
bracht, die  Organismen  so  anzusehen,  als  ob  sie  Produkt 
einer  Intelligenz  wären. 

F.  A.  Lange  hat  also,  wie  wir  sahen,  schon  erkannt,  daß 
man  in  Wissenschaft  und  Leben  erdichtete,  also  am  Maß- 
stab der  empirischen  Wirklichkeit  gemessen,  falsche 
Vorstellungen  verwenden  muß,  und  zwar  mit  dem 
Bewußtsein  ihrer  Falschheit;  er  hat  also,  wie 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bevaißt  gewollten  Schein.  345 


wir  schon  am  Beginn  unseres  Werkes  sahen,  erkannt,  daß 
dem  Denken  und  Leben  Fiktionen  unentbehr- 
lich sind. 


D. 

Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten 

Schein. 

(„Der  Wille  zum  Schein.“) 

Daß  Leben  und  Wissenschaft  ohne  erdichtete,  also  falsche  Vor- 
stellungen nicht  möglich  sind,  das  hat  auch  Fr.  Nietzsche  erkannt. 
Daß  solche  erdichteten,  also  falschen  Vorstellungen  von  den  Menschen 
unbewußt  zum  Vorteil  von  Leben  und  Wissenschaft  angewendet 
werden,  hat  Nietzsche  im  Anschluß  an  Schopenhauer  und  wohl 
auch  an  Richard  Wagner  und  dessen  Lehre  vom  „Wahn“  frühzeitig 
bemerkt.  Daß  aber  solche  falsche  Vorstellungen  auch  vom  geistig 
Gereiften  noch  mit  dem  Bewußtsein  ihrer  Falschheit 
angewendet  werden  müssen,  sowohl  im  Leben  als  in  der  Wissenschaft, 
das  hat  Nietzsche  allmählich  immer  klarer  eingesehen,  und  hierin 
ward  ihm  F.  A.  Lange  zum  Führer. 

Nietzsche,  dem  Langes  Name  wohl  schon  durch  die  Bonner 
Philologenkreise  vorher  bekannt  geworden  war,  hat  dann  die  im 
Oktober  1865  erschienene  „Geschichte  des  Materialismus“  nach  seinem 
Weggang  aus  Bonn  kennen  gelernt.  An  Freund  Gersdorft  schreibt 
er  im  September  1866  einen  begeisterten  Brief  über  das  Buch,  dem 
er  ganz  zustimmt,  einen  noch  begeisterteren  an  denselben  am 
16.  Februar  1868  (Gesammelte  Briefe,  3.  Aufl.,  1902,  I.,  48  und  97). 
N.  nennt  es  „ein  Buch,  das  imendlich  mehr  gibt,  als  der  Titel  ver- 
spricht und  das  man  als  einen  wahren  Schatz  wieder  mid  wieder 
anschauen  und  durchlesen  mag.“  Daß  auch  besonders  Langes 
Lehre  von  der  Metaphysik  als  berechtigter  „Dichtung“  auf  N.  tiefen 
Eindruck  gemacht  hat,  geht  aus  einem  Briefe  Rohdes  an  N.  hervor 
(vom  November  1868  in  N.s  Ges.  Briefen,  2.  Aufl.,  1902,  II,  80).  ,Daß 
das  bedeutsame  Buch  bei  Nietzsche  noch  lange  nachgewirkt  hat, 
ergibt  sich  schließlich  auch  aus  einigen  polemischen  Bemerkungen 
gegen  dasselbe,  die  sich  Bd.  XIII,  S.  339  und  XIV,  S.  14  finden.  Die 
folgende  Darstellung  von  Nietzsches  Lehren  zeigt,  wenn  wir  sie  mit 
denen  F.  A.  Langes  vergleichen,  daß  Nietzsche  in  der  Lehre  vom 
Schein  direkt  als  ein  Schüler  und  Fortsetzer  Langes  bezeichnet  wer- 
den muß. 

Ganz  in  derselben  Weise  wie  Lange  lehrt  N.  die  hohe  Bedeutung 
des  „Scheins“  in  allen  Gebieten  der  Wissenschaft  und  des  Lebens, 
sowie  der  tiefgegründeten,  weitgreifenden  Funktion  des  „Dichtens“ 
und  „Fälschens“,  und  des  fälschenden,  dichtenden  „Schaffens“,  und 
damit  den  Wert  und  das  Recht  des  „Mythus“  nicht  nur  in  der 
Religion;  N.  lehrt  wie  Lange,  daß  der  Welt  des  „schwankenden“, 
„zerfließenden“  Werdens  im  Interesse  des  Begreifens  und  der  ästhe- 
tischen Befriedigung  von  der  „Phantasie“  eine  AVelt  des  „Seins“ 


346 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


gegenübergest.ellt  wird,  in  welcher  alles  „vollendet“  und  „gerundet“ 
erscheint  und  daß  dadurch  ein  Gegensatz,  ein  „Kampf“  zwischen  „Er- 
kenntnis“ und  „Kunst“,  zwischen  „WissenschaH“  und  „Weisheit“  ent- 
steht, „der  eben  nur  dadurch  gelöst  wird,  daß  jene  „erdichtete“ 
Welt  als  berechtigter  und  „unentbehrlicher“  „Mythus“  anerkannt  wird, 
woraus  sich  endlich  ergibt,  daß  „Falsch“  und  „Wahr“  „relative“ 
Begriffe  sind.  All  dies  hat  Nietzsche  schon  bei  F.  A.  Lange  vorfinden 
können.  Man  hat  diesen  Kantischen,  oder  wenn  man  lieber  will.  Neu- 
kantischen  Ursprung  der  Nietzscheschen  Lehre  bisher  vollständig  ver- 
kannt, weil  N.,  seinem  Temperament  gemäß,  wiederholt  mißverständ- 
lich gegen  Kant  heftig  loszieht.  Als  ob  er  nicht  auch  gegen  Schopen- 
hauer und  Darwin  losgezogen  wäre,  denen  er  doch  ebensoviel  verdankt  1 
Nietzsche  hat  tatsächlich  sehr  viel  von  Kant,  freilich  nicht  von  dem 
Kant,  wie  er  in  den  Schulbüchern  steht  (und  wie  er  daselbst  auch  für 
alle  Zukunft  stehen  bleiben  mag),  sondern  vom  Ge'ste  Kants,  des  echten 
Kant,  der  den  Schein  bis  in  seine  tiefsten  Wurzeln  durchschaut,  aber 
auch  die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  des  durchschauten  Scheins  mit 
Bewußtsein  erkennt  und  anerkennt. 

Die  Jugendschriften  — abgedruckt  im  Band  I der  Werke, 
w’ozu  noch  die  nachgelassenen  Stücke  der  Bände  IX  und  X gehören  — 
enthalten  eine  große  Fülle  bedeutsamer  Ansätze,  aber  in  unentwickelter^ 
Form.  Alle  diese  Ansätze  gipfeln  in  dem  merkwürdigen,  aus  dem  Jahr 
1873  stammenden  Fragment : „Über  Wahrheit  und  Lüge  im 
außermoralischen  Sinne“  (X,  189 — 215).  „Lüge  im  außer- 
moralischen Sinne“  nennt  N.,  mit  seiner  bekannten  Vorliebe  für 
outrierte  Ausdrücke,  die  bewußte  Abweichung  von  der  Wirklichkeit 
im  Mythus,  in  der  Kunst,  in  der  Metapher  usw.  Das,  absichtliche  Fest- 
halten des  Scheines,  trotz  der  Einsicht  in  seine  Beschaffenheit  als 
Schein,  ist  eine  Art  „Lüge  im  außermoralischen  Sinne“ : „Lügen“  ist 
ja  eben  bewußtes,  absichtliches  Erregen  von  Schein. 

Dies  ist  zunächst  der  Fall  in  der  Kunst,  von  welcher  ja  N.  in 
seinem  ersten  Werk : Geburt  der  Tragödie  usw.  ausgegangen  ist,  das  im 
I.  Band  wieder  abgedruckt  ist.  Kunst  ist  bewußtes  Schaffen  des 
ästhetischen  Scheines;  in  diesem  Sinne  beruht  die  Kunst  auf  der  „Ur- 
begierde  nach  dem  Schein“  35;  speziell  „das  dramatische  Urphänomen“ 
besteht  darin,  „sich  selbst  vor  sich  verwandelt  zu  sehen  und  jetzt  zu 
handeln,  als  ob  man  wirklich  in  einen  anderen  Leib, 
in  einen  anderen  Charakter  eingegangen  wäre“  60,  168.  Jilit  ,, fingier- 
ten“  Wesen  operiert  überhaupt  das  Drama  54.  Vom  „apollinischen 
Schein“  (33,  62)  wird  viermal  auf  S,  150  f.  (wie  schoni  147,  und  auch 
X,  120)  in  diesem  Sinne  das  Ais- Ob  ausgesagt:  Dieses  „ästhetische 
Spiel“  157,  168,  diese  „zahllosen  Illusionen  des  schönen  Scheins 
machen  das  Dasein  überhaupt  lebenswert“  171,  522.  Dies  ist  „die 
Weisheit  des  Scheins“  23.  Daher:  „wer  die  Illusion  in  sich  und  an- 
deren zerstört,  den  straft  die  Natur  als  der  strengste  Tyrann“  340,  denn 
„zum  Handeln  gehört  das  Umschleiertsein  durch  die  Illusion“  56.  i) 


1)  „Es  gibt  die  heilsamsten  und  segensreichsten  Irrtümer“  (I,  179), 
umgekehrt  gibt  es  auch  „Lehren,  die  ich  für  wahr,  aber  tötlich 
halte“  (367),  daher  billigt  auch  N.  die  Platonische  Notlüge  im  Staat 
(376,  vgl.  487). 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  347 

In  diesem  Sinne  wird  auch  der  Mythus  betrachtet  und  gepriesen  147, 
160,  411,  511,  560,  speziel  als  mythische  Fiktion  299.  Der  Mythus, 
den  die  Griechen  mit  Bewußtsein  hegten,  ist  uns  verloren  gegangen 
„in  dem  abstrakten  Charakter  unseres  mythenlosen  Daseins“  170;  bei 
uns  ist  er  zum  „Märchen“  geworden,  aber  er  muß  bei  uns  „wieder  ins 
Männliche  zurückgeschaffen  werden“  551;  selbst  die  Wissenschaft 
kann  nicht  ohne  Mythus  sein  102,  106.  Vgl.  IX,  179,  184,  234,  288, 
433,  sowie  X,  88,  128,  139,  203.  Zur  Kunst  wie  zum  Leben  ist  der 
Schein,  die  Illusion  die  notwendigste  Voraussetzung : darin  läßt  sich  das 
Ergebnis  der  Jugendschriften  zusammenfassen,  und  schon  hier  bricht 
auch  der  Gedanke  durch,  daß  diese  Illusion  beim  höheren  Menschen 
eine  bewußte  sei  und  sein  müsse. 

In  den  nachgelassenen  Schriften  jener  Jugendzeit  (Bd.  IX  und  X) 
tritt  dieser  letztere  Punkt  deutlicher  hervor.  Zuerst  zwar  spricht  N. 
nur  überhaupt  von  den  „Wahnvorstellungen  als  notwendigen  und  heil- 
samen Vorkehrungen  des  Instinkts“,  IX,  69,  von  einem  „Gesetz  des 
Wahnmechanismus“  100,  124  ff.  Auch  die  Religion  gehört  dazu  130)^ 
insbesondere  aber  „die  realen  Wahnbilder  der  künstlerischen  Kultur“ 
148;  über  diese  „Wahngebilde“  spricht  er  noch  S.  158,  165,  179,  184. 
S.  186:  „Das  Reich  der  Wahnbilder  ist  auch  Natur  und  eines  gleichen 
Studiums  wert“.  So  entsteht  ein  ganzes  „Illusionsnetz“  186  f.  Diese 
Wahnvorstellungen  schafft  sich  der  Wille  192,  200,  und  zwar  durch 
„Trugmechanismen“  106,  210.  „Selbst  die  Erkenntnis  über  ihr  Wesen 
vernichtet  nicht  ihre  Wirksamkeit“  101.  Diese  Erkenntnis  empfindet 
N.  zunächst  als  „Qual“  101,  126,  aber  die  Einsicht  in  die  Notwendig- 
keit jener  Illusionen  und  Phantome  für  das  Leben  (76,  108,  185,  189) 
führt  zur  bew ußten,  lustyollen  Bejahung  des  Scheins;  in 
diesem  Sinne  sagt  er  S.  190:  „Meine  Philosophie  umgekehrter  Plato- 
nismus: je  weiter  ab  vom  wahrhaft  Seienden,  um  so  reiner,  schöner, 
besser  ist  es.  Das  Leben  im  Schein  als  Ziel;“  dies  ist  auch  der  Sinn 
des  Ausspruchs  S.  109 : „das  höchste  Zeichen  des  Willens : der  Glaube 
an  die  Illusion  („obwohl  wir  sie  durchschauen“),  und  der  theoretiscne» 
Pessimismus  (d.  h.  der  Schmerz  darüber,  daß  wir  auf  Wahnvorstellun- 
gen angewiesen  sind)  beißt  sich  selbst  in  den  Schwanz,“ 

Ganz  in  diesem  Sinn  heißt  es  dann  X,  119 : „der  letzte  Philosoph . . . 
beweist  die  Notwendigkeit  der  Illusion“.  Der  Abschluß  der  Philosophie- 
geschichte ist  somit  nach  N.  die  Philosophie  des  Scheins;  die  Ein- 
sicht in  seine  Unentbehrlichkeit  und  Berechtigung : „im  höchsten 
Scheine  liegt  unsere  Größe“,  denn  hier  sind  wir  Schaffende  146.  Aber 
jetzt  ist  es  nicht  mehr  bloß  der  künstlerische  Schein  (der  „Kunst- 
schleier“ 110),  dessen  Notwendigkeit  zum  Leben  erkannt  wird:  jetzt 
erweitert  sich  der  Kreis  der  als  notwendig  erkannten  und  bewußt  er- 
faßten Illusionen  immer  mehr:  „das  Anthropomorphische  aller  Erkennt- 
nis“ (121)  tritt  jetzt  hervor,  vgl.  195  ff.  Nicht  nur,  „das  Leben  braucht 


Sehr  bemerkenswert  ist,  daß  N.  schon  hier  auch  die  Freiheit 
des  Willens  „als  notwendige  Wahnvorstellung“  erkennt,  so  IX, 
186,  188  f.,  207,  X,  213.  Der  Mensch  hat  „di©  Vorstellung  der  Frei- 
heit, als  ob  er  auch  anders  könnte“,  ja  „der  ganze  Prozeß  der  AVelt- 
geschichte  bewegt  sich  so,  als  ob  Willensfreiheit  existiere“.  Abei 
„die  morali  che  Freiheit  ist  eine  notwendige  Illusion“. 


818 


Dritter  Teil:  Historische  ßestätigungeii. 


Illusionen,  d.  h.  für  Wahrheiten  gehaltene  Unwahrheiten“  (125  ff.)  und 
nicht  allein  unsere  Kultur  beruht  auf  „isolierenden  Illusionen“  (127j, 
auch  unser  Erkennen  bedarf  solcher.  So  führt  die  „Oberflächen- 
Natur  unseres  Intellekts“  12G  ff.  zum  Gebrauch  von  Allgemeinbegriffen, 
denen  schon  I,  52G  mit  einem  sehr  outrierten  Ausdruck  „Wahnsinn“ 
vorgeworfen  wurde.  In  dieser  Linie  liegt  die  Äußerung  auf  S.  130: 
„wir  verstärken  die  Hauptzüge,  vergessen  die  Nebenzüge“.  Begriffe 
gewinnen  wir  nur  durch  „das  Identifizieren  des  Nicht^leichen“  und 
„tun  nachher,  als  ob  der  Begriff  z.  B.  Mensch  etwas  Tatsäch- 
liches wäre,  während  er  doch  nur  durch  Fallenlassen  aller  individuellen 
Züge  von  uns  gebildet  ist“,  172,  195.  Unser  Intellekt,  operiert  mit  be- 
wußten Symbolen,  Bildern  und  rhetorischen  Figuren  130,  134,  167, 
mit  „groben  und  unzureichenden  AbstraJttionen“  169,  mit  Metaphern 
148:  „Zeit,  Raum  und  Kausalität  sind  nur  Erkenntnismetaphern“  166. 
„Das  Erkennen  ist  nur  ein  Arbeiten  in  den  beliebtesten  Metaphern“ 
171,  194.  So  „leben  und  denken  wir  unter  lauter  Wirkungen  des  Un- 
logischen, in  Nichtwissen  und  Falschwissen“  173.  i) 

Alle  diese  Ansätze  gipfeln  nun  in  dem  schon  erwähnten  Fragment 
über  die  „Lüge  im  außermoralischen  Sinne“,  dessen  Grundgedanke 
eben  ist:  daß  nicht  nur  unsere  Sprache,  sondern  auch  das  begriffliche 
Denken  auf  lügnerischen,  d.  h.  ,,der  Realität  nicht  entsprechenden“ 
Operationen  beruht  214.  Vom  Allgemeinbegriff  und  von  dem  „großen 
Bau  der  Begriffe“  wird  dies  nochmals  eingehend  gezeigt,  so  195  ff. 
und  so  führt  ihn  dieser  künstlerische  Trieb,  der  auch  S.  128  einfach  als 
„Die  Metapherbildung  ist  der  Fundamentaltrieb  des  Menschen“,  203, 
„mythischer  Trieb“  bezeichnet  wird,  auch  im  erkenntnistheoretischen 
Gebiete  zu  lügnerischen  Gebilden  213,  505  (cfr.  139,  140,  162);  diese 
werden  zunächst  unbewußt  (196)  geschaffen,  aber  „für  den  freigewor- 
denen Intellekt“  (205)  sind  sie  bewußte  Hilfsmittel;  „Gerüste“. 


Die  Schriften  der  mittleren  oder  Übergangsperiode 
Nietzsches,  die  im  übrigen  einen  weniger  dithyrambischen  Charakter 
zeigen,  vertiefen  die  bisher  gewonnenen  Einsichten  an  einzelnen 
Punkten.  Es  sind:  Menschliches,  Allzumenschliches;  Morgenröte; 
Fröhliche  Wissenschaft,  in  Bd.  II — V,  wozu  noch  die  Nachlaß-Bände 
XI  und  XII,  1 — 233  gehören.  Der  outrierte  Ausdruck  der  „Lüge“  tritt 
nur  noch  selten  hervor : II,  (5,  162)  („die  Griechen  umspielen  ab- 
sichtlich das  Leben  mit  Lügen“),  III,  105  („die  Musen  als  Lüg- 
nerinnen, der  Künstler  als  Betrüger“),  IV,  119  („Lug  und  Trug  der 
Empfindung“),  V,  309  („die  Erziehung,  die  so  viele  Lügen  heiligt“;, 
XI,  45,  330,  408.  Pathetisch  heißt  es  XII,  48:  ,,Ach,  nun  müssen  wir 
die  Unwahrheit  umarmen,  una  der  Irrtum  wird  jetzt  erst  zur  Lüge  und 
die  Lüge  vor  uns  wird  zur  Lebensnotwendigkeit“. 


In  diesem  Sinne  ist  auch  folgender  höchst  bedeutsamer  Satz 
zu  verstehen  (I,  128,  vgl.  auch  110) : „Der  ungeheuren:  Tapferkeit  und 
Weisheit  Kants  und  Schopenhauers  ist  der  schwerste  Sieg  gelungen,  der 
Sieg  über  den  im  Wesen  der  Logik  verborgen  liegenden,  Optimismus.“ 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  349 

Der  Gedanke,  daß  wir  mit  Bewußtsein  uns  der  „Unwahrheit“  in 
unserem  Denken  bedienen  müssen,  macht  ihm  immer  noch  Qual; 
„Eine  Frage  scheint  uns  die  Zunge  zu  beschweren  und  doch  nicht  laut 
werden  zu  wollen:  ob  man  bewußt  in  der  Unwahrheit  bleiben  könne, 
und,  falls  man  dies  müsse,  ob  da  nicht  der  Tod  vorzuziehen  sei?“ 
(II,  51).  Noch  V,  142  heißt  es,  daß  „diei  Einsicht  in  den  Wahn  und 
Irrtum  als  in  eine  Bedingung  des  erkennenden  und  empfindenden,  Da- 
seins“ ohne  die  Kunst  „gar  nicht  auszuhalten“  wäre,  una  -„den  Selbst- 
mord im  Gefolge  haben  müßte“.  Aber  immer  deutlicher  wird  die  Ein- 
sicht, das  bewußt-unwahre  Vorstellungen  biologisch-erkenntnistheore- 
tische Notwendigkeiten  sind:  zunächst  macht  sich  diese  Einsicht 
geltend  als  Erkenntnis,  daß  „Irrtümer  und  Verirrungen  der  Phantasie 
das  einzige  Mittel  sind,  durch  welches  die  Menschheit  sich  allmählich.  . 
zu  erheben  vermochte“  (47,  111,  228,  vgl.  IV,  97,  XI,  36);  der  Mensch 
muß  aber  nicht  bloß  „die  historische  Berechtigung“,  sondern  , »ebenso 
die  psychologische  (also  auch  für  die  Lebenden  gültige)  Berechtigung 
in  solchen  Vorstellungen  begreifen“  (38),  er  muß  einsehen,  daß  die 
Maschine  Mensch  „mit  Illusionen,  Einseitigkeiten  ....  geheizt  werden 
muß  (236).  Nietzsche  erinnert  an  das  Wort  Voltaires:  „Croyez-moi, 
mon  ami,  l’erreur  aussi  a son  merite“  II,  16:  Man  darf  deshalb 
solche  Illusionen  nicht  „zerstören“  (368),  sie  sind  auch  dem  fort- 
geschrittenen Geiste  notwendig,  so  notwendig,  wie  dem  Kinde  Märchen 
lind  Spiel  139  (welche  ja  dem  Kinde  auch  bewußte  Selbsttäuschungen 
sind).  1)  In  dem  fortgeschrittenen  Geiste  entwickelt  sich  immer  mehr 
..'.las  Bewußtsein  vom  Scheine“  V,  87,  ja  ein  Kultus  des  Scheins, 
„wenn  nichts  sich  mehr  als  göttlich  erweist,  es  sei  denn  der  Irrtum, 
die  Blindheit,  die  Lüge“,  denn  auf  diese  „ist  das  Leben  angelegt“,  V, 
275  f.  Dies  „undurchdringliche  Netz  von  Irrtümern“  ist  zum  Leben 
notwendig  XII,  39  ff. 

Einem  solchen  fortgeschrittenen  Geist  werden  alle  üblichen,  aucli 
die  wissenschaftlichen  Glaubenssätze  und  Überzeugungen  zu  „regu- 
lativen Fiktionen“  V,  273 ; er  erkennt  sie  als  „lauter  not- 
wendige optische  Irrtümer  — notwendig,  falls  wir  überhaupt  leben 
wollen,  Irrtümer,  falls  alle  Gesetze  der  Perspektive  Irrtümer  an  sich 
sein  müssen“  XII,  42.  In  diesem  Sinne  spricht  N.  46  von  dem  „wirk- 
lich lebendigen  Unwahren“,  von  den  „lebendigen  Irrtümern“  und  sagt: 
„und  darum  muß  man  die  Irrtümer  leben  lassen  und  ihnen  ein  großes 
Reich  zugestehen“.  Zusammenfassend  heißt  es  48:  „damit  es  irgend- 
einen Grad  von  Bewußtsein  in  der  Welt  geben  könne,  mußte  eine  un- 


1)  In  diesem  Siiui  heißt  es  duldsam;  XI,  21 : \„Warum  läßt  luan  Meta- 
physik und  Religion  nicht  als  Spiel  derErwachsenen  gelten?“ 
Das  gilt  dann  auch  von  den  „Illusionen  des  Jenseits“  XI,  66.  „Es 
könnte  nötige  Irrtümer  geben“  heißt  es  XI,  320  in  ausdrücklichem 
Gegensatz  zu  Pascal  von  den  christlichen  Dogmen.  „Wir  haben  zeit- 
weilig die  Blindheit  nötig  und  müssen  gewisse  Glaubensartikel  und 
Irrtümer  in  uns  unberührt  lassen  — so  lange  sie  uns  im  Leben  er- 
halten“ XII,  48.  An  einer  anderen  Stelle  (XII,  212)  scheint  N.  dies 
„bewußte  Festhalten  an  der  Illusion  und  zwangsweise  Einverleiben  der- 
selben als  Basis  der  Kultur“,  das  er  selbst  notwendig,  findet,  zu  tadeln; 
aber  der  Tadel  richtet  sich  gegen  einen  Mißbrauch  durch  R.  Wagner. 


300 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


wirkliche  Welt  des  Irrtums  entstehen:  Wesen  mit  dem  Glauben  an 
Beharrendes,  an  Individuen  usw.  Erst  nachdem  eine  imaginäre  Gegen.- 
welt  im  Widerspruch  zum  absoluten  Fluß  entstanden  war,  konnte 
auf  dieser  Grundlage  etwas  erkannt  werden,  ja  zuletzt  kann  der  Grund- 
irrtum (der  Glaube  an  Beharrendes)  eingesehen  werden,  worauf  alles 
beruht . . . doch  kann  dieser  Irrtum  nicht  anders  als  mit  dem  Leben 
vernichtet  werden . . . unsere  Organe  sind  auf  den  Irrtum  eingerichtet. 
So  entsteht  im  Weisen  der  Widerspruch  des  Lebens  und  seiner  letzten 
Entscheidungen:  sein  Trieb  zur  Erkenntnis  hat  den  Glauben  an,  den 
Irrtum  und  das  Leben  darin  zur  Voraussetzung  ....  Irren  ist  die  Be- 
dingung des  Lebens  . , . Wissen  um  das  Irren  hebt  es  nicht  auf,  Bas 
ist  nichts  Bitteres!  Wir  müssen  das  Irren  lieben  und  pflegen:  es  ist 
der  Mutterschoß  des  Erkennens,“ 

Mehrfach  finden  sich  zusammenfassende  Stellen,  so  V,  149 : „Solche 
irrtümlichen  Glaubenssätze . . . sind  z.  B.  diese,  daß  es  dauernde  Dinge 
gebe,  daß  es  gleiche  Dinge  gebe,  daß  es  Dinge,  Stoffe,  Körper  gebe, 
daß  unser  Wille  frei  sei . . .“ ; V,  154 : „Wir  operieren  mit  lauter 
Dingen,  die  es  nicht  gibt,  mit  Linien,  Flächen,  Körpern,  Atomen,  teil- 
baren Zeiten,  teilbaren  Räumen  . . ; V,  159 : „Wir  haben  unsl  eine 

Welt  zurechtgemacht,  in  der  wir  leben  können,  — mit  der  Annahme 
von  Körpern,  Linien,  Flächen,  Ursachen  und  Wirkungen,  Bewegung  und 
Ruhe,  Gestalt  und  Inhalt;  ohne  diese  Glaubensartikel  hielte  es  jetzt 
keiner  aus  zu  leben!  Aber  darum  sind  sie  noch, nichts  Bewiesenes.  Das 
Leben  ist  kein  Argument;  unter  den  Bedingungen  des  Lebens  könnte 
der  Irrtum  sein.“  Und  XI,  72  wird  entwickelt,  daß  die  Materie  als 
ausgedehnte  Masse  eine  Vorspiegelung  ist,  ebenso  das  bewegte  Ding 
und  das  Ding  überhaupt,  sowie  alles  Beharrende.  So  heißt  es  XII,  24 : 
„wir  würden  ohne  die  Annahme  einer  der  wahren  Wirklichkeit  ent- 
gegengesetzten Art  des  Seins  nichts  haben,  an  dem  es  sich  messen  und 
vergleichen  und  abbilden  könnte : der  Irrtum  ist  die  Voraussetzung  des 
Erkennens.  Teilweises  Beharren,  relative  Körper,  gleiche  Vorgänge* 
ähnliche  Vorgänge  — damit  verfälschen  wir  den  wahren  Tat- 
bestand,  aber  es  wäre  unmöglich,  von  irgend  etwas  zu  wissen,  ohne  ihn 
so  verfälscht  zu  haben“.  „Am  Beginn  aller  geistigen  Tätigkeit  stehen 
die  gröbsten  Annahmen  und  Erdichtungen,  z.  B.  Gleiches,  Ding,  Be- 
harren, sie  sind  gleichartig  mit  dem  Intellekt  und  er  hat  sein  Wesen 
danach  gemodelt“  46.  Und  in  diesem  Sinne  heißt  es  auch  156:  „der 
Intellekt  als  das  Mittel  der  Täuschung  mit  seinen  Zwangsformen: 
Substanz,  Gleichheit,  Dauer“,  aber  auf  solchen  Meinungen,  wie  dem 
„Glauben  an  Gleichheit,  Zahl,  Raum  usw.  beruht  die  Dauer  der 
Menschheit“  208. 

Denken  hängt  von  der  Sprache  ab,  und  diese  ist  schon  voll  von 
falschen  Voraussetzungen:  „durch  Worte  und  Begriffe  werden  wir  jetzt 
noch  fortwährend  verführt,  die  Dinge  uns  einfacher  zu  denken,  als  sie 
sind,  getrennt  voneinander,  unteilbar,  jedes  an  und  für  sich  seiend. 
Es  liegt  eine  philosophische  Mythologie  in  der  Sprache  versteckt, 
welche  alle  Augenblicke  wieder  herausbricht,  so  vorsichtig  man  sonst 
auch  sein  mag“  III,  198;  somit  sind  diese  mythisch-fiktiven  Bestand- 
teile der  Sprache  eben  mit  dem  Bewußtsein  ihrer  Falschheit  zu  ge- 
brauchen, vgl.  XI,  178.  Treffend  heißt  es  XI,  180:  „Wir  reden,  al  s o b 
es  seiende  Dinge  gebe  und  unsere  Wissenschaft  redet  nur  von  solchen 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  351 

Dingen.  Aber  ein  seiendes  Ding  gibt  es  nur  nach  der  menschlichen 
Optik:  von  ihr  können  wir  nicht  los“. 

Häufig  weist  N.  auf  die  künstliche  S i m p 1 i f i k a t i o n als  ein 
Hauptmittel  unseres  Denkens  hin,  so  XI,  291  in  der  bemerkenswerten 
Stelle,  nach  der  wir  unser  „unendlich  kompliziertes  Wesen  in  einer 
Simplifikation  sehen“  usw.,  so  XII,  10:  „in  welcher  seltsamen  Ver- 
einfachung der  Dinge  und  Menschen  leben  wir!  Wie  haben  wir  es  uns 
leicht  und  bequem  gemacht.  . . und  unserem  Denken  einen  Freipaß  für 
Fehlschlüsse  gegeben“;  vgl.  XII,  46. 

Neben  dem  Simplifizieren  spielt  das  Isolieren  eine  Hauptrolle, 
z.  B.  in  der  Mechanik:  „wir  isolieren  begrifflich  erstens  die  Richtung, 
zweitens  das  Bewegte,  drittens  den  Druck  usw.  In  der  Wirklichkeit 
gibt  es  diese  isolierten  Dinge  nicht“  XII,  34. 

Von  der  Logik  heißt  es  II,  26:  sie  „beruht  auf  Voraussetzungen, 
denen  nichts  in  der  wirklichen  Welt  entspricht,  z.  B.  auf  der  Voraus- 
setzung der  Gleichheit  von  Dingen,  der  Identität  desselben  Dings  in 
verschiedenen  Punkten  der  Zeit“.  Über  diese  „Illusion  der  Gleich- 
heit“-') s.  auch  III,  198,  XI,  179. 

Von  den  Allgemeinbegriffen  wird  nichts  Besonderes  mehr  gesagt, 
wohl  aber  wird  vom  „Urbild“,  d.  h.  eben  von  der  dem  Allgemeinbegriff 
entsprechenden  Idee  XII,  28,  folgender  sehr  treffender  Aussprach  getan : 
„Urbild  ist  eine  Fiktion,  wie  Zweck,  Linie  usw.“, 
vgl.  33:  „unsere  Begriffe  sind  Erdichtungen“. 

„Naturgesetze“  sind  Reste  „mythologischer  Träumerei“  III,  18,  XII, 
30,  ja  XII,  42  findet  sich  der  ganz  Kantisch  anmutende  Satz : „Unsere 
Gesetze  und  Gesetzmäßigkeiten  sind  es,  die  wir  in  die  Welt  hinein- 
legen — so  sehr  der  Augenschein  das  Umgekehrte  lehrt“.  Die  Kau- 
salität ist  ein  „Bild“,  etwas  „was  wir  hineinlegen“;  was  wir  „Er- 
leben“ nennen,  ist  in  diesem  Sinn  „ein  Erdichten“  IV,  124. 

Auch  „die  Annahmen  der  Mechanik“  beruhen  auf  idealen  Er- 
d.ichtungen,  insbesondere  aber  die  Vorstellung  der  „Kraft  in  mathe- 
matischen Punkten  und  mathematischen  Linien“;  „es  sind  zuletzt 
praktische  Wissenschaften,  ausgehend  von  den  Fundamental- 
irrtümern  des  Menschen,  daß  es  Dinge  und  Gleiches  gibt“  XII,  33. 

Neu  ist  die  Einsicht  in  die  fiktive  Natur  vieler  mathematischer 
Begriffe,  II,  26 : „es  gibt  in  der  Natur  keine  exakt  gerade  Linie,  keinen 
wirklichen  Kreis“,  36  „die  Zahlen  beruhen  auf  dem  Irrtum,  daß  es 
mehrere  gleiche  Dinge  gebe, . . . gerade  hier  schon  waltet  der  Irr- 
tum, schon  da  fingieren  wir  Wesen,  Einheiten,  die  es  nicht  gibt“. 2) 

1)  Auf  diesen  „Irrtum  des  Gleichen“,  der  so  wie  der  Irrtum  des 
Beharrenden  zur  Entstehung  des  Glaubens  an  „Dinge“  und  „Substan- 
zen“ beitrage,  macht  N.  noch  öfters  aufmerksam,  so  bes.  XII,  26  ff. 

2)  Hierzu  daselbst  noch  folgendes : „Unsere  Empfindungen  von 
Raum  und  Zeit  sind  falsch,  denn  sie  führen,  konsequent  geprüft, 
auf  logische  Widersprüche.  Bei  allen  wissenschaftlichen  Feststellungen 
rechnen  wir  unvermeidlich  immer  mit  einigen  falschen  Größen  , 
aber  weil  diese  Größen  wenigstens  konstant  sind,  wie  z.  B.  unsere  Zeit- 
und  Raumempfindung,  so  bekommen  die  Resultate  der  Wissenschaft 
doch  eine  vollkommene  Strenge  und  Sicherheit“.  Also  wir  rechnen 
und  denken  stets  mit  konstanten  Fehlern,  II,  36  f.  Unsere  empirische 


‘W2 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


„AVir  legen  eine  mathematische  Durchschuittslinie  hinein  in  die  abso- 
lute Bewegung,  überhaupt  Linien  und  Flächen  bringen  wir  hinzu,  auf 
der  Grundlage  des  Intellekts,  welches  der  Irrtum  ist:  die  Annahme  des 
Gleichen  und  des  Beharrens“  XII,  30.  „Unsere  Annahme,  daß  es 
Körper,  Flächen,  Linien  gibt,  ist  erst  die  Folge  unserer  Annahme,  daß 
es  Substanzen  und  Dinge,  Beharrendes  gibt.  So  gewiß  unsere  Begriffe 
Erdichtungen  sind,  so  sind  es  auch  die  Gestalten  der  Mathematik“  33. 

Das  beharrende  Ding  gehört  ebenfalls  hierher:  unsere  „Un- 
vollkommenheit ist  wohl  die  Quelle,  daß  wir  an  Dingo  glauben  und 
im  Werden  etwas  Bleibendes  annehmen,  ebenso,  daß  wir  an  ein  Ich 
glauben“  XI,  185;  und  XII,  23:  „das  Sein,  welches  uns  einzig  verbürgt 
ist,  ist  wechselnd,  nicht-mit-sich-selbst-identisch,  hat  Beziehungen  . . . 
Nun  behauptet  das  Vorstellen  gerade  das  Gegenteil  vom  Sein.“  Aber 
es  braucht  deshalb  nicht  wahr  zu  sein.  Sondern  vielleicht  ist  dies 
Behaupten  des  Gegenteils  nur  eine  Existenzbedingung“  unseres  Vor- 
stellens. „Es  wäre  das  Denken  unmöglich,  wenn  es  nicht  von  Grund 
aus  'das  Wesen  des  Esse  verkennte:  es  muß  die  Substanz  und  das 
Gleiche  behaupten,  weil  ein  Erkennen  des  völlig  Fließenden  unmög- 
lich ist,  es  muß  Eigenschaften  dem  Sein  andichten,  um  selber  zu 
existieren.  Es  braucht  kein  Subjekt  und  kein  Objekt  zu  geben,  damit 
das  Vorstellen  möglich  ist,  wohl  aber  muß  das  Vorstellen  an  beide 
glauben.“  „Der  Intellekt  ist  nicht  zum  Begreifen  ^des  Werdens 
eingerichtet,  er  strebt  die  allgemeine  Starrheit  (das  ewige  Beharren; 
zu  beweisen,  dank  seiner  Abkunft  aus  Bildern“.  Der  Glaube  an  das 
Beharrende,  an  das  Dauernde,  an  das  Unbedingte,  ist  „nicht  der 
am  meisten  wahre,  sondern  der  am  meisten  nützliche  Glaube“  XII, 
24 — 27,  30.  Auf  dem  Glauben  an  das  Beharrende  beruht  auch  unsere 
Raumvorstellung:  „unser  Raum  gilt  einer  imuginären  Welt“  31. 
Der  Glaube  an  das  Beharrende,  der  von  selbst  in  uns  entsteht  und 
den  die  Wissenschaft  in  ihrer  Weise  fortsetzt,  ist  die  Grundlage  alles 
Glaubens  an  „Realität“  (wie  Körper,  Dauer  der  Substanz  usw.)  44  f. 
Auch  das  beharrende  Indiriduum  und  seine  Einheit  ist  etwas  not- 
wendig Eingebildetes  128. 

Freiheit  und  Verantwortlichkeit  werden  oft  als  notwendige  Irrtümer 
behandelt,  so  II,  65,  93,  101,  108,  109  („die  Illusion  der  Willkür“); 
III.  31:  ..frei  können  wir  uns  nur  träumen,  nicht  machen“.  190.  198; 
daher  kann  auch  „der  völlig  gottlose  Weise,  der  an  der  gründlichen 
Unverantwortlichkeit  und  Unverdienstlichkeit  alles  Wirkens  und 
Wesens  festhält,  das  Gefühl  der  Scham  bekommen,  wenn  man  ihn  be- 


Weltvorstellung  beruht  also  auf  „irrtümlichen  Grundannahmen“,  „Welt 
als  Vorstellung,  das  heißt  als  Irrtum“.  Hierbei  beruft  sich  Nietzsche 
ausdrücklich  auf  Kant:  „Wenn  Kant  sagt:  ,D  e r .V'^orstand, 
schöpft  seine  Gesetze  nicht  aus  der  Natur,  sondern 
schreibt  sie  dieser  vor,*  so  ist  dies  in  Hinsicht  auf  den  Be- 
griff der  Natur  völlig  walir.“  Dieser  Satz  Kants  hat,  wie  man  aus 
sonstigen  gelegentlichen  Anspielungen  auf  denselben  ersieht,  großen 
Eindruck  auf  N.  gemacht:  gerade  diese  „schöpferische“,  „schaffende“ 
Kraft  des  Geistes,  seine  „erfindende,  dichtende,  fälschende“  Tätigkeit 
hebt  N.,  wie  wir  noch  sehen  werden,  überall  hervor.  So  bat  N.  viel 
mehr  von  Kant,  als  man  gemeinhin  glaubt. 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  353 

handelt,  a 1 s o b er  dies  und  jenes  verdient  habe“;  er  koimmt  sich  dann 
vor,  als  ob  er  sich  „in  eine  höhere  Ordnung  von  Wesen  eingedrangfc 
habe“  239;  vgl.  V,  149.  In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  dio 
Äußerung  XI,  31 : „So  etwas  wie  der  Charakter  hat  an  sich  keine 
Existenz,  sondern  ist  eine  erleichternde  Abstraktion“,  vor  allem  (aber 
das  folgende,  deutlich-kräftige  Wort  45:  „Tadeln  hat  nur  Sinn  als 
Mittel  abzuschrecken  und  fürderhin  als  Motiv  zu  wirken.  Loben  will  an- 
treiben, zum  Nachahmen  auffordern:  insofern  aber  beides  getan  wird, 
als  ob  es  einer  geschehenen  Handlung  gelte,  so  ist  die  Lüge,  der  Schein 
bei  allem  Loben  und  Tadeln  nicht  zu  vermeiden,  sie  sind  eben  das 
Mittel,  welches  vom  höheren  Zwecke  geheiligt  wird“.  Aber  diese 
moralischen  Vorurteile  sind  immer  noch  unentbehrlich“  XI,  195,  ebenso 
die  Vorstellung,  „als  ob  wir  die  Natur  führten“  in  unserem  Handeln, 
während  wir  doch  von  ihr  geführt  werden  XI,  203,  213.  Unsere  Frei- 
heit, unsere  Autonomie  ist  eine  „Auslegung“,  resp.  ein  Hineinlegen  216, 
XII,  40.  Sehr  bezeichnend  heißt  es  XII,  224:  „Ich  will  alles,  was  ich 
verneine,  ordnen,  und  das  ganze  Lied  absingen:  es  gibt  keine  Vergel- 
tung, keine  Weisheit,  keine  Güte,  keine  Zwecke,  keinen  Willen.  (Aber) 
um  zu  handeln,  mußt  du  an  Irrtümer  glauben,  und  du  wirst  noch  nach 
diesen  Irrtümern  handeln,  wenn  du  sie  als  Irrtümer  durchschaut  hast“. 

Auch  das  Subjekt  ist  ein  solch  selbstgemachter  Begriff,  den  wir 
nicht  entbehren  können:  „wir  dichten  uns  selber  als  Einheit  in  dieser 
selbstgeschaffenen  Bilderwelt,  das  Bleibende  in  dem  Wechsel.  Aber  es 
ist  ein  Irrtum“  XI,  185.  Treffend  heißt  es  XI,  291,  das  Ich  sei  „ein 
Versuch,  unser  unendlich  kompliziertes  Wesen  in  einer  Simplifikation 
zu  sehen  und  zu  begreifen  — ein  Bild  für  ein  Ding“.  Das  ist  unser 
„Urirrtum“  XII,  26.  Der  ganze  „Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt“ 
ist  eine  künstliche  Scheidung  V,  294. 

Die  Unterscheidung  von  Ding-an-sich  und  Erscheinung  erkennt  nun 
N.  auch  als  eine  künstliche  Teilung,  somit  eben  als  eine  begriffliche 
Erdichtung:  „das  wahre  Wesen  der  Dinge  ist  eine  Erdichtung  des  vor- 
stehenden Seins,  ohne  welche  es  nicht  vorzustellen  vermag“  XII,  22, 
auch  V,  294.  Die  ganze  Erscheinungswelt  ist  eine  „aus  intellektuellen 
Irrtümern  herausgesponnene“  Weltvorstellung  II,  33;  „Welt  als  Vor- 
stellung“ ist  soviel  wie  „Welt  als  Irrtum“  37,  47,  IV,  119,  120  „Welt 
der  Phantome,  in  der  wir  leben“.  „Unsere  Außenwelt  ist  ein  Phaii- 
tasieprodukt“  XII,  36.  „Der  Glaube  an  Außendinge“  ist  einer  der 
notwendigen  Irrtümer  der  Menschheit  40.  „Materie,  Stoff  ist  eine  sub- 
jektive Form“  71;  „die  ganze  anschauliche,  empfundene  Welt  ist  die 
Urdichtung  der  Menschheit“  170. 

Die  ästhetische  Illusion  kehrt  natürlich  immer  wieder,  so  II,  157 
mit  zweimaligem,  ausdrücklichem  „als  o b“,i)  ebenso  178;  XI,  23 
unü  XII,  175.  Über  die  „künsterische  Täuschung“  spricht  N.  III,  118, 
V,  311  und  XI,  72.  Die  Kunst,  „eine  Art  von  Kultus  des  Un- 
wahren“, beruht  auf  „dem  guten  Willen  zum  Schein“  V,  149. 

Den  Beschluß  mache  die  schöne  Stelle  V,  88:  „Was  ist  mir  jetzt 
»Schein*  1 Wahrlich  nicht  der  Gegensatz  irgendeines  Wesens  — was 


1)  Das  Als- Ob  erscheint  auch  II,  271  als  Index  einer  konventio- 
nellen Fiktion,  sowie  ib.  333  als  Ausdruck  der  Fiktion  des  konstitutio- 
nellen Staates;  dagegen  V,  302  ist  es  die  Formel  einer  Hypothese. 
Vaihinger,  Philosophie.  23 


354 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


weiß  ich  von  irgendwelchem  Wesen  auszusagen,  als  eben  nur  die 
Prädikate  seines  Scheins!  Wahrlich  nicht  eine  tote  Maske,  die  man 
einem  unbekannten  X aufsetzen  und  auch  wohl  abnehmen  könntet 
Schein  ist  für  mich  das  Wirkende  und  Lebende  selber  . . 

Die  Schriften  der  dritten  Periode:  Zarathustra,  Jenseits  von 
Gut  und  Böse,  Genealogie  der  Moral,  Götzendämmerimg,  Antichrist,  in 
den  Bänden  VI  bis  VIII  enthalten  (abgesehen  von  den  Eingangs- 
kapiteln von  „Jenseits  von  Gut  und  Böse“  im  VII.  Bd.)  für  uns 
weniger,  als  die  zugehörigen  Nachlässe  in  XII,  235  ff.,  XIII,  XIV,  XV; 
besonders  die  beiden  letzten  Bände  kommen  für  uns  in  Betracht. 

Nach  dem  Bisherigen  ist  es  verständlich,  daß  jetzt  „das  Problem 
vom  Wert  der  Wahrheit“,  das  VII,  9 ff.  feierlich  eingeführt  wird 
(vgl.  471,  482),  aufgestellt  werden  kann;  hier  stellt  sich  N.  nicht 
bloß  „Jenseits  von  Gut  und  Böse“,  sondern  auch  jenseits  von  Wahr 
und  Falsch  :i)  „es  ist  nicht  mehr  als  ein  moralisches  Vorurteil,  daß 
Wahrheit  mehr  wert  ist,  als  Schein  ...  es  bestünde  gar  kein  Leben, 
wenn  nicht  auf  dem  Grunde  perspektivischer  Schätzungen  und 
Scheinbarkeiten“  55;  „das  Perspektivische  ist  die  Grund-, 
bedingung  alles  Lebens“  4,  11.  Dieser  Ausdruck,  der  sich  bisher  nur 
selten  fand,  wird  von  jetzt  an  häufiger:  die  Perspektivo  ist  ja  eine 
notwendige  Täuschung,  welche  bleibt,  auch  wenn  wir  ihre  Falsch- 
heit erkannt  haben  und  in  diesem  Sinne  nennt  N.  schon  V,  294  seine 
Philosophie  treffend  „Perspektivismu  s“.^)  In  diesem  Sinne  ist 
auch  die  oft  zitierte  Stelle  VII,  S.  21  zu  verstehen:  „Es  ist  endlich 
an  der  Zeit,  die  Kantische  Frage:  ,wie  sind  synthetische  Urteile  a prioi*.i 
möglich*?  durch  eine  andere  Frage  zu  ersetzen;  ,warum  ist  der  Glaube 
an  solche  Urteile  nötig*?  — nämlich  zu  begreifen,  daß  zum  Zweck 
der  Erhaltung  von  Wesen  unserer  Art  solche  Urteile  als  wahr  g e - 
glaubt  werden  müssen:  weshalb  sie  natürlich  noch  ifalsche 
Urteile  sein  könnten  I ...  Es  sind  lauter  falsche  Urteile.  Nur  ist 
allerdings  der  Glaube  an  ihre  Wahrheit  nötig,  als  ein  Vordergrunds- 
glaube und  Augenschein,  der  in  die  Perspektivenoptik  des  Lebens 
gehört.**  „Die  falschesten  Urteile  (zu  denen  die  synthetischen  Urteile 
a priori  gehören)  sind  uns  die  unentbehrlichsten,  ohne  ein  Gelten- 
lassen  der  logischen  Fiktionen,  ohne  ein  Messen  der 
Wirklichkeit  an  der  rein  erfundenen  Welt  des  Unbedingten,  Sich-selbst- 
Gleichen,  ohne  eine  beständige  Fälschung  der  Welt  durch  die  Zahl, 


1)  „Wahrheit  bezeichnet  nicht  einen  Gegensatz  zum  Irrtum,  sondern 
die  Stellung  gewisser  Irrtümer  zu  anderen  Irrtümem,  etwa,  daß  sie 
älter,  tiefer  einverleibt  sind,  daß  wir  ohne  sie  nicht  zu  leben  wissen, 
und  dergleichen**  XIII,  87.  Der  Gegensatz  ist  nicht  ,wahr‘  und  , falsch* 
ib.  69.  „Was  zwingt  uns  überhaupt  zur  Annahme,  daß  es  einen  wesen- 
haften Gegensatz  von  ,wahr*  und  ,falsch*  gibt?**  VII,  55. 

2)  Auf  XII,  43  erscheint  „unsere  dichterisch-logische  Macht,  die 
Perspektiven  zu  allen  Dingen  festzustellen,**  und  ganz  Kantisch  wird 
von  der  „Fülle  der  optischen  Irrtümer**  gesprochen,  die  sich  für  uns 
unentrinnbar  daraus  ergeben,  die  wir  mit  Bewußtsein  festhalten 
müssen.  Dieses  perspektivische  Dichten  und  Schaffen,  das  bei  allen 
organischen  Wesen  sich  finde,  sei  selber  auch  ein  Geschehen,  ein 
inneres  Geschehen  neben  dem  äußeren  XIII,  63. 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  355 

kann  der  Mensch  nicht  leben  — Verzichtleisten  auf  falsche  Urteile 
wäre  ein  Verzichtleisten  auf  Leben“  i)  12  f.  (vgl.  XIV,  191,  210).  So 
ist  der  „Wille  zur  Täuschung“  zu  verstehen  10  f.,  der  ja  auch  die  Seele 
der  Kunst  ist  (84,  123,  472).  „Auf  welchen  Standpunkt  der  Philo- 
sophie man  sich  heute  auch  stellen  mag : von  jeder  Stelle  aus  gesehen, 
ist  die  Irrtümlichkeit  der  Welt,  in  der  wir  zu  leben  glauben,  das 
Sicherste  und  Festeste  . . . warum  dürfte  die  Welt,  in  der  wir  leben, 
nicht  eine  Fiktion  sein?“  54 — 56.  Selbst  die  exaJkteste,  posi- 
tivste „Wissenschaft  will  uns  am  besten  in  dieser  vereinfachten,  durch 
und  durch  künstlichen,  zurecht  gedichteten,  zurecht  gefälschten  Welt 
festhalten,  auch  sie  liebt  unfreiwillig-willig  den  Irrtum,  weil  auch!  sie, 
die  Lebendige,  das  Leben  liebt“  41 — 42.  In  diesem  Sinne  gebraucht 
z.  B.  die  Physik  die  Atomistik,  obgleich  sie  „zu  den  bestwiderlegten 
Dingen  gehört,  die  es  gibt“;  aber  diese  dient  dem  Gelehrten  zum 
bequemen  Hand-  und  Hausgebrauch,  als  Abkürzung  der  Ausdrucks- 
raittel“  22,  27  f.,  die  ganze  Physik  ist  eine  solchei  künstliche,  falsche, 
aber  vorläufig  zweckmäßige  „Zurechtlegung“  24.2)  Solche  künstlichen. 


D Weil  Täuschungen  und  Fälschungen  zum  Leben  notwendig  sind, 
mindestens  ebenso  notwendig  als  wahre  Vorstellungen,  darum  ist  nach 
N.  nicht  nur  der  Mensch,  sondern  schon  das  ganze  organische  Leben 
darauf  angelegt;  „mit  der  organischen  Welt  beginnt  . . . der  Schein“ 
XIII,  228;  „so  haben  es  die  Menschen  und  alle  organischen  Geschöpfe 
gemacht,  nämlich  so  lange  die  Welt  zurecht  gelegt,  zurecht  gedacht, 
zurecht  gedichtet,  bis  sie  dieselbe  brauchen  konnten,  bis  man  mit 
ihr  rechnen  konnte“  ib.  84;  „die  Fähigkeit  zum  Schaffen  (Gestalten, 
Erfinden,  Erdichten)  ist  die  Grundfähigkeit  der  organischen  Welt“ 
ib.  80;  „in  der  organischen  Welt  beginnt  der  Irrtum:  Dinge,  Sub- 
stanzen, Eigenschaften,  Tätigkeiten  ...  es  sind  die  spezifischen 
Irrtümer,  vermöge  deren  die  Organismen  leben“  69,  63.  Aber  der 
Mensch  begnügt  sich  nicht  mit  diesen  kleinen  Fälschungen  — „die 
großen  Fälschungen  und  Ausdeutungen  waren  es,  die  uns  bisher  über 
das  Glück  des  Tiers  emporhoben“  29.  In  diesem  Sinne  nennt  N. 
schon  XIII,  37  den  Menschen  „das  phantastische  Tie  r“,  und 
spricht  XI,  278  von  der  „Unverschämtheit  unserer  Phantasie“;  diese 
Wichtigkeit  der  Phantasie  wird  auch  XII,  36  betont;  aus  ihr  ent- 
springt unser  „mythenbildender  Trieb“  ib.  123,  und  die  ganze  „Bilder- 
rede“ der  Wissenschaft,  147,  und  unsere  ganze  „idealistische  Phan- 
tasterei“ ib.  3,  die  aber  notwendig  als  bewußte  „Lüge  zum  Leben 
gehört“  XIV,  269. 

2)  In  den  Nachlaßfragmenten  des  XIII.  Bandes  werden  diese  natur- 
wissenschaftlichen Fiktionen  mit  Vorliebe  als  „regulative  Hypothesen“ 
bezeichnet,  wobei  „Hypothese“  (wie  schon  bei  F.  A.  Lange)  ungenau 
statt  „Fiktion“  gebraucht  wird.  So  XIII,  59:  „Ursache  und  Wirkung“ 
seien  keine  Wahrheit,  „sondern  eine  Hypothese,  mit  der  wir  die  Weit 
uns  vermenschlichen.  Mit  der  atomistischen  Hypothese  machen  wir 
die  Welt  unserem  Auge  und  unserer  Berechnung  zugleich  zugänglich.“ 
Ein  „starker“  Geist  könne  den  Wahn  solcher  absoluten  Begriffe 
abweisen  und  sie  doch  als  „Hypothese“  festhalten ; so  ib.  54  f.,  59  f., 
80,  85.  Die  ganze  mechanische  Naturanschauung,  speziell  die  „Vor- 
stellung von  Druck  und  Stoß“  Icann  uns  nur  „als  eine  regulative 


356 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


aber  bis  auf  weiteres  unentbehrlichen  Begriffe  sind  auch  Subjekt  und 
Objekt,  das  „Ich“  und  das  „Es“  28 — 30,  auch  sie  sind  „Fik- 
tionen“ 56,  ebenso  Ursache  und  Wirkung : „man  soll  nicht  ,Ursache‘ 
und  ,Wirkung‘  fehlerhaft  versinnlichen  . . .,  man  soll  sich  der 
, Ursache*,  der  ,Wirkung‘  eben  nur  als  reiner  Begriffe  bedienen, 
d,  h.  als  konventioneller  Fiktionen  zum  Zwecke  der  Be- 
zeichnung, der  Verständigung,  nicht  der  Erklärung  ...Wir  sind  es, 
die  allein  die  Ursachen  . . .,  das  Füreinander,  die  Relativität,  den 
Zwang,  die  Zahl,  das  Gesetz,  die  Freiheit,  den  Grund,  den  Zweck  er- 
dichtet haben;  und  wenn  wir  diese  Zeichen-Welt  als  ,an-sich‘  in  die 
Dinge  hineindichten,  hineinmischen,  so  treiben  wir  es  noch  einmal, 
wie  wir  es  immer  getrieben  haben,  nämlich  mythologisch“  33.  Ins- 
besondere bekämpft  N.  die  mytiiische  Vorstellung  des  „wirkenden 
Dinges“;  „es  gibt  kein  Substrat,  es  gibt  kein  ,Sein‘  hinter  dem  Tun, 
Wirken,  Werden;  der  ,Täter‘  ist  zum  Tun  bloß  hinzugedichtet  — das 
Tun  ist  alles“;  solche  konventionellen  Fiktionen  sind  auch  das  Atom 
und  das  Kantische  Ding-an-sich  327.  Auch  „jene  „Gesetzmäßigkeit 
der  Natur“,  von  der  ihr  Physiker  so  stolz  redetJ  wie  als  ob  — besteht 
nui‘  dank  eurer  Ausdeutung  . . . sie  ist  kein  Tatbestand  . . . vielmehr 
nur  eine  naiv-humanitäre  Ziirechtmachung“  34  — also  eben  ein 
„humanistischer“  Anthropomorphismus,  für  den  Aufgeklärten  ein  be- 
wußter. Man  weiß  mehr  oder  minder  deutlich,  daß  esi  so  und  so  nicht 
steht,  daß  man  es  so  und  so  eben  nur  gelten  läßt.  188. 

Die  Fragmente  des  XIV.  Bandes  aus  dem  Nachlaß  bieten  hierzu 
eine  willkommene  Erläuterung,  insbesondere  das  bekannte  Wort  S.  16: 
„Die  Falschheit  eines  Begriffes  ist  mir  noch  kein  Einwand  gegen  ihn: 
die  Frage  ist,  wie  weit  er  lebenfördernd  . . . ist.  Ich  bin  sogar  grund- 


Hypothese  für  die  Welt  des  Augenscheins  gelten“,  „die  mechanistische 
Vorstellung  ist  als  regulatives  Prinzip  der  Methode  voranzu stellen“ 
81 — 82;  in  diesem  Sinne  verkündet  N.  den  „Sieg  der  an ti teleologischen, 
mechanistischen  Denkweise  als  regulativer  Hypothese“,  und  zwar  als 
„bewußter“.  In  diesem  Sinn  „konstruieren  sich  die  mathematischen 
Physiker  eine  Kraft-Punkt-Weit,  mit  der  man  rechnen  kann“  84,  also 
„als  vorläufige  Wahrheit,  nach  deren  Leitfaden  wir  arbeiten  können“ 
73,  (also  als  „Arbeitshypothese“),  obgleich  „die  Annahme  von  Atomen“ 
als  rein  subjektiv  leicht  zu  durchschauen  ist  61.  So  heißt  es  auch; 
„Damit  wir  rechnen  können,  hatten  wir  zuerst  gedichtet“,  XII,  242.  An 
anderen  Stellen  ist  von  Nietzsche  dasselbe,  was  hier  vom  Rechnen 
gesagt  wird,  allgemein  vom  Denken  bemerkt  worden.  — Über  den  Wert 
regulativer  Fiktionen  s.  auch  XIV,  322.  Besonders  beachtenswert  ist 
die  Stelle  XIII,  139:  „die  Art  des  bisherigen  Geistes  war  noch  zu 
schwach  und  ihrer  selbst  ungewiß,  um  eine  Hypothese  a 1 s Hypo- 
these zu  fassen  und  doch  als  regulatirisch  zu  nehmen  — es  bedurfte 
des  Glaubens“.  Nach  dem  Zusammenhang  handelt  es  sich  um  Moral. 
Also  soll  der  „starke“  Geist  sich  der  Fiktivität  bewußt  sein  und 
„sie  doch  als  regulativisch  nehme  n“.  Er  braucht  sie 
nicht  zu  „glauben“,  aber  er  soll  danach  handeln  — ganz  Kantisch! 
Auch  von  der  Mechanik  mit  ihren  Voraussetzungen,  speziell  den 
Atomen  und  dem  leeren  Raum  heißt  es  325:  sie  ist  „eine  Art  Ideal 
regulative  Methode,  nicht  mehr“. 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  357 

satzlich  des  Glaubens,  daß  die  falschesten  Annahmenuns 
gerade  die  unentbehrlichsten  sind,  daß  ohne  ein 
Geltenlassen  der  logischen  Fiktion,  ohne  ein  Messen  der 
Wirklichkeit  an  der  erfundenen  Welt  des  Unbedingten,  Sich-Selber- 
Gleichen,  der  Mensch  nicht  leben  kann,  und  daß  ein  Ver- 
neinen dieser  Fiktion  . . . soviel  wie  eine  Verneinung  des  Lebens 
bedeuten  würde.  Die  Unwahrheit  als  Lebensbedingung 
zugestehen,  das  heißt  freilich  auf  eine  schreckliche  Weise  die  ge- 
wohnten Wertgefühle  von  sich  abtun.“  Kürzer  heißt  es  31 : „Meine 
Grundvorstellung : das  ,Unbedingte  ist  eine  regulative  Fiktion, 
der  keine  Existenz  zugeschriel^n  werden  darf“,  aber  derartige  Fik- 
tionen sind  eben  zum  Leben,  auch  zum  Leben  des.  „Erkennens“  nütz- 
lich und  notwendig:  denn  „die  Erkenntnis  ist  ihrem  Wesen  nach  etwas 
Erdichtendes,  Fälschendes“  19,  ,„eine  fingierende,  setzende  Kraft  muß 
angenommen  werden,  ebenfalls  Vererbung  und  Fortdauer  der  Fik- 
tionen“ 30.  Man  kann  die  contradictio  in  jenen  fingierten  Begriffen  i) 
einsehen,  z.  B.  in  den  Begriffen  des  Unbedingten,  des  Seienden,  der 
absoluten  Erkenntnis,  des  absoluten  Wertes,  des  Dinges  an  sich,  des 
reinen  Geistes  2),  28,  aber  „der  Intellekt  ist  nicht  möglich  ohne  die 
Setzung“  solcher  fiktiver  Begriffe,  besonders  den  des  Unbedingten  '29, 
Diese  Fiktionen  nennt  N.  auch,  wie  wir  schon  wissen,  Perspektiven: 
„wollte  man  heraus  aus  der  Welt  der  Perspektiven,  so  ginge  man  zu- 
grunde . . Man  muß  das  Falsche  . . gutheißen  und  akzeptieren“  13 ; „das 
Perspektivische  der  Welt  geht  so  tief,  als  heute  unser  ,Verständnis‘  der 
Welt  reicht“  7;  und  in  diesem  Sinn  führt  er  aus,  daß  die  „Zahl“  3)  eine 
perspektivische  Form  ist,  so  gut  als  „Zeit  und  „Raum“,  daß  wir  so 
wenig  „eine  Seele“,  als  „zwei  Seelen“  in  unserer  Brust  beherbergen, 
daß  die  „Individuen“  sich  wie  die  materiellen  „Atome“  3),  nicht 
mehl-  halten  lassen,  außer  für  den  Hand-  und  Hausgebrauch  des 
Denkens,  . . . daß  „Subjekt  3)  und  Objekt“,  „Aktivum  und  Pas- 


Die  , seiende*  Welt  ist  eine  Erdichtung  — es  gibt  nur  eine 
werdende  Welt;  und  diese  erdichtete  seiende  Welt  ist  Ursache,  daß 
der  Dichter  sich  selbst  auch  für  »seiend*  hält  und  sich  ihr  gegenüber- 
stellt, XIV,  52;  das  Sein  ist  also  ein  Produkt  des  Denkens,  Substanz 
ist  ein  ,, Irrtum**  311,  366.  „Unser  Künstler-Hoheits-Recht  schwelgt 
darin,  diese  Welt  geschaffen  zu  haben**  heißt  es  XIV, 
S.  15  ganz  Kantisch. 

2)  Weiteres  über  „Seele**,  „Geist**  usw.  s.  XIV,  27,  338. 

3)  ,;Die  Zahl  ist  durch  und  durch  unsere  Erfindung**  XIV,  34.  „Die 
aiithmetischen  Formeln  sind  nur  r e g u 1 a t i v.o  Fiktionen**  444 
Dasselbe  gilt  auch  von  den  geometrischen  Formen:  „eine  gerade  Linie 
kommt  nie  vor**  42.  „Die  Gegenstände  der  Mathematik  existieren 
nicht**  320. 

Die  Begriffe  „Individuum**,  „Person**  usw.  sind  zwar  falsch,  ent- 
halten aber  eine  große  Erleichterung  für  das  Denken  XIV,  37,  sind 
jedoch  „Täuschungen**  325  f. ; sie  sind,  wie  alle  oben  aufgezählten 
Begriffe  „falsch,  aber  dauerhafte  Irrtümer**  326. 

3)  Über  die  Atomistik  als  bloß  anschauliche  Konstruktion  zum  Zweck 
der  Berechnung  s.  XIV,  45,  325. 

Über  die  „Mythologie  des  Subjekts-Begriffs**  s.  XIV,  329. 


358 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


sivum“,  „Ursache  und  Wirkung“  i),  „Mittel  und  Zweck“  “)  nur  per- 
spektivische Formen  sind.  Solche  „perspektivische  Fälschungen“  323 
sind  zum  Leben  der  Menschen,  ja  aller  Organismen  notwendig;  „mit 
der  organischen  Welt  ist  eine  perspektivische  Sphäre  gegeben“  824, 
natürlich  zimächst  unbewußt,  aber  im  vollentwickelten  Menschen  ent- 
steht der  bewußte  „WTlle  zum  Schein,  die  Feststellung  der  Perspek- 
tiven, d.  h.  das  Setzen  des  Unwahren  als  W’^ahr“  89.  Der 
menschliche  Intellekt  mit  seinen  festen  Formen,  insbesondere  jenen 
grammatisch-logischen  Kategorien  (34)  ist  ein  „Fälschimgsapparat“  (34^ 
— mit  Bewußtsein  bedient  sich  der  Mensch  trotzdem  desselben.  Zum 
Leben  und  zum  Erkennen,  soweit  man  noch  von  einem  solchen  sprechen 
kann,  bedarf  der  Intellekt  als  notwendiges  „Mittel  die  Einführung  voll- 
ständiger Fiktionen  als  Schemata,  nach  denen  wir  uns  das . . . 
Geschehen  einfacher  3)  denken,  als  es  ist“  (47),  es  also  verfälschen.  So 
liaben  jene  Irrtümer  den  Menschen  erfinderisch  gemacht:  daher  ist  der 
„Kultus  des  Irrtums“  notwendig  312,  ja  es  entspringt  ein  „Glück  am 
Schein“  366,  389,  der  „WTlle  zum  Schein“  ^)  369,  denn  man  erkennt 
„den  W"ert  der  regulativen  Fiktionen,  z.  B.  der  logischen“  322. 

Daß  die  logischen  Formen  auf  Fiktionen  beruhen,  wird  öfters  wieder- 
holt: „Logik  ist  eine  konsequente  Zeichenschrift  auf  Grund  der  durch- 
geführten Voraussetzung,  daß  es  identische  Fälle  gibt“  22,  und  so  „ist 
das  Logische  nur  möglich  infolge  eines  Grundirrtums“  29;  „daß  es 
gleiche  Dinge,  gleiche  Fälle  gibt,  ist  die  G r u n d f i k t i o n schon  beim 
Urteil,  dann  beim  Schließen“  33,  35,  37;  „die  erfundene  starre 
Begriffswelt“  ist  ein  wichtiges  Denkmittel  46;  ja  unser  wirkliches 

1)  „Unsere  ,Mittel  und  Zwecke‘  sind  sehr  nützliche  Abbreviaturen, 
uns  Vorgänge  handlich,  überschaulich  zu  machen“  XIV,  45. 

2)  Über  Ursache  imd  Wirkung  als  Folgen  des  irrigen  Subjekts-  und 
Prädikatsbegriffs  s.  die  Ausführungen  XIV,  22,  27. 

3)  Die  Perspektiven  werden  hauptsächlich  durch  Vereinfachung 
hervorgebracht:  „das  Leben  ist  nur  möglich  durch  verengende,  per- 
spektivenschaffende Kräfte“  XIV,  45.  In  diesem  Sinne  spricht  N. 
auch  von  einem  „ausschließenden,  auslesenden  Trieb“  46.  Die  ver- 
einfachende und  damit  verfälschende  Natur  unseres  Denkens  w^ird 
oft  betont,  so  XIV,  34,  320.  Es  gibt  „zeitweilig  erlaubte  Verein- 
fachungen des  wahren  Tatbestandes"  42.  Vgl.  XIII,  80  f. : vereinfachen- 
f älschen-dichten ; ebenso  241,  249.  „Der  Intellekt  ist  ein  Apparat  der 
Vereinfachung“  und  des  Auseinanderlegens  245. 

Von  dem  künstlerischen  Schein,  speziell  von  der  epischen  Kunst 
heißt  es,  der  Erzähler  spreche  dem  bewimdemden  Zuhörer  gegenüber, 
wie  als  ob  er  dabei  gewesen  wäre,  und  der.  Zuhörer  habe  die  Sicher- 
heit, zu  wissen,  daß  es  Täuschung  ist  usw.  XIV,  132 ; Kunst  überhaupt 
bestehe  in  absichtlichem  Umgestalten  = Fälschen“  134.  — In  diesem 
Zusammenhang  sei  auch  folgender  bemerkenswerter  Aphorismus  an- 
geführt (XIII,  207):  „Die  W'elt  nicht  nach  unseren  persönlichen 
Begleitgefühlen  messen,  sondern  wie  als  ob  sie  ein  Schauspiel  wäre 
und  wir  zum  Schauspiel  gehörten.“  Dieser  aus  der  späteren  Stoa 
stammende  fruchtbare  Gedanke  findet  sich  auch  ib.  282 : „Unsere  Art 
Leben  und  Treiben  als  eine  Rolle  zu  betrachten,  ein- 
gerechnet die  Maximen  und  Grundsätze  . . .“ 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  359 

Denken  verläuft  gar  nicht  nach  dem  fingierten  Schema  der  Logik; 
„das  logische  Denken  ist  das  Muster  einer  vollständigen  Fiktion“; 
„also  das  geistige  Geschehen  ist  nur  so  zu  betrachten,  wie 
a 1 s o b es  jenem  regulativen  Schema  eines  fingierten  Denkens  wirklich 
entspreche“  42  f,  — Vgl.  auch  die  Bemerkungen  VIII,  78  ff.  über  die 
Logik  (und  Mathematik)  als  „Zeichen-Konvention“,  sowie  über  die  das 
logische  Denken  beherrschenden  grammatischen  Formen,  die  „Sprach- 
Metaphysik“.  Vgl.  XIII,  47,  60,  85.  Selbst  Plato  habe  seine  ,„Be- 
griffe  im  Grunde  so  gemeint  ib.  323,  — also  eben  auch  nur  als  „regu- 
lative Fiktionen“. 

In  einem  Teil  der  Fragmente  des  XV.  Bandes  kommt  eine  Seite  zur 
Geltung,  welche  auch  schon  früher  bei  N.  gelegentlich  hervortrat:  der 
Schaden,  den  jene  regulativen  Fiktionen  anrichten,  wenn  sie  nicht  als 
solche  benützt  werden,  sondern  ihnen  irrtümlicherweise  Realitäts- 
charakter zugeschrieben  wird,  wie  es  ja  allerdings  gemeinhin  der  Fall 
ist.  In  diesem  Sinne  sind  jene  regulativen  Hilfsvorstellungen  — Fik- 
tionen in  malo  senu,  „nur“  Fiktionen,  i)  So  ist  besonders  „das  Subjekt, 
das  Ego  nur  eine  Fiktion“  32,  der  Geist  als  Täter  des  Denkens  ist 
fingiert,  ja  das  vom  den  Erkenntnistheoretikem  angesetzte  reine, 
logische  Denken  dieses  Geistes  ist  „eine  ganz  willkürliche  Fiktion“  266  f. ; 
„Geist“  und  „Vernunft“  sind  „fingierte  Synthesen  und  Einheiten“  f272, 
ja  werden  sogar  „unbrauchbare  Fiktionen“  gescholten  275.  „Subjekt 
ist  die  Fiktion,  als  ob  viele  gleiche  Zustände  in  uns  die  Wirkung  eines 
Substrats  wären  . . . dies  ist  zu  leugnen“  282,  „das  Subjekt!  ist  nichts, 
was  wirkt,  sondern  nur  eine  Fiktion“  286;  man  hat  im  Menschen  „ein 
primum  nobile  fingiert,  das  gar  nicht  existiert“  368.  „Diese  künstliche 
Loslösung  und  An-und-für-sich-Erklärung  des  Ego“  hatte  schlimme 
Folgen  369.  Zu  diesen  schlimmen  Folgen  gehört  auch  die  Annahme 
einer  eigenen  „geistigen  Ursächlichkeit“,  welche  auch  nur  eine  „Fiktion“ 
ist  513,  und  damit  die  Annahme  „freier  Handlungen“,  die  dann  in 
moralische  und  unmoralische  geschieden  worden  sind:  das  alles  ist 
„imaginär,  unreal,  fingiert“  369,  besonders  die  der  Moral  zugrunde 
liegenden  Begriffe  233,  335.  Aber  die  Gattung  sei  ebenso  illusorisch  und 
falsch  wie  das  Ego  341;  in  den  Begriffen  Gattung,  Idee,  Zweck  usw. 
schiebe  man  einer  Fiktion  eine  falsche  Realität  unter  284,  dadurch 
werde  sie  eben  zur  schlechten  Fiktion,  in  diesem  Sinne  sind  Gattungs- 
begriffe „falsche  Einheiten,  die  erdichtet  seien“  330,  so  sei  es 
auch  mit  den  „Kauaalfiktionen“,  dem  „Schematismus  des  Dinges“ 
271,  281,  überhaupt  mit  allem  „Gedachten“  281.  Insbesondere  dio 
ganze  Welt  der  Dinge  an  sich,  die  wahre  Welt  des  ewig  Seienden  im 
Gegensatz  zur  Welt  des  Werdens  sei  „eine  bloße  Fiktion“  306,  vgl.  288, 
291,  294,  304,  310,  311,  408;  wir  „imaginieren“  uns  einen  Gott  in 
dieser  Welt  2^,  vollbringen  unsere  Handlungen,  „wie  als  ob  sie  Kom- 
mando Gottes  wären“  26,  und  kommen  zu  den  „mesquinen  und 
schlechten  Fiktionen“  der  christlichen  Weltanschauung  91,  zu  den 


1)  Der  Ausdruck  Fiktion  findet  sich  auch  in  den  beiden  ersten 
Perioden  gelegentlich  im  tadelnden  Sinne,  so  z.  B.  II,  355  von  den 
Fiktionen,  auf  denen  die  mittelalterliche  Kirche  beruht,  so  IV,  99  die 
Fiktion  des  Allgemeinbegriffs  „Mensch“. 


360 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


„Jenseits-Fiktionen“  478.  Aber  „Krieg  gegen  alle  Voraussetzungen, 
auf  welche  hin  man  eine  , wahre  Welt*  fingiert  hat“  304. 

Diese  aus  der  aufgeregten  Zeit  der  „Götzendämmerung“  und  des 
„Antichrist“  i)  stammende  Opposition  gegen  den  Mißbrauch  der  Fik- 
tionen darf  man  nicht  mißverstehen:  das  notwendige  ^Komplement 
hierzu  bietet  die  durch  viele  andere  Stellen  schon  bezeugt©  Einsicht 
in  die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  der  Fiktionen.  Diese  Einsicht 
kommt  auch  in  vielen  Fragmenten  des  XV.  Bandes  zum  Vorschein : so 
spricht  S.  175  von  der  „Nezessität  der  falschen  Werte“  und  nach 
S.  338  sind  „Notwendigkeit,  Ursächlichkeit,  Zweckmäßigkeit  nützliche 
Scheinbarkeiten“,  denn  solcher  Schein  tut  not,  um  leben  zu»  können“, 
„die  Illusion  hat  Erhaltungswert  für  uns“  303.  2)  Auch  di©  Logik,  „die, 
wie  die  Geometrie  und  Arithmetik  nur  von  fingierten  Wesenheiten  gilt“ 
(278),  ist  doch  eine  „nützliche“  Erfindung,  ein  gutes  „Hilfsmittel“ 
273,  275,  288.  Die  Kategorien  sind  „Fälschungen“,  aber  „kluge“, 
„nützliche  Mittel  zum  Zurechtmachen  der  Welt“  274,  299,  301,  das 
System  der  Kategorien,  das  „System  prinzipieller  Fälschung“  'ist 
aber  doch  „ein  zweckmäßiges  und  handliches  Schema“,  ein  System 


In  diesen  beiden  Schriften  (Band  VIII)  finden  sich  natürlich  ähn- 
lich lautende  Äußerungen;  so  werden  S.  77  ff.  alle  Kategorien  als  „Ver- 
nunft-Vorurteile“, als  „Lügen“  und  „leere  Fiktionen”  bezeichnet,  die 
in  der  Sprache  und  „Sprach-Metaphysik“  ihren  „beständigen  Anwalt 
haben“.  Ich,  freier  Wille,  Ding,  Atom  — sind  „Fiktionen“  im  schlim- 
men Sinn  94  f.,  99.  Der  „Antichrist“  kämpft  gegen  alle  „imaginären“ 
Wesenheiten  und  gegen  die  ganze  religiöse  „Fiktions-Welt“,  und  gegen 
,.die  dualistische  Fiktion“  231 — 233,  jüs  lauter  „Lügen“  im  schlimmen 
Sinne  (261,  264,  270  f.,  281  f.,  287,  296  ff.).  Ähnlich  XII,  21—23,  49, 
87,  148.  Von  diesem  Standpunkt  aus  kämpft  N.  daselbst  (49)  da- 
gegen, daß  der  Mensch  einerseits  auf  „perspektivisches  Sehen“  ein- 
gerichtet sei,  und  andererseits  von  dieser  täuschenden  Einrichtung  ein 
Bewußtsein  haben  könne  — was  ja  doch  sonst  gerade  seine  eigene 
Lehre  ist. 

2)  Hierzu  vergleiche  man  den  prächtigen  Hymnus  auf  den  Schein, 
auf  den  „ganzen  Olymp  des  Scheins“  VIII,  209,  und  XII,  246 1,  290  bis 
293  iauf  die  „Lüge“  im  guten  Sinn  = das  Dichten  von  Mythen.  Vgl. 
XIII,  35 : es  sei  ein  „Vorurteil,  der  Philosoph  müsse  als  seinen  eigent- 
lichen Feind  den  Schein  bekämpfen“.  Vgl.  ib.  50,  71,  81,  88  (per- 
spektivische Illusion  als  Erhaltungsgesetz).  S.  130  heißt  es  ganz  Kan- 
tisch:  „wir  sind  auf  optische  Irrtümer  eingerichtet“  und  man  kann  noch 
nach  dem  „nützlichsten  Glauben“  = Irrtum  fragen  207,  vgl.  121,  124, 
138.  „Die  inneren  Prozesse  sind  essentiell  irrtümererzeugend, 
weil  L^ben  nur  möglich  ist  unter  der  Führung  solcher  verengernder, 
perspektivenschaffender  Kräfte“  XIV,  45.  „Das  Bewußtsein  ist  etwas 
essentiell  Fälschendes“  — heißt  es  ebendaselbst. 

3)  „Denken  ist  uns  kein  Mittel  zu  erkennen,  sondern,  das  Geschehen 
zu  bezeichnen,  zu  ordnen,  für  unseren  Gebrauch  handlich  zu  machen“; 
„das  Denken  ist  Ursache  und  Bedingung  sowohl  von  , Subjekt*,  wie 
von  ,Objekt‘,  wie  von  , Substanz*,  wie  von  ,Materie*  usw.*‘  XIII,  51  f. 
„Die  erfinderische  Kraft,  welche  Kategorien  schafft,  arbeitet  im  Dienste 
des  Bedürfnisses,  nämlich  von  Sicherheit,  schneller  Verständlichkeit 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  361 

notwendiger  „Handhaben“  300,  ein  „notwendiger  Perspektivismus“  321. 
Es  ist  damit,  wie  mit  dem  Atombegriff:  i)  es  handelt  sich  dort  wie  hier 
um  „bloße  Semiotik“,  aber  es  steht  nicht  in  unserem  Belieben,  unser 
Ausdrucksmittel  zu  verändern.  „Die  Forderung  einer  adäquaten  Aus- 
drucksweise ist  unsinnig;  es  liegt  im  Wesen . . . eines  Ausdrucksmittels, 
eine  bloße  Relation  auszudrücken“  324.  Jene  Begriffe  sind  also  un- 
adäquat, aber  nützliche  Fiktionen.  Insbesondere  gilt  dies  von  der  Kau- 
salitätskategorie 2)  318 ff.,  und  noch  mehr  von  der  Substanzkategorie: 
das  „Seiende“  ist  „eine  Simplifikation  zu  praktischen  Zwecken“  S05, 
beruhend  auf  der  künstlichen  Schaffung  identischer  Fälle  291,  304, 
319,  es  ist  „ein  Bild“,  von  uns  hinein  gelegt  aus  praktischen,  nützlichen, 
perspektivischen  Gründen  322,  denn  „in  uns  ist  eine  ordnende, 
fälschende,  künstlich-trennende  Macht“  279,  aber  deren  Produkte,  jene 
vielen  „Fälschungen“  sind  nützlich  und  notwendig:  denn  „das  Leben 
ist  jiuf  diese  Voraussetzungen  gegründet“  287;  „die  fingierte  Welt  von 
Subjekt,  Substanz,  Vemui^t  usw.  ist  nötig“  279. 

Dies  leitet  uns  unmittelbar  zu  Gedanken  Nietzsches  über,  die  man 
als  Anfänge  zu  einer  Metaphysik  des  Als-Ob  bezeichnen  kann; 
die  Frage,  welche  Rolle  der  Schein  im  ganzen  des  Weltgeschehens  ein- 
nehme, und  wie  dies  den  Schein  aus  sich  notwendig  erzeugende  Welt- 
geschehen zu  betrachten  und  zu  bewerten  sei  — diese  Frage  hatte 
schon  den  jungen  Nietzsche  beschäftigt:  schon  im  Nachlaß  zur  ersten 
Periode  findet  sich  die  treffende  Bemerkung : „Meine  Philosophie  u m • 
gedrehter  Platonismus:  je  weiter  ab  vom  wahrhaft  Seienden, 
um  so  reiner,  schöner,  besser  ist  es.  Das  Leben  im  Schein  als  Ziel“ 
IX,  190;  daselbst  198/9  ringt  N.  mit  dem  metaphysischen  Problem 
des  Scheins  und  schließt  205 : „Das  Eine  erzeugt  in  griechischer  Heiter- 
keit aus  sich  den  Schein.“  — In  der  zweiten  Periode  finden  wir  das 
Problem  vertieft:  „Unsere  idealistische  Phantasterei  gehört  auch  zum 
Dasein  und  muß  in  seinem  Charakter  erscheinen.  Es  ist  nicht  die 
Quelle,  aber  deshalb  ist  es  doch  vorhanden“  XII,  3.  „Wir  kennen 
eigentlich  nur  das  vorstellende  Sein“  mit  seiner  verfälschenden  Tätig- 
keit; welche  Rolle  spielt  das  „vorstellende  Sein“  im  Sein  überhaupt? 
Ist  vielleicht  alles  Sein  notwendig  ein  Vorstellen  und  damit  ein 


auf  Grund  von  Konvention  und  Zeichen“  ib.  55,  vgl.  über  solche 
„repräsentative  Zeichen“  ib.  66  und  83  ff.  Denken  ist  identisch  mit 
„Bilderschaffen“  234. 

1)  Der  Atombegriff  beruht  auf  dem  „Bewußtseins-Perspektivismus“, 
„ist  somit  auch  selbst  eine  subjektive  Fiktion“;  „mit  zwei  Fik- 
tionen“ sei  die  mechanische  Weltvorstellung  durchgeführt,  der  der 
Bewegung  und  der  des  Atoms.  „Wir  haben  Einheiten  nötig,  um  rech- 
nen zu  können,  deshalb  ist  nicht  rLnzunehmen,  daß  es  solche  Einheiten 
gibt“;  die  Mechanik  beruhe  auf  der  „Bilderrede“  von  „Stoff,  Atom, 
Druck  und  Stoß,  Schwere“  und  sei  in  diesem  Sinne  eine  zweck- 
mäßige „Semiotik“,  „zu  unserem  Handgebrauch  der  Berechnung“. 
Vgl.  XIV,  S.  45  über  „Atomistik“. 

2)  Über  die  notwendige  „Mythologie“  der  Kausalitätskategorie  und 
die  sich  aus  ihr  ergebenden  fiktiven  Begriffe  der  Seele,  des  Atoms  usw. 
s.  auch  XIII,  60  ff. : hierher  gehören  auch  „die  fiktiven  Einheiten“ 
der  Seelenvermögen  S.  70. 


3G2 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


Fälschen?  Jedenfalls  muß  unser  Vorstellen,  und  damit  auch  der  irrige, 
aber  notwendige  Glauben  an  das  Unbedingte,  „ableitbar  sein  aus  dem 
Wesen  des  Esse,  aus  dem  allgemeinen  Bedingtsein“  XI,  24/5.  — Diese 
Frage  spielt  nun  in  der  dritten  Periode  eine  große  Rolle  und  so  stößt  N. 
auf  das  Problem  von  Descartes  vom  betrügenden  Gotte;  die  Irrtümlich- 
keit unserer  Vorstellungswelt  steht  fest:  „wir  finden  Gründe  über 
Gründe  dafür,  die  uns  zu  Mutmaßungen  über  ein  betrügerisches  Prinzip 
im  ,Wesen  der  Dinge*  verlocken  möchten“  VII,  54.  „Sollte  Gott  doch 
ein  Betrüger  sein  trotz  Descartes?“  XIII,  10;  „gesetzt,  es  gebe  im 
Wesen  der  Dinge  etwas  Täuschendes,  Betrügerisches ...  so  müßten  wir 
ja  als  Realität  an  jenem  betrügerischen,  täuschenden  Grunde  der  Dinge 
und  seinem  Grundwillen  irgendwie  Anteil  haben . . .“  XIII,  52  f.,  „Des- 
cartes ist  nicht  radikal  genug.  Bei  seinem  Verlangen,  Sicheres  zu 
haben,  und  ,ich  will  nicht  betrogen  werden*,  tut  es  not,  zu  fragen, 
warum  nicht?**  ib.  56,  68.  „Ausgangspunkt:  Ironie  gegen  Descartes: 
gesetzt,  es  gäbe  im  Grunde  der  Dinge  etwas  Betrügerisches,  aus  dem 
wir  stammten,  was  hülfe  es,  de  omnibus  dubitare!  Es  könnte  das 
schönste  Mittel  sein,  sich  zu  betrügen**  XIV,  326.  Daraus  folgt:  „der 
Wille  zum  Schein,  zur  Illusion,  zur  Täuschung ...  ist  tiefer,  ,metaphy- 
sischer*,  als  der  Wille  zur  Wahrheit**  ib.  369,  und  „der  perspektivische, 
täuschende  Charakter  gehört  zur  Existenz**  ib.  40;  man  darf  „nicht  ver- 
gessen, diese  perspektivensetzende  Kraft  in  das  ,wahre  Sein*  einzu- 
rechnen** XV,  321;  „dieses  Schaffen,  Logisieren,  Zurechtmachen, 
Fälschen  ist  die  bestgarantierte  Realität  selbst**  ib.  281,  so  daß  man 
versucht  sein  könnte,  anzunehmen,  es  gibt  nichts  als  vorstellende,  d.  h. 
fälschende  Subjekte**.  — An  derselben  Stelle  faßt  Nietzsche  seine 
Lehre  in  die  monumentalen  Worte  zusammen:  „Parmenides  hat  gesagt. 
,man  denkt  das  nicht,  was  nicht  ist*  — wir  sind  am  andern  Ende  und 
sagen : was  gedacht  werden  kann,  muß  sicherlich  eine  Fiktion 
sein.**  Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  der  Schein  nicht  mehr  wie 
bisher  von  den  Philosophen  zu  beklagen  und  zu  bekämpfen  (vgl. 
VII,  55),  sondern  der  Schein  ist,  soweit  er  als  nützlich  und  wertvoll, 
sowie  als  ästhetisch  einwandfrei  sich  herausstellt,  zu  bejahen,  zu 
wollen  und  zu  rechtfertigen.  Der  „Perspektivismus**  ist  uns  „not- 
wendig** XV,  321. 


Diese  Einsicht  in  die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  der  Fiktionen 
hätte  nun  sicherlich  im  Laufe  der  Zeit  dazu  geführt,  daß  Nietzsche 
auch  die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  religiöser 
Fiktionen  anerkannt  hätte.  Man  hat  öfters  die  Frage  aufgeworfen, 
wohin  N.  noch  im  Gange  seiner  Entwicklung  geführt  worden  wäre, 
wenn  nicht  die  vorzeitige  Katastrophe  von  1888  seine  Entwicklung 
abgebrochen  hätte?  Die  Antwort  ist:  Nietzsche  wäre  mit  Notwendigkeit 
darauf  geführt  worden,  nachdem  er  die  schlimme  Seite  der  religiösen 
Vorstellungen  so  schonungslos  aufgedeckt  hatte,  auch  deren  gute  Seite 
hervorzuheben  und  sie  eben  als  nützliche,  ja  als  notwendige  Fiktionen 
wieder  anzuerkennen.  Es  war  auf  dem  besten  Wege  dazu.  Schon  oben 
fanden  wir  mehrere  dahinzielende  Äußerungen,  in  denen  er  die  histo- 


Nietzsche  und  seine  Lehre  vom  bewußt  gewollten  Schein.  363 

rische  Notwendigkeit  der  religiösen  Begriffswelt  anerkennt,  i)  Auch  fan- 
den wir  die  ganz  an  Kant  anklingende,  merkwürdige  Stelle,  wonach 
der  Mensch  zwar  nicht  an  die  religiösen  Voraussetzungen  der  bis- 
herigen Moral  glauben,  wohl  aber  nach  ihnen  handeln  und  sie  „als 
regulativisch  nehmen“,  sie  also  als  regulative  Fiktionen  behandeln 
soll.  Und  eben  dahin  tendieren  auch  noch  einige  merkwürdige 
Äußerungen  im  Band  XV:  Nicht  bloß  erkennt  N,  an,  daß  dem  reli- 
giösen „Wahn“  eine  „künstliche  Verstärkung“  verdankt  wird  (429), 
sondern  er  findet  auch  die  „Spezies  Mensch“  arm  geworden,  die  nicht 
mehr  im  Besitz  der  Kraft  sei,  solchen  Wahn  in  die  Wirklichkeit  hinein 
zu  interpretieren,  die  nicht  mehr  im  Besitz  der  Kraft  „des  Schaf- 
fens 2)  von  Fiktionen“,  also  „nihilistisch“  294.  Und  S.  34 
heißt  es  in  seiner  outrierten  Sprechweise:  „Katastrophe:  ob  nicht  die 
Lüge  etwas  Göttliches  ist:  ob  nicht  der  Wert  aller  Dinge  darin  beruht, 
daB  sie  falsch  sind?  ob  man  nicht  an  Gott  glaub,en  sollte, 
nicht,  weil  er  wahr,  sondern  weil  er  falsch?...  ob  nicht  ge- 
rade das  Lügen  und  Falschmachen  (Umfälschen),  das  Sinn-Einlegen 


Besonders  gehört  hierher  auch  der  schöne,  wichtige  Passus  VII, 
84  bis  90,  wo  die  Religionen  als  „Erziehungs-  und  Veredlungsmittel“ 
eingehend  gepriesen  werden.  Freilich  stellt  ihnen  N.  auch  daselbst 
sogleich  „die  schlimme  Gegenrechnung“  auf  für  allen  Schaden,  den 
sie  ianrichten.  Aber  es  heißt  doch  andererseits:  „Vielleicht  ist  am 
Christentum  und  Buddhismus  nichts  so  ehrwürdig  als  ihre  Kunst,  noch 
den  Niedrigsten  anzulehren,  sich  durch  Frömmigkeit  in  eine  höhere 
Scheinordnung  der  Dinge  zu  stellen“  (vgl.  oben  auch  ähnlichlau tenue 
Äußerungen  Kants).  Diese  Kunst  entspringe  freilich  einem  „Willen 
zur  Unwahrheit  um  jeden  Preis“,  aber  eben  darum  seieni  die  hoimnes 
religiosi  „mit  unter  die  Künstler  zu  rechnen,  als  ihr  höchster  Rang“, 
bei  denen  ja  auch  „der  AVille  zur  Täuschung  das  gute  Gewissen  ziur 
Seite  hat“  472.  Selbst  im  „Antichrist“  hat  N.  in  diesem  Sinne  ein 
sympathisches  Wort  für  den  „großen  Symboliker“  Christus,  und  für 
den  „ursprünglichen  Symbolismus“  des  Christentums,  dessen  späteres, 
„schrittweise  immer  gröberes  Mißverstehen“  er  bedauert  (VIII,  259  bis 
262).  N.  ist  so  wenig  gegen  solche  Mythen,  daß  er  einen  „Mythus  der 
Zukunft“  verlangt  XII,  400,  Als  Probe  eines  solchen  Zukunfts-Mythus 
kann  man  den  Gedanken  von  der  „ewigen  Wiederkunft“  auffassen. 
Allerdings  meinte  ihn  Nietzsche  zuerst  hypothetisch,  dann  dogmatisch, 
aber  zuletzt  scheint  er  selbst  ihn  nur  als  einef  brauchbare  Fiktion  auf 
zufassen:  in  diesem  Sinne  sagt  er  selbst  XIV,  295  von  diesem  Ge 
danken:  „vielleicht  ist  er  nicht  wahr“.  So  hätte  denn  0,  Ewald  in 
seinem  Nietzschebuch  („Nietzsches  Lehre  in  ihren  Grundbegriffen“; 
das  Richtige  getroffen,  wenn  er  jenen  Gedanken  als  eine  pädagogische 
regulative  Idee  faßt,  wie  dies  auch  G.  Simmel  tut.  — Auch  die  Idee 
des  „Übermenschen“  ist  eine  solche  heuristisch-pädagogisch-utopische 
Fiktion. 

^)  Dieses  Schaffen,  Logisieren,  Zurechtmachen,  Fälschen,  Verein- 
fachen, Ordnen,  Künstlich-Trennen,  Dichten,  Fingieren  279,  281,  291, 
„die  perspektivensetzende  Kraft“  321  nennt  N.  S.  291  auch  kurz,  aber 
sehr  bezeichnend  „die  irrtmn  wollende  Kraft  in  uns,  oder  S.  293 
„den  Willen  zur  Täuschung“. 


864 


Dritter  Teil:  Historische  Bestätigungen. 


ein  Wert,  ein  Sinn,  ein  Zweck  ist?“  Und  in  einem  überaus  merk- 
würdigen Aphorismus  rechnet  er  es  dem  19.  Jahrhundert  als  „Stärke“ 
an,  gegenüber  dem  18.  Jahrhundert,  dessen  „Gespenst“  die  Raison  .:war, 
wieder  „toleranter“  gegen  die  Religion  geworden  zu  sein;  „wir  Ver- 
hehlen uns  nicht  die  Kehrseite  der  schlimmen 
Dinge“:  „die  Intoleranz  gegen  den  Priester  und  die  Kirche“  hat  ab- 
genommen; sogar  der  Einwand  der  Rationalisten:  ,e&  ist  unmoralisch, 
an  Gott  zu  glauben*,  „gilt  uns  als  die  beste  Form  der  Recht- 
fertigung dieses  Glauben  s“,  — weil  eben  die  religiösen 
Fiktionen  als  Mythen  ebensowenig  mit  dem  Maßstab  der  Moral  als  mit 
dem  der  Logik  gemessen  werden  dürfen. 

Diese  Äußerungen  sind  die  Vorboten  einer  weiteren,  letzten  Ent- 
wicklungsperiode Nietzsches,  die  durch  seine  Erkrankung  abgeschnitten 
worden  ist.  Nietzsche  wäre  unfehlbar  auf  den  Weg  gelangt,  welchen 
der  von  ihm  so  sehr  mißverstandene  Kant  eingeschlagen  hat,  und 
auf  welchem  auch  F.  A.  Lang  e wandelte,  von  welchem  Nietzsche 
in  seiner  Jugend  so  stark  beeinflußt  war : er  hält©  den  „Antichrist“ 
nicht  zurückgenommen,  dessen  einschneidende  Wahrheiten  einmal  ge- 
sagt werden  mußten,  aber  er  hätte  „die  Kehrseite  der  schlimmen 
Dinge“  mit  derselben  rücksichtslosen  Offenheit  ans  Licht  gestellt:  er 
hätte  _ die  Nützlichkeit  und  Notwendigkeit  der  religiösen  Fiktionen 
„gerechtfertigt“. 


Soeben  erschienen: 


MIKROKOSMOS 

IDEEN 

ZUR  NATURGESCHICHTE  UND  GESCHICHTE 
DER  MENSCHHEIT 

VERSUCH  EINER  ANTHROPOLOGIE  VON 

HERMANN  LOTZE 


SECHSTE  AUFLAGE 

MIT  EINER  EINLEITUNG  HERAUSGEGEBEN 

VON 

Dr.  RAYMUND  SCHMIDT 

Drei  Bände 

Geheftet  GM  26,  in  grünem  Halbleinenbande  GM  32 
In  vornehmen  Halbleinen-Geschenkbänden  GM  40 

Das  Meisterwerk  Lotzes,  welches  lange  vergriffen  war  und  im  Anti- 
quariatsbuchhandel sehr  gesucht  wird,  erscheint  hier  in  neuer  Gestalt. 
Weltberühmt  durch  den  glänzenden  Reichtum  und  durch  die  Form- 
vollendung seines  Stils,  durch  die  geistvollen,  tiefen  Einsichten  und 
klaren,  edlen  Absichten  des  Verfassers,  wird  es  immer  zu  den  klassischen 
Werken  der  philosophischen  Literatur  zählen.  Die  moderne  Philo- 
sophie entdeckt  von  Tag  zu  Tag  neue  Fragestellungen  und  Problem- 
lösungen, die  Lotze  bereits  gesehen  und  in  unübertrefflicher  Weise  zur 
Darstellung  gebracht  hat. 

Das  dem  inneren  Werte  des  Baches  entsprechende 
geschmackvolle  äußere  Gewand  wird  den  Beifall  aller  Freunde  gut 
ausgestatteter  Bücher  erregen. 


VERLAG  VON  FELIX  MEINER  IN  LEIPZIG 


Theorie  der  Dialektik 

Formenlehre  der  Philosophie 

Von  Jonas  Cohn 

IV,  355  Seiten.  1923.  GM  7.50,  Halbleinen-Geschenkband  10 

Es  ist  das  systematische  Hauptwerk  des  berühmten  Freiburger 
Gelehrten,  eine  grandiose  Zusammenfassung  früherer  Denkansätze 
und  -anläufe,  voller  philosophischer  Spannungen  und  Peripetien,  im 
Grunde  eine  Vollendung  des  großen  logischen  Werkes  Hegels.  Niemals 
ist  das  Problem  des  Verhältnisses  vom  Denken  zum  Leben  mit  gleicher  Klarheit  und 
in  gleicher  Tiefe  behandelt  worden. 


Der  Aufbau  der  Systeme 

Eine  formale  Einführung  in  die  Philosophie 

Von  Karl  Groos 

XI,  320  Seiten.  1923.  GM  6.50,  Halbleinen-Geschenkband  9 

»Psychologie  der  Weltanschauungen“  ist  das  große  Schlagwort,  in 
welchem  sich  moderne  Philosophie  und  moderne  Psychologie  nach  langer  Entfremdung 
gefunden  haben.  Die  erfolgreichsten  Autoren  der  letzten  Jahre  (Jaspers, 
Müller -Freienfels,  Spranger  u.  a.)  bemühten  sich  um  dieses  aktuellste  der 
Probleme. 

Das  Groos’sche  Buch  gehört  dieser  Literaturgattung  an,  ist  eine  notwendige 
Ergänzung  dazu.  Es  ist  ein  überaus  interessanter  Versuch  einer  Psychologie 
der  Systeme,  der  aus  der  Strukturanalyse  der  philosophischen  Möglichkeiten  letzte 
metaphysische  Folgerungen  zieht. 

Das  Werk  ist  klar  und  lebendig  geschrieben  und  jedem  Gebildeten 
ohne  Schwierigkeiten  verständlich. 


Wahrheit,  Wert  und  Wirklichkeit 

Von  Bruno  Bauch 

VIII,  543  Seiten.  1923.  GM  10,  Halbleinen-Geschenkband  13 

Dieses  Buch  darf  ohne  Bedenken  zu  den  größten  und  folgen- 
schwersten Erscheinungen  in  der  gegenwärtigen  Philosophie  gezählt 
werden.  Schon  in  der  Wahl  des  Untersuchungsgegenstandes  den  Willen  zur  weitesten 
Umspannung  und  damit  den  geborenen  Systematiker  verratend,  gewinnt  der 
Verfasser  durch  die  zusammenfassende  Behandlung  der  Wirklichkeits-,  Wert-  und  Wahr- 
heitsfrage nicht  nur  den  Einheitsgrund  für  alles  künftige  Philosophieren, 
sondern  es  wird  vor  allem  endlich  klar,  wie  sehr  die  Sondergebiete,  die  sich  mit  den 
drei  Hauptfragen  herkömmlich  beschäftigen,  Logik,  Wirklichkeitslehre,  ja  jede  Wissen- 
schaft vom  Wirklichen  und  Werttheorie,  aufeinander  angewiesen  sind  und  wie  eng 
ihre  Ergebnisse  ineinandergreifen.  Das  ist  ein  Ergebnis,  das  mit  dem  Er- 
scheinen dieses  Werks  der  Wissenschaft  unverlierbarer  Besitz  blei- 
ben wird  und  muß.  Terd.  (JDeinhandl  ln  der  „GrundwissenschaU“,  IV  314. 


VERLAG  VON  FELIX  MEINER  IN  LEIPZIG 


RICHARD  MÜLLER- FREIENFELS 
Irrationalismus.  Umrisse  einer  Erkenntnislehre 

VIII,  300  S.  1922.  GM  6.50,  Halbleinen- Geschenkband  9 


Die  Philosophie  der  Individualität 

2.,  durchgesehene  Auf  1.  XI,  289  S.  '23.  GM  6.50,  Halbleinen-Geschbd.  9 
h Auf l.  erhielt  1921  beim  Erscheinen  den  Ehrenpreis  der  Nietzsche-Stiftung 

Ich  kenne  kein  Buch,  das  in  abstrakter  Sprache  so  nahe  an  das  wirkliche 
Leben  der  Seele  und  des  Geistes  heranführte  wie  diese  beiden  Werke 
des  bekannten  Berliner  Psychologen.  So  widerspruchsvoll  es  erscheint,  das  Unerkenn- 
bare wird  hier  erkannt,  das  Unbegreifliche  begriffen. 

Hinsichtlich  der  Komposition  sind  beide  Bücher  wahre  Meisterwerke.  Schon 
die  ausführlichen  Inhaltsverzeichnisse  lassen  uns  wohltuend  spüren,  daß  hier  eine  sehr 
schwierige  Materie  völlig  bezwungen  ist,  und  die  Ausführung  hält,  was  die  Inhalts- 
angabe verspricht. 

Der  Übersichtlichkeit  der  Anordnung  entspricht  die  sprachliche  Darstellung. 
M.-Fr.  schreibt  leicht  und  f remdwörterf rei,  flüssig  und  gewandt,  ge- 
fällig und  unterhaltsam,  und  daraus  erklärt  es  sich  auch  vor  allem,  daß  M.-Fr. 
keineswegs  nur  in  Fachkreisen  gelesen  wird.  Martin  Hauenstein  in  der 


JULIUS  SCHULTZ 

Die  Philosophie  am  Scheidewege 

Die  Antinomie  im  Werten  und  im  Denken 

VII,  331  S.  1922.  GM  6.50,  Halbleinen -Geschenkband  9 

Das  Buch  wirkt  entscheidungsfördernd.  Es  ist  jedem  zu  empfehlen, 
der  über  die  Bahn,  die  er  persönlich  im  Verlauf  der  Weltkrisis  einschlagen  soll,  noch 
im  Ungewissen  ist  und  zunächst  einmal  bedächtig  Umschau  halten  will.  Denn  an 
klugen  und  geistreichen  Ausblicken  ist  es  reich. 

Hermann  Graf.  Keyserling  im  „Büchermurm". 


JOHANNES  KÜHN 
Toleranz  und  Offenbarung 

1923.  XII,  473  Seiten.  GM  11,  Halbleinen-Geschenkband  14 

Toleranz  und  Intoleranz  sind  geistesgeschichtliche  Kräfte,  die  in  einem  Kampfe 
miteinander  liegen,  in  welchem  sich  der  Gang  der  Geisteskultur  spiegelt. 

Der  Verfasser  will  durch  eine  sorgfältige  Zergliederung  der  von  den  Toleranz- 
freunden und  -feinden  angeführten  Literatur  zu  den  Quellen  hinabsteigen,  aus  denen 
die  Entwicklung  unserer  Kultur  gespeist  wird.  Die  Toleranzliteratur  erscheint  hier 
als  ein  feiner  Gradmesser  für  die  Umformung  des  europäischen  Geisteslebens,  für 
den  weltgeschichtlichen  Wandel  von  der  einseitigen  Bindung  zur  grundsätzlichen 
Freiheit.  Das  Werk  ist  nicht  nur  für  Theologen  bestimmt,  es  geht  jeden 
Menschen  an,  der  eine  innere  Stellung  zur  Toleranzidee  hat,  darüber 
hinaus  aber  vor  allem  den  Kulturhistoriker  und  Kulturphilosophen. 

Das  Buch  hat  internationale  Bedeutung.  Außer  Luther  werden  eingehend 
behandelt:  Schwenckfeld,  Williams,  englische  Baptisten,  Acontius, 
Arminius,  Grotius,  Wtenbogaert,  Chillingworth,  Taylor,  Spener. 


VERLAG  VON  FELIX  MEINER  IN  LEIPZIG 


Soeben  erschienen: 


FRITZ  MAUTHNER 

BEITRÄGE  ZU  EINER 

KRITIK  DER  SPRACHE 

Dritte,  um  die  Zusätze  aus  dem  Handexemplar  des  Verfassers 
vermehrte  Auflage 

/.  Band:  Zur  Sprache  und  zur  Psychologie.  XX,  719  Seiten 

II.  Band:  Zur  Sprachwissenschaft  VIII,  718  Seiten 

III.  Band:  Zur  Grammatik  und  Logik.  XVI,  663  Seiten 

Drei  vornehme  (einzeln  nicht  käufliche)  Halbleinenbände  GM  45 


WÖRTERBUCH 
DER  PHILOSOPHIE 

NEUE  BEITRÄGE  ZU  EINER  KRITIK  DER  SPRACHE 

Zweite,  vermehrte  Auflage 

BAND  I:  A BIS  GOETHES  WEISHEIT 
BAND  II:  GOTT  bis  QUIETIV 

CXXX,  661  und  586  Seiten.  In  vornehmem  Halbleinenband  je  GM  15 

Der  dritte  (Schluß-)  Band,  dessen  Korrekturen  Fritz  Mauthners  Frau  mit 
liebevoller  Sorgfalt  überwacht,  befindet  sich  bereits  unter  der  Presse. 
Eine  wesentliche  Bereicherung  des  Gesamtwerks  bedeutet  ein  dem 
letzten  Bande  beizugebendes  ausführliches  Namen-  und  Sachregister. 

Zwei  philosophische  Werke  von  größter  Bedeutung. 
Denn  Sprachkritik  ist  Erkenntniskritik,  ist  die  Arbeit  an  dem  be- 
freienden Gedanken,  daß  die  Menschen  mit  den  Wörtern  ihrer 
Sprache  niemals  über  eine  bildliche  Darstellung  der  Welt  hinaus- 
kommen können.  Also  keine  entlegene  Angelegenheit 
der  Fachphilologen,  sondern  aller  sprechend  denkenden 
bzw.  denkend  sprechenden  Menschen. 

VERLAG  VON  FELIX  MEINER  IN  LEIPZIG 


Druck  der  Graphia  Akt.-  Ges.  vorm.  C.  Grumbach  in  Leipzig 


273840 


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DOES  NOT  CmCÜLÄTE 


33b  J V 
NH  837’^'' 


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Chestnut  Hill  67,  Mass. 

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shorter  period  is  specified. 

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